Tide Nap wird gefunden
„Laden.“, war die knappe Antwort. Obwohl nur zwei kurze Silben war das die erste, brauchbare Antwort seit Tagen. Und das von einem graubärtigen Mann, der außer einer braunen Schürferhose mit schweren Minenarbeiterschuhen nichts am Körper trug. Es liess sich schwer sagen, ob seine fettigen Haare oder sein ungepflegter Bart länger waren. Sein Obekörper war verschwitzt, hob und senkte sich unregelmäßig und war verschmiert vor Minenstaub in dem man noch die Spuren der Hackenhalterung erkannte.
Tsino und Gatorp richteten sich auf. „Laden?“, hakte Gatorp mit vor Aufregung rauher Stimme nach, „Was für ein Laden und wo finden wir den?“ Sie bestürmten den anderen so sehr, dass dieser sie komisch ansah. Anscheinend wollte er sich nicht lange mit ihnen unterhalten, denn anstatt mit Worten zu antworten, zeigte er nur in eine Richtung. Sie folgten mit Blicken der Richtung des ausgestreckten Armes. Der Weg führte dort die Steigung zu einer Klippe hinauf. Zur linken ging es zur Höhle mit den Hütten, zur rechten lag der See. Das Gebäude, auf das der Mann zeigte, stand recht einsam auf der Höhlenseite des Weges. Es wies ein hölzernes Kellergeschoss auf, das an dieser Stelle die Steigung des Geländes ausglich. Besonders markant war eine Rampe, die zu einer ausladenden Holzterasse vor dem eigentlichen Eingang des Steingebäudes hinführte. Kisten und Fässer versperrten einen Blick auf die Fläche dort.
Als sie weiter fragen wollten, war der Mann bereits verschwunden. Sie sahen sich suchend um und entdeckten ihn gerade noch mit wehendem Grauhaar eilig weg gehen. Offensichtlich wollte er wirklich nicht seine Zeit mit zwei Neuen verschwenden. Neue fanden an jedem Ort der Kolonie schnell Ärger.
So blieb ihnen nichts anderes übrig als sich dem ausgewiesenen Haus zuzuwenden. Die Terasse hinter den Kistenstapeln war nicht so leer, wie es aus der Ferne ausgesehen hatte, denn dort vor dem Eingang stand eine Wache mit dunkler Haut und hellem Banditenschal um den Schultern.
„Könnte das Tide sein?“, flüsterte Tsino Gatorp zu. Der maß den fremden Banditen mit Blicken und gab ebenso leise zurück: „Ich bin mir nicht sicher... Die Größe stimmt in etwa, aber die Statur lässt sich bei dem weiten Schal nicht so gut erkennen. Frag du ihn.“ Schon fühlte sich Tsino von Gatorps kräftiger Hand nach vorn geschoben.
Hoffnungsvoll sprach er die Wache an: „Wir suchen Tide Nap.“
„Drinnen“, kam die knappe Antwort, doch als sie an ihm vorbei ins Innere gehen wollten, machte der Kerl einen raschen Schritt zur Seite und versperrte ihnen gekonnt den Weg.
„Was wollt ihr von Tide?“, fragte er scharf nach und mustert sie aus verengten Augen an seiner Adlernase entlang. Er hatte dunkle Haut, die sich kontrastreich von seinen grauen Fellen und dem blauen Schal abhob, der seine Schultern bis zur Nasenspitze bedeckte. Seine Augen funkelten wie geschmolzenes Gold.
„Wir wollen mit ihm sprechen.“, gab Gatorp zurück und plusterte sich auf.
Der goldäugige Bandit schien davon nicht beeindruckt: „So, so, ihr wollt also mit ihm sprechen. Jeder will mit Tide sprechen. Die Frage ist: Warum sollte Tide mit euch sprechen wollen?“
Tsino hätte sich am liebsten frustriert schreiend die Haare gerauft. Da waren sie so weit gekommen, waren einmal quer durch die Kolonie gereist, hatten sich sogar mit Überfällen und Hehlervorwürfen auseinander gesetzt, nur damit ihre Mission an der Böswilligkeit dieses einen Mannes scheiterte.
Gatorp behielt einen ruhigeren Kopf und fragte rauh: „Also gut... Wie viel?“
Ein dünnes Lächeln war die Antwort.
‚Natürlich... Unbestechlich.’
Tsino pustete frustriert aus vollen Backen. Alle liebten das Erz, doch manchen war die Treue zu ihren Verbrecherbrüdern wichtiger als Erz und Ansehen. Sie hatten so einen Kerl im ungünstigsten Moment gefunden.
„Also schön...“, kapitulierte Tsino „Was willst du?“
Der Bandit musterte die beiden und kostete den Moment voll aus, ehe er sagte: „Ich will, dass ihr etwas für mich macht... Genau genommen müsst ihr nur beweisen, dass ihr für das Lager nützlich seid und für unsere Sache kämpfen wollt.“
Gatorp warf schnell ein: „Wir schuften bereits in der freien Mine für den Plan!“ Er log, ohne dass sich seine Haut auch nur im geringsten seiner Haarfarbe annäherte.
Der Bandit konterte: „Jeder schuftet in der freien Mine. Je-der. Arsch. Das ist gar Nichts. Das Leben in der Mine ist ein bequemes Leben – vom Hacke schwingen mal abgesehen. Und es ist einfach zu behaupten man stünde treu zum Lager, wenn man den lieben langen Tag nichts anderes machen muss, als mit dem Gesicht zur Wand zu stehen, um reich zu werden.
Denn sind wir mal ehrlich: Sie mögen noch so lange behaupten für den Plan zu arbeiten, am Ende schuften sie nur für das Erz in ihren eigenen Taschen.
Ich will, dass ihr etwas macht. Etwas richtig wichtiges.“
Tsino lauschte ihm ungläubig. ‚Banditen haben Prinzipien?’
„Es wird beweisen, welchen Wert ihr für uns habt...“ erneut machte der Bandit den Eindruck den Moment voll auszukosten, ehe er ihnen eröffnete: „Ich will, dass ihr auf Überfall geht.“
Gatorp stockte der Atem. Tsino schrie auf: „Auf Überfall!?“
Vollkommen entgeistert starrten sie ihn an. Gingen sie auf Überfall würden ihre Gesichter sofort auf den inoffiziellen Steckbriefen landen und ihre Köpfe nur kurze Zeit später auf den Spießen vor den Toren des Alten Lagers. Zu spät bemerkten sie in welche Gefahr sie gerade ihre frisch erfundene Rolle als stolze Schürfer des neuen Lagers brachte.
Der Bandit starrte sie beide nacheinander mit einem Blick an, der Glas schneiden konnte, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. Tsino machte sich jetzt erst recht Sorgen.
„Ihr solltet mal eure Hackfressen sehen.“ der Bandit prustete sich bei ihrem Anblick geräuschvoll in den blauen Schal. Tsino gab sich noch mehr Blöße, indem er stammelte: „Also... sollen wir für dich nicht auf Überfall gehen?“
„Ihr beiden?“ Die Frage reizte ihn noch mehr. So sehr, dass seine Stimme schrill wurde, bis sie im nächsten Lachanfall gipfelte. Endlich hatte er sich so weit im Griff wieder halbwegs vernünftig reden zu können: „Mit auf Überfall kommen nur die richtig Guten und solche Leute, auf die Verlass ist. Euch zwei Vögel kenn' ich nich' mal. Wie kommt ihr Deppen bloß auf die Idee, dass ihr fit für 'nen Überfall wärt?“ Aus dem Lachen kam er kaum noch heraus und seit er sein kleines Schauspiel abgelegt hatte, sprach er auch nicht mehr so überartikuliert. Eher so wie ihm vermutlich der Schnabel unter dem blauen Schal gewachsen war.
„Ich habe euch nur verarscht. Jetzt verzieh nich' die Fressluke so dämlich. Der Job als Ladenwache hier is' scheißlangweilig. Da wirs' mir doch wohl den ein oder anderen Scherz gönnen.
Tide ist drinnen, ich geb' ihm Bescheid, aber - “ und an dieser Stelle wurde seine Stimme wieder so schneidend ernst wie in dem Moment, als er sie begrüßte: „Tide allein entscheidet, ob ihr vorgelassen werdet oder nicht. Und ich rate euch, dass euer Anliegen besser wichtig ist.“
Er liess ihnen nicht die Zeit für eine letzte Bemerkung, ehe er in den Laden schlüpfte. Gatorp und Tsino tauschten Blicke. In Gatorps Gesicht konnte Tsino in etwa das Unwohlsein ablesen, das ihm gerade selbst mit einer kalten Hand die Mageninnereien umrührte. Gatorps Blick glitt durch irgendetwas abgelenkt hinter Tsino. Möglichst ohne auffällige Lippenbewegung flüsterte er: „Dreh dich nicht um...“
Doch Tsino fuhr sofort herum, so sehr hatte ihn gerade die Nervosität im Griff. Unterhalb der Terasse des Ladens ging ein goldblonder Bandit mit geschmeidigen Schritten vorbei. Er sah zufällig zu den beiden Buddlern hoch und grüßte sie im vorbei Gehen mit einem ausgelassenen Winken. Seine blendend weißen Zähne blitzten wie kleine Sternchen. Schaudernd wandte Tsino sich ab und murmelte zu Gatorp: „Danke für die Warnung...“
Er hatte seinen Schauer noch nicht ganz nieder gekämpft, als der Bandit mit den goldenen Augen aus dem Schatten des Ladeninneren trat. „Könnt' rein.“, gab er in seiner flachen Art zurück und lehnte sich neben dem Eingang an die Wand. Tsino und Gatorp liessen sich nicht lange bitten und schlüpften neben ihm durch den Durchgang.
Drinnen war es eng wie in einem Faß: Etwa die Breite, die die Tür hatte, war Platz zwischen der Wand und einer vorgeschobenen Ladentheke, hinter der wirklich nur Platz für einen Verkäufer wäre, wenn dieser den Bauch einzog und die Luft anhielt. Der Tresen selbst war leer, doch überall an den Wänden hingen Waffen und hinter dem Tresen waren ein paar Kisten gestapelt. In der Länge ragte er fast bis zur anderen Wand, wo es nur einen schmalen Abstand gab. Um diesen zu überwinden, mussten sie sich fast quer stellen, um hindurch schlüpfen zu können.
„War hat nur... so einen Laden?“, ächzte Tsino, als er das eigentlich schlanke Hinterteil mühevoll am Tresen vorbei schob.
„Ich.“, kam es aus der Nische, die sich in der letzten Ecke des Raumes ergab. Hier standen Fässer, waren Truhen gestapelt und auf ein paar Säcken, Fellen und einem eingerollten Teppich hatte es sich ein beeindruckender Bandit bequem gemacht, der sie mit einem kalten Blick maß, der dazu geeignet war Leute schrumpfen zu lassen: „Und wenn ich den Tonfall noch einmal von dir höre, dann kann dich dein Freund in Einzelteilen raustragen.“