• Tide Nap wird gefunden

    „Laden.“, war die knappe Antwort. Obwohl nur zwei kurze Silben war das die erste, brauchbare Antwort seit Tagen. Und das von einem graubärtigen Mann, der außer einer braunen Schürferhose mit schweren Minenarbeiterschuhen nichts am Körper trug. Es liess sich schwer sagen, ob seine fettigen Haare oder sein ungepflegter Bart länger waren. Sein Obekörper war verschwitzt, hob und senkte sich unregelmäßig und war verschmiert vor Minenstaub in dem man noch die Spuren der Hackenhalterung erkannte.

    Tsino und Gatorp richteten sich auf. „Laden?“, hakte Gatorp mit vor Aufregung rauher Stimme nach, „Was für ein Laden und wo finden wir den?“ Sie bestürmten den anderen so sehr, dass dieser sie komisch ansah. Anscheinend wollte er sich nicht lange mit ihnen unterhalten, denn anstatt mit Worten zu antworten, zeigte er nur in eine Richtung. Sie folgten mit Blicken der Richtung des ausgestreckten Armes. Der Weg führte dort die Steigung zu einer Klippe hinauf. Zur linken ging es zur Höhle mit den Hütten, zur rechten lag der See. Das Gebäude, auf das der Mann zeigte, stand recht einsam auf der Höhlenseite des Weges. Es wies ein hölzernes Kellergeschoss auf, das an dieser Stelle die Steigung des Geländes ausglich. Besonders markant war eine Rampe, die zu einer ausladenden Holzterasse vor dem eigentlichen Eingang des Steingebäudes hinführte. Kisten und Fässer versperrten einen Blick auf die Fläche dort.

    Als sie weiter fragen wollten, war der Mann bereits verschwunden. Sie sahen sich suchend um und entdeckten ihn gerade noch mit wehendem Grauhaar eilig weg gehen. Offensichtlich wollte er wirklich nicht seine Zeit mit zwei Neuen verschwenden. Neue fanden an jedem Ort der Kolonie schnell Ärger.

    So blieb ihnen nichts anderes übrig als sich dem ausgewiesenen Haus zuzuwenden. Die Terasse hinter den Kistenstapeln war nicht so leer, wie es aus der Ferne ausgesehen hatte, denn dort vor dem Eingang stand eine Wache mit dunkler Haut und hellem Banditenschal um den Schultern.

    „Könnte das Tide sein?“, flüsterte Tsino Gatorp zu. Der maß den fremden Banditen mit Blicken und gab ebenso leise zurück: „Ich bin mir nicht sicher... Die Größe stimmt in etwa, aber die Statur lässt sich bei dem weiten Schal nicht so gut erkennen. Frag du ihn.“ Schon fühlte sich Tsino von Gatorps kräftiger Hand nach vorn geschoben.

    Hoffnungsvoll sprach er die Wache an: „Wir suchen Tide Nap.“

    „Drinnen“, kam die knappe Antwort, doch als sie an ihm vorbei ins Innere gehen wollten, machte der Kerl einen raschen Schritt zur Seite und versperrte ihnen gekonnt den Weg.

    „Was wollt ihr von Tide?“, fragte er scharf nach und mustert sie aus verengten Augen an seiner Adlernase entlang. Er hatte dunkle Haut, die sich kontrastreich von seinen grauen Fellen und dem blauen Schal abhob, der seine Schultern bis zur Nasenspitze bedeckte. Seine Augen funkelten wie geschmolzenes Gold.

    „Wir wollen mit ihm sprechen.“, gab Gatorp zurück und plusterte sich auf.

    Der goldäugige Bandit schien davon nicht beeindruckt: „So, so, ihr wollt also mit ihm sprechen. Jeder will mit Tide sprechen. Die Frage ist: Warum sollte Tide mit euch sprechen wollen?“

    Tsino hätte sich am liebsten frustriert schreiend die Haare gerauft. Da waren sie so weit gekommen, waren einmal quer durch die Kolonie gereist, hatten sich sogar mit Überfällen und Hehlervorwürfen auseinander gesetzt, nur damit ihre Mission an der Böswilligkeit dieses einen Mannes scheiterte.

    Gatorp behielt einen ruhigeren Kopf und fragte rauh: „Also gut... Wie viel?“

    Ein dünnes Lächeln war die Antwort.

    ‚Natürlich... Unbestechlich.’

    Tsino pustete frustriert aus vollen Backen. Alle liebten das Erz, doch manchen war die Treue zu ihren Verbrecherbrüdern wichtiger als Erz und Ansehen. Sie hatten so einen Kerl im ungünstigsten Moment gefunden.

    „Also schön...“, kapitulierte Tsino „Was willst du?“

    Der Bandit musterte die beiden und kostete den Moment voll aus, ehe er sagte: „Ich will, dass ihr etwas für mich macht... Genau genommen müsst ihr nur beweisen, dass ihr für das Lager nützlich seid und für unsere Sache kämpfen wollt.“

    Gatorp warf schnell ein: „Wir schuften bereits in der freien Mine für den Plan!“ Er log, ohne dass sich seine Haut auch nur im geringsten seiner Haarfarbe annäherte.

    Der Bandit konterte: „Jeder schuftet in der freien Mine. Je-der. Arsch. Das ist gar Nichts. Das Leben in der Mine ist ein bequemes Leben – vom Hacke schwingen mal abgesehen. Und es ist einfach zu behaupten man stünde treu zum Lager, wenn man den lieben langen Tag nichts anderes machen muss, als mit dem Gesicht zur Wand zu stehen, um reich zu werden.

    Denn sind wir mal ehrlich: Sie mögen noch so lange behaupten für den Plan zu arbeiten, am Ende schuften sie nur für das Erz in ihren eigenen Taschen.

    Ich will, dass ihr etwas macht. Etwas richtig wichtiges.“

    Tsino lauschte ihm ungläubig. ‚Banditen haben Prinzipien?’

    „Es wird beweisen, welchen Wert ihr für uns habt...“ erneut machte der Bandit den Eindruck den Moment voll auszukosten, ehe er ihnen eröffnete: „Ich will, dass ihr auf Überfall geht.“

    Gatorp stockte der Atem. Tsino schrie auf: „Auf Überfall!?“

    Vollkommen entgeistert starrten sie ihn an. Gingen sie auf Überfall würden ihre Gesichter sofort auf den inoffiziellen Steckbriefen landen und ihre Köpfe nur kurze Zeit später auf den Spießen vor den Toren des Alten Lagers. Zu spät bemerkten sie in welche Gefahr sie gerade ihre frisch erfundene Rolle als stolze Schürfer des neuen Lagers brachte.

    Der Bandit starrte sie beide nacheinander mit einem Blick an, der Glas schneiden konnte, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. Tsino machte sich jetzt erst recht Sorgen.

    „Ihr solltet mal eure Hackfressen sehen.“ der Bandit prustete sich bei ihrem Anblick geräuschvoll in den blauen Schal. Tsino gab sich noch mehr Blöße, indem er stammelte: „Also... sollen wir für dich nicht auf Überfall gehen?“

    „Ihr beiden?“ Die Frage reizte ihn noch mehr. So sehr, dass seine Stimme schrill wurde, bis sie im nächsten Lachanfall gipfelte. Endlich hatte er sich so weit im Griff wieder halbwegs vernünftig reden zu können: „Mit auf Überfall kommen nur die richtig Guten und solche Leute, auf die Verlass ist. Euch zwei Vögel kenn' ich nich' mal. Wie kommt ihr Deppen bloß auf die Idee, dass ihr fit für 'nen Überfall wärt?“ Aus dem Lachen kam er kaum noch heraus und seit er sein kleines Schauspiel abgelegt hatte, sprach er auch nicht mehr so überartikuliert. Eher so wie ihm vermutlich der Schnabel unter dem blauen Schal gewachsen war.

    „Ich habe euch nur verarscht. Jetzt verzieh nich' die Fressluke so dämlich. Der Job als Ladenwache hier is' scheißlangweilig. Da wirs' mir doch wohl den ein oder anderen Scherz gönnen.

    Tide ist drinnen, ich geb' ihm Bescheid, aber - “ und an dieser Stelle wurde seine Stimme wieder so schneidend ernst wie in dem Moment, als er sie begrüßte: „Tide allein entscheidet, ob ihr vorgelassen werdet oder nicht. Und ich rate euch, dass euer Anliegen besser wichtig ist.“

    Er liess ihnen nicht die Zeit für eine letzte Bemerkung, ehe er in den Laden schlüpfte. Gatorp und Tsino tauschten Blicke. In Gatorps Gesicht konnte Tsino in etwa das Unwohlsein ablesen, das ihm gerade selbst mit einer kalten Hand die Mageninnereien umrührte. Gatorps Blick glitt durch irgendetwas abgelenkt hinter Tsino. Möglichst ohne auffällige Lippenbewegung flüsterte er: „Dreh dich nicht um...“

    Doch Tsino fuhr sofort herum, so sehr hatte ihn gerade die Nervosität im Griff. Unterhalb der Terasse des Ladens ging ein goldblonder Bandit mit geschmeidigen Schritten vorbei. Er sah zufällig zu den beiden Buddlern hoch und grüßte sie im vorbei Gehen mit einem ausgelassenen Winken. Seine blendend weißen Zähne blitzten wie kleine Sternchen. Schaudernd wandte Tsino sich ab und murmelte zu Gatorp: „Danke für die Warnung...“

    Er hatte seinen Schauer noch nicht ganz nieder gekämpft, als der Bandit mit den goldenen Augen aus dem Schatten des Ladeninneren trat. „Könnt' rein.“, gab er in seiner flachen Art zurück und lehnte sich neben dem Eingang an die Wand. Tsino und Gatorp liessen sich nicht lange bitten und schlüpften neben ihm durch den Durchgang.

    Drinnen war es eng wie in einem Faß: Etwa die Breite, die die Tür hatte, war Platz zwischen der Wand und einer vorgeschobenen Ladentheke, hinter der wirklich nur Platz für einen Verkäufer wäre, wenn dieser den Bauch einzog und die Luft anhielt. Der Tresen selbst war leer, doch überall an den Wänden hingen Waffen und hinter dem Tresen waren ein paar Kisten gestapelt. In der Länge ragte er fast bis zur anderen Wand, wo es nur einen schmalen Abstand gab. Um diesen zu überwinden, mussten sie sich fast quer stellen, um hindurch schlüpfen zu können.

    „War hat nur... so einen Laden?“, ächzte Tsino, als er das eigentlich schlanke Hinterteil mühevoll am Tresen vorbei schob.

    „Ich.“, kam es aus der Nische, die sich in der letzten Ecke des Raumes ergab. Hier standen Fässer, waren Truhen gestapelt und auf ein paar Säcken, Fellen und einem eingerollten Teppich hatte es sich ein beeindruckender Bandit bequem gemacht, der sie mit einem kalten Blick maß, der dazu geeignet war Leute schrumpfen zu lassen: „Und wenn ich den Tonfall noch einmal von dir höre, dann kann dich dein Freund in Einzelteilen raustragen.“

  • Vollkommen baff musterte Tsino den Banditen. Gatorp stand neben ihm und hatte den Blick ebenfalls auf ihr Gegenüber gerichtet. Er sah eigentlich aus wie ein durchschnittlicher Bandit: Ein weiter, blauer Schal, den Oberkörper von Fellen bedeckt, doch die Oberarme nackt, kurzes, schwarzes Stoppelhaar, ein kleiner Goldohrring im linken Ohrläppchen, eine breite Nase und eckige, bartlose Kieferknochen.

    „Wir haben dich endlich gefunden.“ Ungewollt atmete Tsino auf.

    Trotz der verrückten Situation gerade als Buddler einem Banditen gegenüber zu stehen, fühlte er wie eine große Last von seinen Schultern wich. Dabei hatten sie noch gar nichts erreicht. Weder war klar, ob Tide ihnen helfen konnte oder wollte, noch ob sie auch nur seinen Laden lebend verlassen würden.

    „Du siehst nicht aus wie...“, stammelte Tsino bei dem Anblick etwas unbeholfen.

    Amüsiert hob der Bandit eine Braue. „Wie was?“ Er breitete die muskulösen Arme rechts und links von sich aus, um es noch bequemer zu haben, während er sie taxierte.

    „Wie ein Buddler.“, endete Tsino matt.

    Der andere lachte rauh: „Warum sollte ich wie ein Buddler aussehen? Ich bin ein Bandit. Tide Nap mit Namen.“

    Tsino kam sich furchtbar dumm vor und setzte zu einer Erklärung an: „Teto sagte...“

    „Teto?“ Schlagartig war es vorbei mit der entspannten Haltung Tides. Sein Oberkörper schoss ein Stück vor. ‚Treffer.’, dachte sich Tsino, doch er fühlte sich nicht glücklich dabei. Im Gegenteil rutschte ihm das Herz. Es war Gatorp, der in diesem Moment genügend Mut fand, um den Banditen Tide Nap mit einem verwegenen Vorwurf zu konfrontieren:

    „Du hast Tetos Bruder umgebracht!“

    Tide blinzelte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als hätten diese Worte gerade alle Gedanken aus seinem Gehirn gefegt. Völlig fassungslos fragte er zurück: „Tetos Bruder!?“

    Die ungläubige Betonung wirkte auf Tsino nicht geheuchelt. Es stürzte ihn selbst in Verwirrung. So stellte er sich keinen Mörder vor, der mit seiner Untat konfrontiert wurde. Doch er wusste nicht, was gerade falsch lief.

    Vorsichtig fragte er zurück: „Stimmt etwas nicht?“

    Es folgte ein Moment voll lastender Stille. Endlich rückte Tide mit der Sprache raus: „Teto hatte keinen Bruder.“

    Gatorp verschluckte sich und röchelte in einem darauf folgenden Hustenanfall. Tide sprach mit einer Sicherheit in der Stimme von Tetos Blutsbanden, als seien sie ihm bestens bekannt.

    Tsino spürte erneut diesen Wirbelsturm in seinen Gedanken, der drohte alle Fragen, von denen sie eigentlich dachten sie beantwortet zu haben, noch einmal aufzuwerfen. Die Gedanken in Tsinos Kopf, die sich in diesem Moment anfühlten wie tonnenschwere Mosaiksteine, wollten und wollten einfach nicht an ihren Platz rücken. Mit Gewalt versuchte er ein geordnetes Bild zu erschaffen, doch es gelang ihm nicht.

    Tides Augen verengten sich: „Mich würde erst einmal interessieren... Woher ihr zwei Vollblutsnapper Teto kennt?“ Tsino wusste nicht zu sagen, ob der Bandit Tide sie gerade gelobt oder beleidigt hatte, doch er beschloss sich nicht daran aufzuhängen. Gatorp antwortete eher wahrheitsgemäß statt schlecht gelogen: „Er sprach uns mitten in der Nacht auf einen Schatz an.“

    Jetzt ging Tides Augenbewegung in die andere Richtung. Anstatt dass sie schmal blieben weiteten sie sich. „Einen Schatz!?“ Tide wirkte nicht überrascht, sondern alarmiert. Und weil er so wirkte, war Tsino es schlagartig auch. Nach allem, was sie wussten, konnte der Bandit nach wie vor ein Mörder sein. Er konnte auch für Tsino und Gatorp lebensgefährlich sein.

    „Erzähl mir, was du gemacht hast.“, knurrte der Bandit und rückte sich energisch den Schal aus dem Gesicht, um sinnvoller ein Gespräch führen zu können.

    Tsino versuchte nicht eingeschüchtert zu wirken, als er zu einer Erklärung ansetzte: „Der Minenkonvoi wurde in der Nacht angegriffen. Mein Freund Gatorp hier und ich, Tsino, mussten fliehen. Im Dunkeln verirrten wir uns an einem Flußufer und Teto fand uns. Er erzählte uns, dass er von einem Schatz wisse. Er bot uns einen Handel an...“ Tsino kam nicht dazu weiter auszuführen, denn Tide fuhr ihm ungeduldig dazwischen: „Was für einen Handel?“

    Gatorp verschränkte die Arme, da er einfach nicht mehr wusste, wohin mit seinen Händen. Er war es, der Tide antwortete: „Wir sollten den Schatz für ihn ausgraben.“

    Diesmal schwang in der Fassungslosigkeit des Banditen unverhohlener Zorn mit: „Ihr habt euch an unserem Schatz zu schaffen gemacht!“ Doch er sprang nicht auf und obwohl seine Waffen griffbereit lagen, brachte er sie nicht zum Einsatz. Stattdessen schnaubte er wie wild in dem Versuch sich wieder zu beruhigen. Tsino harrte schweißverklebt aus, bis sich der Bandit wieder unter Kontrolle hatte. In seiner Haut fühlte er sich alles andere als wohl.

    Tide maß sie mit einem seiner Blicke, der dazu geeignet war Leute auf Hutgröße schrumpfen zu lassen. Dann sagte er: „Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich euch zu Banditen machen oder euch eigenhändig den Hals umdrehen soll. Ihr habt echt Nerven... Ihr spaziert hier einfach herein... Erzählt mir frei heraus, dass ihr unseren Schatz gestohlen habt... und behauptet zu allem Überfluß mit Teto gesprochen zu haben.“ Er musterte Tsino und Gatorp, die im Augenblick beide einen eingeschüchterten Eindruck machten, ehe er eher für sich selbst hinzufügte: „Aber ganz so hart scheint ihr dann doch nicht zu sein.

    Fahr fort!“

    „Wir haben den Schatz ausgegraben...“ Tsino unterschlug dabei all ihre Probleme an das Grabungsmaterial zu kommen und den durchlebten Schock bei ihrem Fund. Ihr Gegenüber schnaubte noch immer, doch blieb so regungslos wie zuvor. Erst als Tsino sich sicher war, dass er nicht sofort aufspringen und sie töten würde, beendete er den Satz: „...und fanden eine Leiche.“

    Tide nickte und wirkte kein bisschen überrascht. Eher so, als habe er eben etwas gehört, das er schon lange wusste.

    Verzweifelt hoffnungsvoll musterte Tsino Tide in Erwartung dessen, dass dieser irgendetwas sagte, dass die Situation auflöste und sie alle mit einem gedehnten „Ach sooo“ aufatmen liess. Als nichts dergleichen von Tide kam, versuchte Tsino es mit einer Feststellung zu provozieren: „Du kennst Teto.“

    „Aye.“, gestand Tide, „Ich habe ihn umgebracht und bei unserem Schatz verscharrt.“

    Tsino fühlte sich, als habe man ihm gerade einen Knüppel über den Kopf gezogen. Der Boden unter seinen Füßen schien zu wanken und sein Magen nur noch aus Eisblöcken zu bestehen. Tsinos Knie drohten seinem Körpergewicht nachzugeben und so gab Tsino lieber seinen Knien nach und liess sich langsam zu Boden sinken. Auch Gatorp schien eine ähnliche Stimmung zu verspüren, denn wortlos knotete er sich eine Flasche Alkohol ab und nahm einen sehr tiefen Schluck.

    „Was?“, fragte Tide scharf. Der Zustand der beiden Buddler konnte ihm gar nicht entgehen. „Teto ist tot. Also benehmt euch nicht, als hättet ihr einen Geist gesehen.“

    „Nicht ganz... Wir haben ihn gesehen... Mit ihm gesprochen... Ich habe Alpträume...“, gestand Tsino, „Von Teto. Jede Nacht sucht er mich heim. Ich will, dass das aufhört! Und ich glaube, dass du uns helfen kannst Licht in diese Sache zu bringen.“ Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass der Bandit ihm aufs Wort glaubte, auch wenn er ihm gerade eröffnet hatte von einem Mann verfolgt zu werden, den er umgebracht hatte.

    Tide frage weiter: „Und woher wusstest du halbe Portion, dass du damit zu mir kommen musst?“

    „Teto erwähnte deinen Namen. Es war unser einziger Anhaltspunkt.“, antwortete Tsino. Es war wieder eine der Antworten, bei der man ihn logisch betrachtet für verrückt halten müsste. Aber der Bandit nahm es erneut so auf, als glaube er vorbehaltslos jedes Wort davon. Dabei machte er auf Tsino allgemein keinen naiven, sondern eher einen gerissenen Eindruck.

    Viel zu lange schleppten sie diese Geheimnisse mit sich herum, die ihnen auf lange Sicht nur Unglück brachten. Ihm wurde kalt bei dem Gedanken, dass sie sich zu allem Überfluß auch noch einem Banditen anvertrauten.

    Tides ohnehin schon breiter Brustkorb dehnte sich noch ein Stück weiter aus und sank danach seufzend in sich zusammen. „Wie es aussieht ist der gute Teto zurück gekommen, um seinen alten Kameraden heimzusuchen.“

    Gatorp nahm noch einmal einen eher demonstrativen Schluck aus der Flasche, ehe auch er sich sinken liess. Geräuschvoll schluckte er und beugte sich am Boden sitzend vor, um sie Tide anzubieten. Der nahm sie entgegen, rieb das Mundstück mit seinem Schal sauber und nippte daran.

    Er schmatzte genießerisch. „Varanter. Den bekommt man hier im Neuen Lager nur selten. Ihr wisst schon: Außenweltware. Ich will gar nicht wissen, ob ihr den mit dem Schatz bezahlt habt.“

    „Mit meinem Minenerlös.“, warf Gatorp unabhängig vom Wahrheitsgehalt – vor allem aber: schnell – ein.

    Tide nahm diesmal einen deutlich tieferen Schluck. „Also schön... Reden wir.“

    Tsino hielt es für einen guten Moment einen Schritt aus der Defensive zu wagen: „Wer war Teto? Und warum hast du ihn umgebracht?“

    Tide setzte sich mit der Alkoholflasche schon etwas entspannter hin und begann: „Wir waren alle in derselben Mannschaft... Teto... Ich...“

    Schon an dieser Stelle unterbrach Gatorp: „Mannschaft?“

    „Piraten.“, warf Tide erklärend zurück.

    „Piraten!?“, fragten Tsino und Gatorp wie aus einem Mund. Sie tauschten ungläubige Blicke.

    „Ist was?“, fragte Tide gelangweilt.

    „Naja...“, meinte Tsino gedehnt um etwas Zeit zu gewinnen. Er besah sich noch einmal Tides Erscheinung, doch der sah nach wie vor mehr wie ein durchschnittlicher Bandit aus und weniger wie einer der Klischeepiraten. Dennoch rückten ein paar Mosaiksteine an die richtige Stelle: Der Goldohring... Tetos Anhänger mit der Muschel... die handgeknüpften Bänder.

    „Du siehst nicht aus wie ein Pirat...“ machte Gatorp fast schon enttäuscht „Du redest nicht einmal wie einer.“

    „Wie sollte ein Pirat denn reden?“, fragte Tide stoisch zurück und hielt sich die Öffnung der Flasche unter die Nase, um das Aroma zu atmen, so lange er nicht trank. Gatorp wippte dezent verunsichert mit dem Oberkörper hin und her, als er versuchte sich in Worte zu fassen: „Naja... so 'arrr' eben. Und lauter 'Landratten' und 'Setzt die Segel'.“

    Tsino kam sich ausgesprochen dumm vor, als Tide die Vorstellung mit einer lässigen Handbewegung bei Seite wischte. „Nicht jeder Pirat spricht gleich so. Wir sind ganz normale Leute. Dennoch einen uns Bräuche.“

    „Welche zum Beispiel?“, fragte Tsino.

    „Du kannst das wahrscheinlich nicht verstehen, Landratte, aber ich will versuchen es dir zu erklären. Sicher hast du schon davon gehört, dass Piraten ihre Schätze vergraben?“

    „Natürlich.“, warf erneut Gatorp ein, „Vergrabene Piratenschätze sind doch legendär!“

    Tsino meinte skeptisch: „Ist das sinnvoll?“

    Tide entgegenete schnippisch: „Natürlich macht das Sinn. Du kannst sie schlecht offen stehen lassen. Auf einer Seefahrt hast du nicht die Zeit eine Schatzkammer zu bauen. Also musst du mit dem arbeiten, was da ist.“

    Tsino hakte nach: „Deswegen vergrabt ihr die Schätze also im Sand?“

    Tide gab ein genervtes Geräusch von sich und behalf sich mit einem weiteren Schluck, ehe er sagte: „Im Sand... Pfff! Flachflunder! Das Meer schlägt Wellen an den Strand und schwemmt den Sand weg. Auf der anderen Seite der Insel bleibt der abgetragene Sand dann liegen. Wenn die Strömung von Ost nach West fließt und du einen Schatz auf der Westseite verbuddelt hast... Dann kann es sein, dass er auf der Ostseite der Insel liegt, wenn du wieder zurück kommst.

    Nein, nein... Sand ist viel zu unsicher. Du vergräbst die Schätze an einem auffälligen Punkt. Oder du gehst von einem auffälligen Punkt ein Stück und schreibst dir auf, wie du die Stelle wieder findest. Jeder hat da so seine Methoden... Doch dir alles zu erzählen wäre zu viel Gerede für eine Nacht.“

    „Seemannsgarn.“, machte Gatorp und versuchte erfahren zu klingen. Doch das handelte ihm nur einen vorwurfsvollen Blick von Tide ein, der wie dazu geschaffen war einen Troll auf die Größe eines Goblins schrumpfen zu lassen. Nachdem Tide Gatorp damit so lange gestraft hatte, bis Gatorp den Blick senkte und am Boden in sich zusammen schrumpfte, nahm Tide noch einen Schluck aus der Flasche. Danach drückte er sich ein Stück hoch und reichte sie an den überraschten Tsino weiter, der mechanisch daran nippte. Tide erzählte wieder:

    „Es gibt noch einen weiteren Brauch... Wenn du einen Schatz vergräbst... Wenn die Piraten einen Schatz vergraben... Dann wollen sie den natürlich auch wieder haben, wenn sie zurück kommen. Kannst du dir denken, wie das geschieht?“ Er nickte zum Ausgang des Ladens, wo sich noch immer der Bandit mit den goldenen Augen langweilen musste, auch wenn er von ihrer derzeitigen Position aus nicht zu sehen war. Tsino händigte Gatorp die Flasche aus und sah dorthin. Gatorp nahm die Flasche entgegen, linste mit einem Schluck aus der Flasche zum Ausgang und stellte nach einem unnötig harten Schlucken die Frage: „Also bleibt einer als Wache zurück?“

    Tide nickte: „Du hast es erfasst.“ Er streckte fordernd die Hand aus und Gatorp drückte ihm rasch wieder die Flasche in die Hand.

    „Aber wer wäre so verwegen viele Jahre auf einer einsamen, unbewohnten Insel auszuharren?“, fragte Tsino laut.

    „Und wer so treu nicht einfach mit dem Schatz zu verschwinden, sobald die Mannschaft abgezogen ist?“, warf Gatorp einen weiteren Gedankengang mit ein, nur um hinzuzufügen: „Piraten ist ja immerhin alles zuzutrauen...“

    Tide schien nicht davon nicht beleidigt zu sein. Im Gegenteil nickte er sogar.

    Tsino hob die Brauen, als er versuchte das Rätsel zu lösen: „Man müsste den Wächter schon anbinden, damit er nicht mit dem Schatz reißaus nimmt... Aber das würde ihm gleichzeitig die Möglichkeit nehmen den Schatz zu bewachen...“

    Tide schüttelte träge den Kopf. Er lies sie rätseln und beschäftigte sich nebenbei entspannt mit der Flasche. Doch als ihre Lösungsversuche ausblieben, nahm Tide endlich das Wort wieder auf:

    „Ja, wir lassen einen von uns als Wache zurück. Ihr habt Recht damit, dass sich keiner freiwillig auf einer Insel einsperren lassen würde. Also wählen wir ihn unfreiwillig...“ Er machte eine Pause, die er mit einem Schluck füllte, ehe er erneut ansetzte:

    „Während wir den Schatz vergraben stimmen wir darüber ab, wer bleiben muss und wer lebend gehen darf. Normalerweise bekommt der Rest nichts davon mit. Egal, wie viele abstimmen, meistens ist es doch nur eine kleine Gruppe, die darüber entscheidet.“

    „Warte mal... Wer 'lebend' gehen darf?“, fragte Tsino mit geweiteten Augen nach. Doch Tide ignorierte den Einwurf und erzählte unbeeindruckt weiter:

    „Wenn der Schatz in das Loch gehievt wird und es Zeit wird, ihn zu bedecken... Noch ehe das erste Krümmelchen Erde auf den Schatz fällt, fällt einer von uns ins Loch. Die Kameraden schiessen ihm von hinten durch den Rücken ins Herz.“

    Tsino hielt die Luft an. Gatorp klappte der Mund auf. Tide fuhr ungerührt fort:

    „Das bindet die Seele des Toten an den Schatz. Er muss so lange bei dem Schatz wachen, bis seine Mannschaft kommt, um ihn zu erlösen. Dann nehmen sie den Schatz mit und er kann in Ruhe in Beliars Reich gehen.“

    Von Tsino kam es erstickt: „Blutmagier...“

    „Piraten waren schon immer dicht an solchen Dingen.“, meinte Tide nahezu lässig. Er schwenkte die Flüßigkeit in der Flasche, nahm noch einmal einen Schluck und reichte sie dann Gatorp zurück.

    Tsino fragte lahm: „Aber warum ausgerechnet Teto? Er war doch so nett...“

    „Täusch dich nicht – Er sitzt in der Kolonie, Kleiner.“, gab Tide zu bedenken, „Würdest du Teto begegnen und du wüsstest nicht wer er ist – nicht so, wie du es jetzt schon weist – was würdest du von ihm halten?“ Tide lies ihnen einen Moment Zeit, um über die Frage nachzudenken, ehe er sie für sie beantwortete: „Würdest du denken, dass er ein goldgieriger, skrupelloser Pirat sei, der über Leichen geht? Nein. Du würdest denken, dass er ein netter und vertrauenswürdiger Kerl ist. Und genau das macht ihn so gefährlich.

    Wer geht das Lager vor dem Angriff ausspionieren? Teto. Wer geht in das Dorf, in dem unsere Steckbriefe hängen, um Vorräte zu besorgen? Netter Teto. Wen schicken wir alleine los, um unsere Häscher in eine Falle zu locken? Ewig lächelnder Teto!“ Tide schnaubte, als er seine immer lauter werdenden Ausführungen unterbrach.

    Langsam setzte sich in Tsinos Kopf ein Bild so weit zusammen, dass er alleine nach einem Faden greifen konnte: „Aber in der Strafkolonie gab es diese Rollen nicht mehr... Also hast du ihn nicht mehr gebraucht.“

    „Genau deswegen. Als Kamerad ist er unschlagbar. Aber um an einen Schatz an einer verfluchten, geheimen Stelle in einer Kolonie voll misstrauischer Verbrecher zu kommen, brauchst du keine netten Kerle. Ich brauche skrupelose Kerle, die bereit wären für genügend Erz ihre eigene Großmutter zu verkaufen und auf die ich mich verlassen kann.“

    Tsino war schwindlig von den ganzen Enthüllungen und es lag nicht an den Schlucken Alkohol, die er während dessen getrunken hatte. Er stammelte: „Aber... Aber... Wenn die Seele des Wachenden erlöst wird, sobald der Schatz gehoben ist... Warum verfolgt Teto uns weiterhin?“

    Tide antwortete: „Das ist eine gute Frage. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Bande erst dann lösen, wenn die Mannschaft den Schatz hebt, die ihn auch vergraben hat.

    Eigentlich sollte dieser kleine, dreckige Bastard den Schatz vor gierigen Leuten wie euch beschützen und nicht vor ihnen die Position ausplaudern! Ich weis wirklich nicht, was schief gelaufen ist...“ Tide klang abwechselnd wütend und nachdenklich. Nachdem er sich wieder zurück sinken lies, versuchte Gatorp zu rätseln: „Vielleicht liegt es an der Barriere. Die ist ja auch magisch. Und das hat euren kleinen Blutbrauch durcheinander gebracht.“

    Tide schnaubte nur abfällig, nahezu ignorant. Doch er wich Gatorps Blick aus, als er das abfällige Geräusch von sich gab. Womöglich wollte er sich die Möglichkeit nicht eingestehen, dass ihre Methoden fehl geschlagen waren. Wie Tide den Kopf nach rechts abwandte, fiel nicht nur Tsino das Schmuckstück an seinem linken Ohrläppchen ins Auge, sondern auch Gatorp, der es spontan kommentierte:

    „Ihr beiden habt denselben Goldohrring. Ist das, weil ihr in derselben Mannschaft wart?“

    Tide rieb an seinem linken Ohrläppchen, wo sich besagter Ring befand. „Nay.“, machte er und verneinte damit die Frage, "Das haben viele Seeleute. Weist du...

    Wenn du auf See stirbst, wirst du mit ein paar Steinen in deine Hängematte eingenäht und über Bord geworfen. Die meisten wollen das nicht, sondern wie jeder innosgläubige Mensch begraben werden. Daher der Ohrring...“

    Gatorp fragte verständnislos: „Der Ohrring macht ein Grab?“

    Erneut gab Tide ein verneinendes Geräusch von sich, ehe er weiter erklärte: „Wenn wir sterben, wird er uns abgenommen und das Begräbnis davon bezahlt. Also... Wenn du eine Leiche mit Goldohrring findest... Dann organisier ihm ein anständiges Begräbnis und finanzier es von seinem Goldohrring. Was dann noch übrig bleibt, kannst du getrost behalten. Dazu ist es gedacht und jeder bekommt das, was er am meisten will: Der Pirat ein Begräbnis, das seine schwarze Seele zur Ruhe kommen lässt und der ehrliche Finder sein Gold.“

    Gatorp lachte plötzlich auf. Tsino starrte ihn verständnislos an. Endlich hatte sich Gatorp so weit beruhigt, dass er sich erklären konnte: „Tetos Leiche trägt auch so einen Ring... Hat ihm nur nicht viel gebracht.“

    Tide lachte nicht mit.

    Tsinos Augen wurden groß. „Gatorp... Das ist es!“

    Verwundert schaute Gatorp zurück: „Das ist was?“

    Tsino kam kaum noch damit hinterher seine Gedanken auszusprechen, da die Erzbrocken bei ihm so schnell fielen: „Darum kann Teto keine Ruhe finden, obwohl der Schatz längst geborgen ist: Er will ein anständiges Begräbnis! Erinnerst du dich nicht? Als er uns erzählt hat, wo der Schatz begraben liegt, da sagte er, wir sollen etwas ausgraben und woanders wieder eingraben. Er meinte gar nicht den Schatz... Er meinte sich!

    Wir sollen Tetos Leiche wieder ausgraben und in einem Friedhof wieder eingraben.“

    Gatorp wurde laut. Man hörte eindeutig Verärgerung in seiner rauhen Stimme: „Und warum sagt er uns das nicht klipp und klar? Warum hat er nicht gesagt 'He, ihr Idioten. Buddelt meine verdammte Leiche aus und beerdigt sie irgendwo, damit ich Frieden finden kann. Ich bezahle euch übrigens mit einem verfluchten Piratenschatz dafür!'?“

    „Da habe ich eine Theorie“, antwortete Tide an Tsinos statt: „Die Bande, die eine Piratenseele an einen Piratenschatz bindet, sorgt normalerweie dafür, dass er zu allen anderen Dingen dazu gezwungen ist das Geheimnis für sich zu behalten.“

    Tsino setzte die Mosaikstücke zusammen: „Wahrscheinlich wollte Teto es uns sogar sagen... konnte es aber nicht.“

    Gatorp fuhr dazwischen: „Er sagte er will einen Schatz!“

    „Nein...“ Tsino schüttelte langsam den Kopf „Ich kann dir den genauen Wortlaut nicht mehr aus dem Kopf sagen, aber ich glaube nicht, dass er das gesagt hat. Das waren wir. Wir haben geglaubt, dass er einen Teil vom Schatz meinte, weil wir nur auf den Reichtum fixiert waren... Wir hatten ja keine Ahnung, dass seine Leiche mit vergraben war!

    Für uns war es logisch, dass jeder, der von einem Schatz weis, auch einen Teil davon haben will. Also haben wir uns etwas eingebildet, das nicht so war und es für die Wahrheit gehalten.“

    Gatorp lies noch nicht locker: „Und Tide? Teto hätte sagen können, dass Tide ein verdammter Bandit ist und kein Buddler war.“

    Tides Augen blitzten gefährlich, als er Gatorp anfuhr: „Vorsicht, Freundchen!“

    Erneut flüsterte Tsino die eigene Skepsis eine mögliche Antwort ein, die er sofort publik machte: „Derselbe Fehler... Wir dachten Tide sei ein Buddler, weil Teto sagte, er sah aus wie einer.“ Dabei maß Tsino seinerseits Tide mit Blicken und fragte ihn: „Warum hat Teto das erzählt? Du bist doch ein Bandit...“

    Tide antwortete ihm: „Er wusste es nicht... Als wir den Schatz vergruben, hat er mich das letzte Mal gesehen. Damals waren wir beide noch Buddler. Seither sind zwei Jahre vergangen.“

    Gatorps Verärgerung brandete noch einmal auf, doch seine Stimme klang schon nicht mehr ganz so rauh, als er laut sagte: „Warum ist Teto nicht nachsehen gegangen?“

    Auch hier lieferte Tide wieder die Antwort: „Weil er nicht konnte. Der Bann sorgt dafür, dass sich die Seele nie weit vom Versteck des Schatzes entfernen kann.“

    „Das macht sogar Sinn. Deswegen sind wir ihm am Flußufer begegnet... Oder er uns. Je nachdem, wie man es sieht. Er konnte dort nicht weg und musste warten, bis zur Geisterstunde Leute vorbei kamen, die ihn erlösen können.“ Gatorps Gesicht erhellte sich in dem Bruchteil einer Sekunde, ehe er so skeptisch, wie sonst nur Tsino war, hinzufügte: „Aber weist du von einem Friedhof hier in der Kolonie?“

    „Hier ist einer.“, warf Tide ein. Überrascht sahen beide Buddler zu ihm hinüber. Tsino meinte verwundert: „Im Alten Lager werfen sie die Leichen immer in den Burggraben, wo die Tiere die Kadaver dann weg schleppen...“

    Tsino atmete aus, ehe er den nächsten Plan nicht nur in seinem Kopf, sondern auch in Worte fasste: „Wir graben Teto aus... und beerdigen ihn auf dem Friedhof im Neuen Lager.“


    Ohne sich noch weiter an der Alkoholflasche zu vergehen, standen sie sich auf. Tide suchte einen stabilen Sack aus seinem Vorrat, der groß genug war, um einem ausgewachsenen Mann vom Kopf bis zu den Knöcheln zu reichen und warf ihn sich über die Schulter. Tsino konnte sich erneut eines seltsamen Gefühls nicht erwehren mit einem Banditen unterwegs zu sein. Noch in der Türschwelle wandte sich Tide an die Ladenwache: „Ich muss mal kurz weg. Pass hier auf, bis ich wieder da bin.“ Der Bandit musterte die beiden Buddler mit unverhohlener Neugier in seinen goldfarbenen Augen, sagte jedoch nichts.

    Mit Tide an ihrer Seite kamen sie ungehindert durch das Lager und am Reisfeld vorbei. Die Banditen dort staunten nicht schlecht, als Tide mit den ehemaligen Unruhestiftern an ihnen vorbei wanderte und die Pflücker und Schläger, die Reisbauern und Banditen wichen ihrer kleinen Gruppe samt und sonders respektvoll, manche sogar richtig kriecherisch aus.

    Tsino versuchte nicht auf sie zu achten, als er Tide fragte: „Warum ausgerechnet die Stelle?“

    „Erzähl' ich euch draußen.“, winkte Tide forsch ab.

    Gatorp hakte nach, als sie das Lager verliessen: „Sag mal, Tide... Wie seid ihr eigentlich ausgerechnet auf die Stelle gekommen? Da ist doch nichts, um den Schatz wieder zu finden.“

    „Da irrst du dich.“, meinte Tide. Er versank für einige Momente in Nachdenken, ehe er meinte: „Nun, wo der Schatz ohnehin gefunden ist, spielt es auch keine Rolle, ob ich es euch zeige oder nicht... Aber wir müssen auf den richtigen Sonnenstand warten.“

    Kaum aus dem Lager folgten sie einem Weg, der an hoch aufragenden Felsen entlang das Lager umrundete. Dort gab es ein kleines Waldstück, in das Tide sie führte.

    Tsino erschrack bis ins Mark, als sie einen schlafenden Scavenger aufschreckten. In der Morgendämmerung hatte der graublaue Riesenvogel wie ein Stein ausgesehen. Kaum wach, sprang das Tier auf die langen Beine, die die eines Läufers waren und senkte den Kopf mit dem armlangen Schnabel, um sie mit einem durchdringenden Schrei zu bedrohen. Tide verzog keine Miene, als er seine Waffe löste, auf das Tier zustürmte und es noch in seiner Drohgebärde mit einem gezielten Hieb gegen die Kehle zu Fall brachte. Das ganze war eine Sache von Sekunden, dennoch brauchte Tsino einen Moment, ehe er seine Knie wieder fand und dem skrupellosen Banditen folgte, der die Waffe flüchtig am Fell abwischte und weiter stapfte, als habe es nie eine Unterbrechung gegeben.

    Es zeigte sich, dass ihr Weg recht abrupt an einem Abhang endete. Dort stürzte ein kleiner Wasserfall in den Fluß, an dem der Schatz vergraben lag.

    Lange standen sie dort, ohne dass sich Tide erklärte. Er stand einfach mit verschränkten Armen und starrte die entfernte Felswand neben dem Flußufer an. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als geduldig zu warten.

    Als die Sonne hinter einer Bergflanke hervorkam und ihr goldrotes Licht die Welt in Farbe tauchte, sagte Tide unvermittelt: „Da ist es. Du siehst unsere Galleonsfigur im Felsen.“

    Tsino und Gatorp starrten ihn an, als habe der Bandit den Verstand verloren.

    ‚Er starrt auf eine Felswand und spricht von einer sie?’

    Tide löste den Knoten in den Armen und kam zu Tsino hinüber, nur um sich unangenehm nah neben ihn zu stellen. Er brachte seinen Kopf so nahe wie möglich an den von Tsino, um in etwa dessen Blickwinkel einnehmen zu können. Er streckte den Arm aus und begann erklärend auf verschiedene Stellen der Felswand zu deuten. Mit Tides Kopf auf seiner Schulter, seiner Wange ganz nah an seiner und dessen Arm direkt vor seinem Gesichtsfeld ausgestreckt, wurde ihm plötzlich kalt. Tides Ohrring kitzelte ihn an der Wange und das kühle Metall machte ihm Gänsehaut.

    Er beobachtete Tides ausgestreckten Zeigefinger, der eine armeslänge von seinen Augen entfernt Linien am Fels nachzeichneten. Durch das Sonnenlicht warfen die Steine dort klar erkennbare Schatten. Nun, wo Tides Finger diese aus Schatten geformten Linien entlang glitt, sah Tsino es auch.

    Es war, als male ihm der weisende Finger das Bild direkt aus dem Stein. „Da siehst du das Gesicht...“ Aus dem Felsen lösten sich die Umrisse. Tsino erkannte ganz klar das ebenmäßige Gesicht mit glatten Wangen in der Felswand. Tides Finger glitt weiter nach unten. „Hier den Körper.“ Während er erklärte sprangen die Konturen Tsino förmlich ins Gesicht. ‚Warum ist mit das nicht schon früher aufgefallen?’ Nun konnte er auch die geschwungenen Hüften erkennen. Nur das Netz aus Rissen zwischen den Felsen im unteren Teil ergab für ihn keinen Sinn. „Was ist das?“

    Er streckte nun seinen eigenen Arm neben dem von Tide aus. Ihre Arme berührten sich, als Tsino auf die Partien deutete, wo an die Hüfte eigentlich die Beine anschließen sollten, doch sich stattdessen der ganze Körper in einem sinnlichen Schwung nach hinten wölbte und sich in diesem Geflecht verlor.

    Tide meinte nur unbeeindruckt: „In einem Fischschwanz endet die schöne Frau.“ Er löste sich von Tsino und ging zu Gatorp hinüber, um bei ihm dieselbe Magie noch einmal zu wirken.

    Tsino starrte die Felswand gegenüber an, auf der er jetzt so klar das aus Licht und Stein gemeiselte Bild dieser Meerjungfrau sehen konnte. Gatorp sog hörbar die Luft ein. Er hatte nun wohl das Bild offenbar ebenfalls entdeckt.

    Eine Weile betrachteten sie stumm vor Staunen das Bild, dann schob sich eine Wolke vor die Sonne. Einen Moment später schwamm dort nur noch grau in grau die Felswand. Enttäuscht sah Tsino zu den anderen hinüber.

    Er fragte Tide: „Ihr habt den Schatz also unter ihrem Rumpf vergraben?“ Tide nickte zur Antwort: „Teto hat die Stelle damals entdeckt. Ewiger Naturfreund... Hat die Scavenger hier immer nur mit der stumpfen Seite seiner Waffe niedergeschlagen und aus dem Weg gezogen.“ Dabei nickte er in das Waldstück.

    „Sollen wir runter gehen?“, fragte Tsino.

    Gatorp meinte: „Ich bleibe lieber noch einen Moment sitzen...“

    Tide stand aufrecht auf den Klippen, wo der Wind flüsternd über den Fluß strich und rauschend zwischen den Bäumen spielte. Mit verschränkten Armen blickte er zur Steilwand hinüber. „Teto hat das alles geliebt.“, meinte Tide irgendwann zusammenhanglos, „Den Wind und die Natur, die Galeonsfigur und jeden dreckigen Piraten an Bord.“ Seine breite Brust wurde von einem tiefen Seufzen gedehnt, als er an niemand Bestimmten gerichtet fortfuhr „Bei den Göttern... Wie sehr ich sie alle vermisse. Ich würde unseren Schatz geben um noch einmal auf Raubzug gehen zu können...“

    Gatorp platzte ihm in die wehmütige Stimmung: „Heißt das, du willst den Schatz gar nicht?“

    Tide schüttelte den Kopf mit einem Gesichtausdruck, als habe er gerade in einen sauren Apfel gebissen: „Einen verfluchten Schatz kann ich nicht gebrauchen. Lieber nehme ich das Geld in die Hand, um mein Leben zu kaufen. Du siehst ja Teto: Reich, aber tot. Bringen wir es endlich hinter uns.“ Damit setzt er sich in Bewegung. Die beiden Buddler rappelten sich auf und folgten dem Banditen.

    Sie gingen zu der Stelle hinunter. Die Schaufeln, die Gatorp und Tsino genutzt hatten, waren noch dort. Auch Teto war noch da, wenn auch in bedeutend schlechteren Zustand als zuvor. Tide warf den Sack ins Loch, der daraufhin den Toten bedeckte und hieß die beiden Buddler hinab zu steigen und ihn zu holen.

    Es war eine Arbeit, die sich Tsino nachträglich lieber aus dem Gedächtnis löschte. Ebenso der Weg zurück ins Lager, während Teto in dem Sack verschnürt auf seiner und Gatorps Schulter getragen wurde. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, ob und wie die Leute am Feld gestarrt haben mussten. Nur dunkel erinnerte er sich an einen kleinen Fliederstrauch mit lila Blütentrauben, der auf dem Friedhof wuchs und das tosende Rauschen aus dem Wasserfall, das durch die Ohren in den Kopf drang und dort jeden Gedanken im Keim erstickte. Dort hoben sie unter Tides Aufsicht erneut eine Grube aus. Genauso tief wie das Loch, in dem die Buddler einen Schatz und Teto seinen Tod gefunden hatten. Dort betteten sie ihn zur letzten Ruhe, schaufelten die Erde wieder zu und standen für einen Moment in beklemmender Stille.

    Tsino erinnert sich hauptsächlich an eines: Danach hatten die Alpträume aufgehört.


    ENDE