Kapitelübersicht
- Aufbruch
- Flucht
- Die Geister, die ich rief
- Verhandlungen
- (noch namenlos)
- Grabung
- Und eine Flasche voll Branntwein
- Fundgrube
- Ein Ei dem anderen
- Kein Glück
- Durchsuchung
- (optionales Kapitel)
- Suche
- Zu Protokoll
- Wie der Zufall spielt
- Überfall
- Ahoi, Reisfeld
- Pause am Reisfeld
- (Reinigung)
- Stellung
Aufbruch
„Wer sich vom Konvoi entfernt... wird erschossen.
Wer den Konvoiführer überholt... wird erschossen.
Wer den Konvoi durch Sammeln, Trödeln oder anderweitig aufhält... wird erschossen.“
Die Stimme des Konvoiführers hallte über den Platz, der sich vor ungezählten Jahren selbst angelegt hatte. Gesäumt wurde er von spärlichen Holzhütten und war eingegrenzt von einer übermannshohen Pallisade aus angespitzten Holzpfählen. Alles, was hier je gewachsen war und wachsen wollte, war durch derbe Schritte längst zertrampelt worden. Jetzt hatte es auch keine Möglichkeit mehr nachzuwachsen, denn jeden Tag traten dutzendfach bare oder besohlte Füße den Boden noch weiter aus.
Die alles umschließende Pallisade war die einzige Aussicht, die der unsortiert auf dem Platz stehende Haufen schweißgebadeter, vollkommen erschöpfter Männer in zerlumpten Kleidern hatte, während sie den Konvoiregeln lauschten, die der Konvoiführer ihnen entgegen schmetterte. Ihnen gegenüber stand in etwa dieselbe Anzahl an Wachen in der breiten, mit Fackeln flankierten Lücke – dem einzigen Durchlass in der Pallisade und Ausweg aus der Mine, in der sie gerade eine Schicht geleistet hatten.
Aufrecht stehende, in rote Rüstungen gekleidete Kerle mit mehr oder minder kompakten Muskeln, doch allesamt bis an die Zähne bewaffnet: Säbel, Schwerter, kurz oder lang, einhändig oder zweihändig, Bögen, Armbrüste, Messer und Dolche reflektierten den Fackelschein, der unruhig in der Abendluf zuckte.
Die Wachen setzten sich aus zwei Gruppen zusammen: Gardisten und Schatten.
Die Gardisten waren eindeutig besser gerüstet und ihre von Kampf und Übungen gestählten Körper trugen die schweren Eisenrüstungen als hätten sie kein größeres Gewicht wie die blutroten Stofftuniken an ihrem Leib. Sie konnten es sich leisten zahlenmäßig unterlegen zu sein, ohne es auch an Kampfkraft zu sein.
Den größten Teil der Wachen stellten die Schatten. Leicht erkennbar an ihren scharlachroten, knöchellangen Lederhosen, auf denen einzelne, weiße Lederflicken in einem komplizierten Muster aufgenäht waren, das unschwer wiederzuerkennen doch fast unmöglich zu imitieren war.
Am zahlreichsten vertreten waren die Minenarbeiter. Auf Seite der mit Minenstaub wie mit Puderzucker überzogenen Arbeiter stellten Waffen eine Ausnahme dar. Die meisten trugen dafür eine Hacke auf dem Rücken.
Sie waren das, was man gemeinhin Buddler nannte. Die Arbeit in der Mine war ihr Haupteinkommen und man sah auf einen Blick, wer ein hohes Einkommen hatte: Wer es sich leisten konnte, nannte eine Hacke sein eigen und trug eine schwere Arbeitshose aus grün gefärbtem Leder. Das stabile Material schützte die Beine der Buddler vor den schweren Brocken, die sie mit ihren Hacken aus der Wand schlugen. Komplettiert wurde dieser Schutz durch gepolsterte Knieschoner und harte Lederschuhe.
Zu ihrer Sorte gehörten auch Gatorp und Tsino. Die beiden Freunde waren schon seit langer Zeit unzertrennlich, was an genau der rechten Mischung aus Gleichheit und Individualität lag.
Tsinos Aussehen war das eines Allerweltsbuddlers: Mattbraunes Haar, dunkle Augen, gebräunter Teint, durchschnittlich groß und ohne auffallende Bewaffnung. Ein Gesicht, das man sofort wieder vergas, nachdem man es gesehen hatte. Das übliche Sammelsurium an Beuteln baumelte ihm vom Gürtel. Heute war er glattrasiert, doch trug er oft einen aus Faulheit gewachsenen Bart.
Gatorp stach durch eine auffällige Haar- und Bartfarbe sofort aus jeder Menge heraus. Sein Körper sprach positiv auf jede Art von Bewegung an und so hatte die Minenarbeit und die ein oder andere Prügelei einen ahtletischen Körperbau von eckigen Konturen geformt.
Wie alle anderen Buddler kannten auch diese beiden die Konvoiregeln bereits so weit auswendig, dass sie sie problemlos hätten mitsprechen können. Statt sich diesen durchaus gefährlichen Spaß zu erlauben, neigte sich der rotblonde Gatorp dicht zu dem unauffälligen Tsino und flüsterte so leise, dass es keine der Wachen hören konnte: „Warum noch mal tun wir uns das an?“
Tsino flüsterte fast noch leiser zurück: „Der König benötigt das Erz aus den Minen. Er tauscht es gegen die Dinge, die uns hier ein angenehmes Leben ermöglichen, deswegen hat es sich gleichzeitig zu unserem Zahlungsmittel entwickelt. Um jede Flucht unmöglich zu machen, ließ er über der Minenkolonie eine magische Barriere errichten. Das ist das blaue Leuchten, das man manchmal am Himmel wabern sieht. Man kann zwar durch sie hinein, doch nie wieder hinaus. Wer es trotzdem versucht, stirbt...“
Gatorp verzog das Gesicht. „Hör auf.“, wisperte er, „Die Frage war nicht ernst gemeint.“ Er richtete sich wieder auf und verschränkte die kräftigen Arme, während sie auch den Rest der Ansprache über sich ergehen ließen.
Die Nacht war bereits herein gebrochen. Ein Nebeneffekt davon, wenn die Minenschichten von den Wachen unnötig überzogen wurden.
„Abmarsch!“
Damit wandte sich der Konvoiführer um und marschierte vorweg. Ein Teil der Wachen folgte ihm auf das Kommando an den Hacken und bildete somit die Spitze des Konvois. Der Rest beobachtete abwartend den Haufen an Buddlern, der sich nur träge und unterschiedlich schnell in Bewegung setzte. Eine Auswirkung von Erschöpfung und mangelnder Disziplin in selben Maße.
Der Konvoi zog sich bereits wenige Schritte hinter der Pallisade unförmig in die Länge. Die Wachen verteilten sich gleichmäßig an den Seiten. Der Rest rückte als Nachhut hinter den Konvoi. Einzelne Fackeln, von Buddlern oder Wachen in der Hand gehalten, begleiteten den Zug und schlangen ihre rauchenden Flammenzungen in die Luft wie entrollte Fahnen.
Geräuschvoll, staubig und weithin wahrnehmbar, walzte sich der Minenkonvoi durch den nächtlichen Minenwald, der sich neben der Mine erstreckte und hinter dem das Alte Lager mit seinem krummen Außenring, seiner steinernen Burg, seinen schiefen Holzhütten und all seinen menschengeschaffenen Unanehmlichkeiten auf seine Bewohner wartete, die just den Minenwald durchquerten. Ein Wald, der vor wilden Tieren und noch wilderen Banditen nur so wimmelte. Gerüchte sprachen außerdem von Geisterwesen, die nächtens ihr Unwesen trieben.
Als erzähle der Wald eben jene Geschichte, war die Nacht erfüllt von vielstimmigen Flüstern. Die Blätter der Bäume rieben sich raschelnd aneinander, als berieten sie sich über die Menschen, die da zwischen ihren Wurzeln vorbei stapften. Die Flammen der Fackeln flüsterten, während sie hoch über den Köpfen der Masse thronend mitgetragen wurden. Auch die Leute untereinander tauschten sich aus. Während die Menschen redeten, hielt der Wald plötzlich den Atem an. Mit dem Wind erstarb das Flüstern der Blätter, das Rauschen der Fackeln. Doch die Männer schienen blind und taub für das Ausbleiben der Geräusche um sich herum.
Ohne dass sich eine Brise regte, seufzten die Blätter am Waldboden. Büsche raschelten. Mit einem knuffigen Krächzen flog irgendetwas aus der Deckung des Waldes heraus und stürzte mitten hinein in den Minenkonvoi. Ein undefinierbares Knäuel kullerte so dicht an einer Schattenwache vorbei, dass diese die Füße wegzog und mit offen stehendem Mund hinterhersah.
Keinen Herzschlag später schoss ein Knüppel aus dem moosgrünen Pelzknäuel und zog ihm durch einen gezielten Hieb die Beine weg. Begleitet von einem lautstarken Krächzen in der Tonlage von Kriegsgeschrei sprangen aus allen Richtungen die pelzigen Gebilde herbei. Sie offenbarten zwei Beine und zwei Arme wie bei einem Menschen, doch mit spitzen, abstehenden Fledermausohren. Der ganze Körper war mit moosgrünen Pelz überzogen und etwa halb so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Ausnahmslos mit einem Lendenschurz bekleidet und mit einem Knüppel bewaffnet, der fast so lang war wie das Geschöpf selbst und dick wie der Arm eines ausgewachsenen Mannes, attackierten sie wild schreiend und krächzend den Konvoi. Das Gesicht war eine platte Fratze mit gemein blinkenden Schweinchenäuglein, einer Affennase und tückischen Fangzähnen im Mund, von denen zwei wie eine offen vorgetragene Drohung über die Oberlippe ragten. Als „süß“ konnte man sie nur so lange bezeichnen, wie sie nicht aggressiv knurrend auf jemanden einhieben.
Dann folgte der Schrei: „Goblins!“
Binnen Sekunden war die Welt ein Chaos. Gardistenklingen blitzten in der Nacht auf. Tollkühne Buddler rissen die spärlichen Waffen und Hacken aus den Halterungen. Pfeile sirrten, ohne im Dunkeln gesehen zu werden oder zu sehen, in wessen Fleisch sie sich bohrten. Tsino konnte sehen, wie sich zwei Goblins in einem Hechtsprung kugelförmig zusammenrollten und ein Stück über den Boden purzelten, um der in flachen Bogen geschwungenen Klinge eines Gardisten erfolgreich zu entgehen. Ein Buddler in der Nähe hatte weniger Glück und wurde von der Klinge, die eigentlich dazu da war ihn zu schützen, niedergestreckt.
Der Aufschrei des Verletzten gellte durch die Nacht. Das war für Tsino zu viel. „Gatorp!“ brüllte er, brach und rannte. Egal wohin, hauptsache weg vom Kampflatz. Stapfende Schritte sagten ihm, dass sein engster Freund ihm dicht auf den Fersen folgte. Kopflos floh er in die Dunkelheit des Waldes. Den Lärm des tobenden Chaos hinter ihnen hatte der Wald noch nicht verschluckt, als Tsino siedend heiß auffiel, dass keiner von beiden daran gedacht hatte eine der Fackeln zu schnappen.