• Aufbruch

    „Wer sich vom Konvoi entfernt... wird erschossen.

    Wer den Konvoiführer überholt... wird erschossen.

    Wer den Konvoi durch Sammeln, Trödeln oder anderweitig aufhält... wird erschossen.“

    Die Stimme des Konvoiführers hallte über den Platz, der sich vor ungezählten Jahren selbst angelegt hatte. Gesäumt wurde er von spärlichen Holzhütten und war eingegrenzt von einer übermannshohen Pallisade aus angespitzten Holzpfählen. Alles, was hier je gewachsen war und wachsen wollte, war durch derbe Schritte längst zertrampelt worden. Jetzt hatte es auch keine Möglichkeit mehr nachzuwachsen, denn jeden Tag traten dutzendfach bare oder besohlte Füße den Boden noch weiter aus.

    Die alles umschließende Pallisade war die einzige Aussicht, die der unsortiert auf dem Platz stehende Haufen schweißgebadeter, vollkommen erschöpfter Männer in zerlumpten Kleidern hatte, während sie den Konvoiregeln lauschten, die der Konvoiführer ihnen entgegen schmetterte. Ihnen gegenüber stand in etwa dieselbe Anzahl an Wachen in der breiten, mit Fackeln flankierten Lücke – dem einzigen Durchlass in der Pallisade und Ausweg aus der Mine, in der sie gerade eine Schicht geleistet hatten.

    Aufrecht stehende, in rote Rüstungen gekleidete Kerle mit mehr oder minder kompakten Muskeln, doch allesamt bis an die Zähne bewaffnet: Säbel, Schwerter, kurz oder lang, einhändig oder zweihändig, Bögen, Armbrüste, Messer und Dolche reflektierten den Fackelschein, der unruhig in der Abendluf zuckte.

    Die Wachen setzten sich aus zwei Gruppen zusammen: Gardisten und Schatten.

    Die Gardisten waren eindeutig besser gerüstet und ihre von Kampf und Übungen gestählten Körper trugen die schweren Eisenrüstungen als hätten sie kein größeres Gewicht wie die blutroten Stofftuniken an ihrem Leib. Sie konnten es sich leisten zahlenmäßig unterlegen zu sein, ohne es auch an Kampfkraft zu sein.

    Den größten Teil der Wachen stellten die Schatten. Leicht erkennbar an ihren scharlachroten, knöchellangen Lederhosen, auf denen einzelne, weiße Lederflicken in einem komplizierten Muster aufgenäht waren, das unschwer wiederzuerkennen doch fast unmöglich zu imitieren war.

    Am zahlreichsten vertreten waren die Minenarbeiter. Auf Seite der mit Minenstaub wie mit Puderzucker überzogenen Arbeiter stellten Waffen eine Ausnahme dar. Die meisten trugen dafür eine Hacke auf dem Rücken.

    Sie waren das, was man gemeinhin Buddler nannte. Die Arbeit in der Mine war ihr Haupteinkommen und man sah auf einen Blick, wer ein hohes Einkommen hatte: Wer es sich leisten konnte, nannte eine Hacke sein eigen und trug eine schwere Arbeitshose aus grün gefärbtem Leder. Das stabile Material schützte die Beine der Buddler vor den schweren Brocken, die sie mit ihren Hacken aus der Wand schlugen. Komplettiert wurde dieser Schutz durch gepolsterte Knieschoner und harte Lederschuhe.

    Zu ihrer Sorte gehörten auch Gatorp und Tsino. Die beiden Freunde waren schon seit langer Zeit unzertrennlich, was an genau der rechten Mischung aus Gleichheit und Individualität lag.

    Tsinos Aussehen war das eines Allerweltsbuddlers: Mattbraunes Haar, dunkle Augen, gebräunter Teint, durchschnittlich groß und ohne auffallende Bewaffnung. Ein Gesicht, das man sofort wieder vergas, nachdem man es gesehen hatte. Das übliche Sammelsurium an Beuteln baumelte ihm vom Gürtel. Heute war er glattrasiert, doch trug er oft einen aus Faulheit gewachsenen Bart.

    Gatorp stach durch eine auffällige Haar- und Bartfarbe sofort aus jeder Menge heraus. Sein Körper sprach positiv auf jede Art von Bewegung an und so hatte die Minenarbeit und die ein oder andere Prügelei einen ahtletischen Körperbau von eckigen Konturen geformt.

    Wie alle anderen Buddler kannten auch diese beiden die Konvoiregeln bereits so weit auswendig, dass sie sie problemlos hätten mitsprechen können. Statt sich diesen durchaus gefährlichen Spaß zu erlauben, neigte sich der rotblonde Gatorp dicht zu dem unauffälligen Tsino und flüsterte so leise, dass es keine der Wachen hören konnte: „Warum noch mal tun wir uns das an?“

    Tsino flüsterte fast noch leiser zurück: „Der König benötigt das Erz aus den Minen. Er tauscht es gegen die Dinge, die uns hier ein angenehmes Leben ermöglichen, deswegen hat es sich gleichzeitig zu unserem Zahlungsmittel entwickelt. Um jede Flucht unmöglich zu machen, ließ er über der Minenkolonie eine magische Barriere errichten. Das ist das blaue Leuchten, das man manchmal am Himmel wabern sieht. Man kann zwar durch sie hinein, doch nie wieder hinaus. Wer es trotzdem versucht, stirbt...“

    Gatorp verzog das Gesicht. „Hör auf.“, wisperte er, „Die Frage war nicht ernst gemeint.“ Er richtete sich wieder auf und verschränkte die kräftigen Arme, während sie auch den Rest der Ansprache über sich ergehen ließen.

    Die Nacht war bereits herein gebrochen. Ein Nebeneffekt davon, wenn die Minenschichten von den Wachen unnötig überzogen wurden.

    „Abmarsch!“

    Damit wandte sich der Konvoiführer um und marschierte vorweg. Ein Teil der Wachen folgte ihm auf das Kommando an den Hacken und bildete somit die Spitze des Konvois. Der Rest beobachtete abwartend den Haufen an Buddlern, der sich nur träge und unterschiedlich schnell in Bewegung setzte. Eine Auswirkung von Erschöpfung und mangelnder Disziplin in selben Maße.

    Der Konvoi zog sich bereits wenige Schritte hinter der Pallisade unförmig in die Länge. Die Wachen verteilten sich gleichmäßig an den Seiten. Der Rest rückte als Nachhut hinter den Konvoi. Einzelne Fackeln, von Buddlern oder Wachen in der Hand gehalten, begleiteten den Zug und schlangen ihre rauchenden Flammenzungen in die Luft wie entrollte Fahnen.

    Geräuschvoll, staubig und weithin wahrnehmbar, walzte sich der Minenkonvoi durch den nächtlichen Minenwald, der sich neben der Mine erstreckte und hinter dem das Alte Lager mit seinem krummen Außenring, seiner steinernen Burg, seinen schiefen Holzhütten und all seinen menschengeschaffenen Unanehmlichkeiten auf seine Bewohner wartete, die just den Minenwald durchquerten. Ein Wald, der vor wilden Tieren und noch wilderen Banditen nur so wimmelte. Gerüchte sprachen außerdem von Geisterwesen, die nächtens ihr Unwesen trieben.

    Als erzähle der Wald eben jene Geschichte, war die Nacht erfüllt von vielstimmigen Flüstern. Die Blätter der Bäume rieben sich raschelnd aneinander, als berieten sie sich über die Menschen, die da zwischen ihren Wurzeln vorbei stapften. Die Flammen der Fackeln flüsterten, während sie hoch über den Köpfen der Masse thronend mitgetragen wurden. Auch die Leute untereinander tauschten sich aus. Während die Menschen redeten, hielt der Wald plötzlich den Atem an. Mit dem Wind erstarb das Flüstern der Blätter, das Rauschen der Fackeln. Doch die Männer schienen blind und taub für das Ausbleiben der Geräusche um sich herum.

    Ohne dass sich eine Brise regte, seufzten die Blätter am Waldboden. Büsche raschelten. Mit einem knuffigen Krächzen flog irgendetwas aus der Deckung des Waldes heraus und stürzte mitten hinein in den Minenkonvoi. Ein undefinierbares Knäuel kullerte so dicht an einer Schattenwache vorbei, dass diese die Füße wegzog und mit offen stehendem Mund hinterhersah.

    Keinen Herzschlag später schoss ein Knüppel aus dem moosgrünen Pelzknäuel und zog ihm durch einen gezielten Hieb die Beine weg. Begleitet von einem lautstarken Krächzen in der Tonlage von Kriegsgeschrei sprangen aus allen Richtungen die pelzigen Gebilde herbei. Sie offenbarten zwei Beine und zwei Arme wie bei einem Menschen, doch mit spitzen, abstehenden Fledermausohren. Der ganze Körper war mit moosgrünen Pelz überzogen und etwa halb so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Ausnahmslos mit einem Lendenschurz bekleidet und mit einem Knüppel bewaffnet, der fast so lang war wie das Geschöpf selbst und dick wie der Arm eines ausgewachsenen Mannes, attackierten sie wild schreiend und krächzend den Konvoi. Das Gesicht war eine platte Fratze mit gemein blinkenden Schweinchenäuglein, einer Affennase und tückischen Fangzähnen im Mund, von denen zwei wie eine offen vorgetragene Drohung über die Oberlippe ragten. Als „süß“ konnte man sie nur so lange bezeichnen, wie sie nicht aggressiv knurrend auf jemanden einhieben.

    Dann folgte der Schrei: „Goblins!“

    Binnen Sekunden war die Welt ein Chaos. Gardistenklingen blitzten in der Nacht auf. Tollkühne Buddler rissen die spärlichen Waffen und Hacken aus den Halterungen. Pfeile sirrten, ohne im Dunkeln gesehen zu werden oder zu sehen, in wessen Fleisch sie sich bohrten. Tsino konnte sehen, wie sich zwei Goblins in einem Hechtsprung kugelförmig zusammenrollten und ein Stück über den Boden purzelten, um der in flachen Bogen geschwungenen Klinge eines Gardisten erfolgreich zu entgehen. Ein Buddler in der Nähe hatte weniger Glück und wurde von der Klinge, die eigentlich dazu da war ihn zu schützen, niedergestreckt.

    Der Aufschrei des Verletzten gellte durch die Nacht. Das war für Tsino zu viel. „Gatorp!“ brüllte er, brach und rannte. Egal wohin, hauptsache weg vom Kampflatz. Stapfende Schritte sagten ihm, dass sein engster Freund ihm dicht auf den Fersen folgte. Kopflos floh er in die Dunkelheit des Waldes. Den Lärm des tobenden Chaos hinter ihnen hatte der Wald noch nicht verschluckt, als Tsino siedend heiß auffiel, dass keiner von beiden daran gedacht hatte eine der Fackeln zu schnappen.

  • Flucht

    Tsino sah vor sich unerwartet einen Schemen hinter einem Baum hervorspringen und machte vor Schreck einen Satz in die Luft. Ein Knüppel sauste schwungvoll unter ihm hinweg und fuhr genau durch die Stelle, an der bis eben noch seine Beine gewesen waren. Tsino kam auf und rannte ungebremst weiter.

    Wäre er nicht abgesprungen, der Knüppel hätte ihm die Kniescheiben zerschmettert. In der Nähe hörte er Gatorp keuchen. Die Goblins hatten auch ihn noch nicht zu Fall gebracht. Atemlos rannten sie weiter, während das aggressive Krächzen hinter ihnen mit steigendem Abstand leiser wurde. Im Dunkeln der Nacht unsichtbare Äste peitschten Tsino mit ihren hölzernen Krallen ins Gesicht. Er riss die Arme hoch, um das Gesicht zu schützen.

    Seine einzige Orientierung war das keuchende Atem Gatorps. Er war darauf konzentriert ihn nicht zu verlieren, als ihn aus dem Nichts im vollen Lauf etwas am Knöchel traf.

    ‚Ein Goblin!’, fuhr es Tsino im Sturz durch den Kopf. Doch anstatt auf dem weichen Waldboden zu landen, prallte er weit über der Höhe des erwarteten Erdbodens gegen die kahle, harte Oberfläche eines Steines. Sein Schwung lies ihn unkontrolliert darüber schlittern.

    Tsino versuchte sich an irgendetwas festzuhalten, um seinen unfreiwilligen Abgang zu bremsen, mit dem einzigen Erfolg, dass er sich überschlug und schmerzhaft das Schulterblatt und den Arm am unnachgiebigen Felsen stiess. Sein Ellenbogen begegnete so hart dem Stein, dass ihm ein betäubender Schmerz bis ins Handgelenk und die Achsel schoss. Im nächsten Moment traf sein Gesicht auf den Stein.

    Der Schlag gegen seine Stirn trug nicht dazu bei ihm dabei zu helfen die Orientierung wieder zu erlangen. In dem Veresuch sich so schnell wie möglich wieder aufzurichten, stiess er die flachen Hände gegen den felsigen Untergrund, doch schätzte er seinen fatalen Schwung falsch ein und kippte zur Seite weg, anstatt wieder in die Senkrechte zu kommen.

    Schon dachte er nun auch mit dem Rücken unsanft über den Stein zu schleifen, doch statt dem Aufprall erwartete ihn nur der Sturz ins bodenlose. Schreck durchzuckte ihn im selben Moment, in dem ihm ungewollt ein lauter Schrei entfuhr. Hilflos ruderte er in der Luft mit Armen und Beinen. Sein Herz machte einen Hüpfer, als er sich von dem irrsinnigen Gefühl des freien Falls mitgerissen fühlte. Einen Moment später traf er rücklings auf Wasser.

    Kaum hatte er den Aufprall verdaut, wurde ihm klar, dass er sank. Panisch wedelte er mit Armen und Beinen, um sich wieder nach oben zu kämpfen. Aber wo war oben? Ein unter Wasser sinnloser Angstschrei entwich seiner Kehle. Große Luftblasen entstiegen seinem Mund, drückten sich gegen seine Brust und strichen seine Hüfte entlang auf ihrem Weg nach oben. Hinter ihm war oben!

    Er machte sich keine Gedanken darum, wie es ihn im Wasser so wild hatte umdrehen können und kämpfte um sein Überleben. Mit den Armen rudernd wand sich Tsino aus seiner Bauchlage herum und drückte sich unter Stress noch etwas Luft aus dem Bauch nach draußen. Die entwichene Luft zeigte ihm erneut, wohin er sich wenden musste. Den Luftblasen folgend, schaffte er es endlich den Kopf nach oben auszurichten und drückte sich mit verzweifelten Schwimmschlägen in diese Richtung. Die Luft, die er zur Orientierung aus sich herausgepresst hatte, fehlte ihm nun. Schon fühlte er den unwiderstehlichen Drang tief einzuatmen, obwohl die Welt um ihn herum nur aus Dunkelheit und Wasser bestand.

    Ebenso unterwartet wie willkommen durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. Gierig sog er die Luft ein und hustete das Wasser wieder heraus, das er mit verschluckte. Sogar die kalte Nachtluft, die ihn mit einem unerbittlichen Hauch mitten ins Gesicht schlug, war ihm in dem Moment willkommen. Hauptsache Luft.

    „Tsinooo!“ Gatorps vertraute Stimme schallte durch die Nacht.

    „Hier!“, versuchte Tsino zu antworten, hustet aber nur noch einen Schwall Wasser und kämpfte, mit den Beinen strampelnd, darum oben zu bleiben. „Hier!“, versuchte er es noch einmal.

    Unweit von ihm stürzte etwas mit einem lauten Klatschen ins Wasser.

    „Gatorp?“, würgte Tsino. Platschende Geräusche im Wasser, die auf ihn zuhielten. Er schnappte ein paar Mal nach Luft, bis er wieder rufen konnte. „Gatooorp!“

    „Hier.“ Gatorps Stimme kam aus derselben Richtung wie das energische Platschen, das weiter auf ihn zuhielt. Es musste Gatorp sein, der sich da gerade durch das Wasser in seine Richtung kämpfte. Die Strömung drehte Tsino, ohne dass er es verhindern konnte und im Dunkel der Nacht verlor er dabei komplett die Orientierung. Tsino hustete zur Antwort. Er hatte einfach keine Luft mehr für Worte.

    „Ich bin dir hinterher gesprungen, um dich zu retten. Lass uns abhauen!“ Gatorps raue Stimme klang in Tsinos Ohren wie die reinste Wohltat. Tsino keuchte nur zustimmend und setzte sich ohne weitere Absprachen ungeschickt in Bewegung. Er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden musste und peilte einfach die nächstbeste Richtung an. Irgendwo bei sich platschte im Dunkeln das Wasser, als auch Gatorp zum Schwimmen ansetzte. Die Strömung zerrte ungeduldig an Tsino. Seine Minenausrüstung – eine stabile Lederhose mit schweren Schuhen, die Hacke auf seinem Rücken und das Erz in den Beuteln an seinem Gürtel – drohte ihn in die Tiefe zu ziehen. Tsino japste nach Luft und ruderte mit seinen lahmen Armen durchs Wasser. Die Minenschicht hatte ihn bereits ausgelaugt, doch das hier machte den Feierabend zur reinsten Totur.

    Und immer gab es die Möglichkeit einfach aufzugeben. Sich die Arme auszuruhen, bequem dem Nichtstun zu überlassen und zu versinken. Das Wasser würde sein übriges tun, seine Lungen füllen und er konnte sich endlich zur Ruhe legen. Stets schwebte dieses Versprechen des ewigen Friedens über ihm und jeder seiner Entscheidungen.

    Umso entschlossener trat Tsino nun mit seinen Beinen nach dem Wasser. „Weiter!“, japste er und wusste nicht, ob er sich selbst oder Gatorp meinte.

    Unerwartet berührte ihn etwas am nackten Oberarm und liess ihn mitten in seinen Schwimmversuchen zusammenzucken. Es fühlte sich an wie ein Handrücken, der ihm über die Schulter spielte und sich an seinem Schlüßelbein entlang tastete. Eine Empfindung, die unter anderen Umständen angenehm gewesen wäre, doch in dieser Situation den reinsen Ekel in ihm auslöste.

    Die Strömung trieb ihn in dem Moment, in dem er seine Schwimmzüge vor Schreck unterbach, unaufhaltsam vorbei. Das Etwas strich ihm vom Schlüßelbein über die Kehle und erst als es dem sich im Wasser hilflos windenden Tsino über die Wange kratzte, wurde ihm klar, dass es sich mitnichten um eine Hand, sondern um eine Art von Pflanze handeln musste.

    Verzweifelt warf er sich nach vorn, um danach zu packen. Seine Finger schlossen sich um sehnige Blätter, einen harten Stiel und raue Halme, die ihm zum Dank für den Handschlag in die Haut schnitten, doch er achtete nicht darauf. Er freute sich nicht einmal darüber mit seiner Vermutung über Pflanzen richtig gelegen zu haben. Mit der Kraft der Verzweiflung zog er sich nach vorn und griff auch mit der anderen Hand nach der langen Pflanze, um sich an ihr entlang zu ziehen wie an einem Seil – dem Ufer entgegen, wie er hoffte.

    Er spürte wie einzelne Pflanzenteile geräuschvoll unter seinem Griff rissen. Rasch liess er mit der zweiten Hand los und packte noch einmal zu. Er hoffte im Dunkeln blind ein stabileres Büschel zu greifen. Diesmal schien die Vegetation zu halten und er zog sich noch ein Stück zu ihr hin, während das fließende Wasser sein Bestes tat ihn daran zu hindern sich in Sicherheit zu bringen. Seine strampelnden Füße verfingen sich unter Wasser immer wieder an etwas, das sich ebenso schnell von ihm löste, wie er es berührte. Wie ein fetter Fisch, der nach dem versehentlichen Tritt davon schwamm. Oder eine Sandbank, die er mit seinem Strampeln aufwühlte. Die Idee den Grund gefunden zu haben durchflutete ihn mit so viel hoffnungsvoller Euphorie, dass er am liebsten gejubelt hätte.

    „Gatorp!“, rief er laut.

    Die platschenden Geräusche des schwimmenden Freundes waren dicht bei ihm. Tsino krallte sich mit einer Faust an den Pflanzen fest so gut er konnte und stemmte die Füße gegen das nachgebende Gemisch unter sich, das er für das Ufer hielt. Dann lies er mit einer Hand die Pflanzen los, um sie nach Gatorp auszustrecken. Er konnte sich nur an den Geräuscnen orientieren und traf mit dem Handrücken irgendetwas, packte aber nicht schnell genug zu, um ihn zu fassen.

    „Tsino!“, kam es erstickt aus dem Wasser. Die Unruhe in seiner Stimme und die hektischen Geräusche im Wasser sagten Tsino, dass Gatorp gerade seinerseits versuchte Tsino zu fassen zu bekommen, von dem er nicht sehen konnte, das er ihm in der Dunkelheit helfend die Hand entgegen reckte.

    ‚Es kann doch nicht sein, dass wir weniger als eine armeslänge nebeneinander sind und uns einfach nicht treffen!’

    Endlich bekam Tsino Gatorps Unterarm zu fassen, doch er konnte dessen dicke Muskeln nicht mit einer Hand gepackt halten und glitt restlos ab. Wahrscheinlich hatte er Gatorp gerade mit den Fingernägeln versehentlich den Arm zerkratzt. Die Pflanzen knirschten bereits bedrohlich unter seinem Gewicht, während er den ausgestreckten Arm mit der geöffnete Hand weit in Gatorps vermutete Richtung streckte. Die Strömung trennte sie während ihren verzweifelten Versuchen unaufhaltsam voneinander.

    Im letzten Moment schlug erneut etwas gegen Tsinos Handfläche, der sofort zupackte. Wie bei dem Kinderspiel, wo ein Spielteilnehmer dem anderen mit dem Finger in die Handfläche tippte und der Spielpartner versuchen musste die Finger schneller zu packen, als der Mitspieler sie wegziehen konnte. Nur, dass das hier kein Spiel war. Es war todernst.

    „Ich hab dich!“, keuchte Tsino erleichtert.

    Tsino spürte die Knochen von Gatorps Handgelenk zwischen seinen fest zugedrückten Fingern. Von Gatorp kam ein unterdrückter Aufschrei. Wahrscheinlich zerquetschte Tsino, der es nur gut meinte, ihm gerade das Handgelenk. Aber er würde einen Beliar tun den Freund jetzt wieder loszulassen und der Strömung zu überlassen. Tsino spannte die Muskeln in den Armen mit aller Kraft an, die er noch aufbringen konnte und versuchte sich selbst mitsamt Gatorp an der Hand ans Ufer zu ziehen.

    Die Pflanzen knirschten mit dem Geräusch, das eine Wurzel machte, wenn sie gerade aus dem Boden brach, doch noch hielt das Büschel in Tsinos Hand, das ihm mit unrgelmäßig rau gezahnten Blatträndern durch die Haut ins Fleisch schnitt.

    Gatorp wand die Hand in Tsinos Griff. Einerseits, um dem Schmerz zu entkommen, andererseits um seinereits Tsinos Hand fest packen und sich selbstständig festhalten zu können. Zu spät wurde ihm bewusst, das Gatorp in seinem Griff abrutschte. Er konnte weder nachfassen, noch loslassen und so musste er miterleben, wie ihm die Hand des Freundes in dem kalten Wasser langsam entglitt.

    „Halt dich... fest.“ Tsino hatte sie endlich so weit in Richtung Ufer gezogen, dass es nur noch eine Frage von Sekunden war, bis Gatorp selbst den Grund unter den Füßen spürte, oder an Tsino vorbei selbst nach den Pflanzen greifen konnte. Tsinos Arme zitterten unter der Anstrengung und lange würde er das nicht mehr aushalten.

    Nur noch ihre Finger krallten sich ineinander. Nach einem weiteren Schwimmzug von Gatorp rutschten sie auch an dieser Stelle auseinander und Tsino spürte nichts mehr an der Hand außer kaltes Wasser. Die platschenden Geräusche entfernten sich stromabwärts und Tsino starrte blind in diese Richtung.

    ‚Leb.’, sagte eine Stimme in ihm. ‚Vergiss ihn und rette dich. Dann überlebst du.’

    Tsino lies die Pflanzen los und stiess sich kraftvoll vom Boden ab. Er würde nicht mit der Schuld leben wollen sich selbst um den Preis seines Freundes zu retten und sich den Rest des Lebens zu fragen, was aus ihm geworden war. Trieb der Fluss sie beide weg, dann sollte er sie beide haben. Sie trennten sich nie.

    „Gatorp.“, rief Tsino ins Dunkle, der sich mit entschlossenen Bewegungen hinter Gatorp her arbeitete. „Tsi-“, Gatorp stockte, als sie im Wasser aufeinander prallten, da sich der eine die Strömung hinauf und der andere die Strömung hinunter gerarbeitet hatte. Um sich nicht wieder zu verlieren griff Tsino nach Gatorp, der seinerseits versuchte Tsino festzuhalten. Ein kurzes Gerangel entstand bis sie sich endlich wortlos darauf einigen konnten, dass Gatorp Tsino, der der schlechtere Schwimmer war, unter dem Arm fasste. Gatorp bestimmte mit dem freien Arm den Kurs und trieb sie mit kräftigen Beinschlägen voran. Tsino wedelte einfach mit dem feien Arm hin und her, um sich Auftrieb zu verschaffen und strampelte mit seiner restlichen Kraft fleißig mit den Beinen, um ihr Vorankommen zu unterstützen. Hin und wieder musste er in seinen Bewegungen inne halten, damit er den Kopf aus dem Wasser drücken und nach Luft schnappen konnte. Dann strampelte er wieder, bis er erneut so weit abgesunken war, dass er den Kopf hochdrücken musste.

    Tsino spürte, wie ihm das verschluckte Wasser in Hals und Nase brannte. Er fragte sich, wie lange sie den anstrengenden Kampf noch aushalten mussten und ob sie je wieder das Ufer finden würden. Gatorp neben ihm hob sich unerwartet wie von einer unsichtbaren Hand getragen ein Stück aus dem Wasser. Keinen Moment danach zog er Tsino an dessen Arm in die Höhe. Gatorp hatte Grund gefunden und half Tsino dabei sich aufzurichten. Der klopfte Gatorp dankbar auf die Schulter und taumelte Wasser hustend ein Stück vorwärts, weg vom Flußwasser, das im Dunkeln rauschte.

    Das Wasser entliess sie undankbar aus seinem nasskalten Griff, als sie hinauswateten. Kraftlos stapften sie über den Grund und brachten etwas Abstand zwischen sich und die rauschende Flut, ehe sie sich vollkommen erschöpft zu Boden fallen liessen. Danach taten sie nichts weiteres als dort zu liegen und nach Luft zu schnappen wie zwei Fische, die aufs Land gefallen waren.

    Tsino spürte eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedmaßen und in seinem Kopf rauschte es. Geradezu als befände er sich noch immer im Wasser, das versuchte ihn nach unten zu ziehen. Nach der unfreiwilligen Tortur war er klitschnass. Aus seinen Haaren rann es über sein Gesicht und seine Kleidung klebte ihm klatschnass am Körper. Es wäre ein Wunder Innos', holten sie sich in dem Zustand keine Erkältung.

    Ewig liegen bleiben konnten sie so nicht.

    Im Dunkeln wären sie leichte Beute für alles und jeden. Sie mussten wissen, wo sie sich befanden. Ihm kam der Gedanke an Feuer. Das würde ihnen zur Sicht verhelfen und etwas Wärme spenden. Tsino wusste er musste aufstehen, doch gleichzeitig wollte er über alles einfach nur liegen bleiben und sich ausruhen.

    ‚Ausruhen... Für immer.’

    Tsino dachte an Gatorp, der keinen Steinwurf entfernt am Boden lag und mindestens genauso erschöpft vom Schwimmen, der Flucht und der Minenschicht war. Er würde auch etwas brauchen, an dem er sich die Kleider trocknen konnte, wenn sie nicht beide den Tod riskieren wollten. Tsino zwang seine schmerzenden Arme unter den Körper und drückte sich mit schier übermennschlicher Kraft, wie es ihm schien, in die Hocke. Wenn er schon um seiner selbst willen nicht überleben wollte, dann zumindest um Gatorps Willen.

    Er hatte noch ein paar Feuersteine in der Tasche, die ein erster Schritt auf dem Weg zu einem Feuer waren. „Hast du noch deine Äste?“, fragte Tsino, während er sich die Feuersteine aus ihrem Beutel in die Hand schüttelte. Gatorp antwortete zuerst nicht.

    „Gatorp!“

    Endlich kam ein unwilliges Stöhnen durch die Dunkelheit. „Hast du noch deine Äste, Gatorp?“, fragte Tsino erneut, der sich am liebsten wieder hingelegt hätte. „Die Äste“ waren an einem Ende in Pech getaucht, um als Fackel verwendet werden zu können. Tsino und Gatorp sagten trotzdem weiterhin „Äste“ zu den archaischen Fackeln.

    „Nimm sie dir einfach.“, kam es erschöpft von Gatorp. Tsino kroch im Dunkeln zu ihm hinüber und tastete nach Gatorps Gurt. Es dauerte eine Weile, bis er sich in den Habseeligkeiten des Freundes zurechtfand.

    Seine Hand erfühlte einen schlanken, hölzernen Stab, den er in die Faust nahm. „Lass die Finger von meiner Hacke.“, machte Gatorp müde. „Ups.“ Tsino unternahm noch einen Versuch und fand endlich mit der Hand die Form eines knorrigen Astes. Er legte ihn vor sich auf den Boden. In jeder Hand einen Feuerstein schlug er fleißig Funken, wobei ihm bei jedem Schlag die Hand schmerzte, mit der er in die Pflanzen gefasst hatte.

    Zum Glück bewahrten Tsino und Gatorp Dinge, die vorzugsweise nicht nass werden sollten in Wachstücher eingeschlagen auf. Es war schon eine Kunst für sich die Steine so aneinander zu schlagen, dass der Funke in die richtige Richtung flog. Doch mitten in der Nacht, nach einer anstrengenden Minenschicht, einer Flucht vor Goblins und einem lebensbedrohlichen Bad im Fluß, dazu in nasser Kleidung und am ganzen Leib zitternd eine Fackel anschlagen zu wollen, die man im Dunkeln nicht einmal sah, war noch einmal eine andere Form der Kunst. So brauchte Tsino mehrere Anläufe, ehe endlich ein Funken an dem Pech kleben blieb, dort heran wuchs, zur Flamme wurde und schließlich eine hell leuchtende Fackel einsatzbereit am Boden lag.

    Die Stellen, wo ihm der scharfkantige Feuerstein gegen die Hand drückte, war von den Pflanzen bereits zerschunden und brannte bei den Bewegungen umso mehr. Erleichtert lächelnd packte er die Fackel in die schmerzende Hand.

    Tsino verstaute seine überlebenswichtigen Feuersteine wieder und wärmte sich die klammen Hände an der Fackelfamme. Erleichtert lächelnd packte er die Fackel in die schmerzende Hand. Doch die Freude über die aufgekommene Flamme währte nicht lange, denn schon beschlich ihn das Gefühl beobachtet zu werden.

    Er richtete er sich auf und hielt Gatorp die Hand hin. Es dauerte einen Moment, bis der am Boden Liegende sie ergriff und sich eher widerwillig hochziehen liess. „Wenn wir etwas Holz finden, können wir Feuer machen.“, meinte Tsino hoffnungsvoll.

    „Immer praktisch veranlagt, mh?“, machte Gatorp rauh. Seine Stimme klang rauh dabei. Tsino kannte den Tonfäll längst und wusste dass die Stimme seines Freundes diesen Klang nur annahm, wenn irgendeine heftige Stimmung ihn erfasst hatte. Das Abenteuer schien seine Nerven schwer mitgenommen zu haben und er brauchte einfach noch etwas Zeit, um wieder herunter zu kommen. Gatorp sagte: „Wir sollten so schnell wie möglich ins Alte Lager zurück.“

    „Weist du denn, in welche Richtung wir müssen? Ich habe schon bei meinem Sturz komplett die Orientierung verloren.“, gab Tsino zu.

    Gatorp wrang sich das Wasser aus dem dichten, rotblonden Bart und meinte dann: „Nein, keine Ahnung. Aber wir können hier nicht länger herumstehen und warten, dass uns jemand sieht. Goblins, Banditen und ihre Schürfer können uns hier ebenso leicht finden wie unsere eigenen Leute.“

    „Meinst du, Goblins können schwimmen?“, gab Tsino zu bedenken, „Die meisten Lebewesen in der Kolonie meiden eigentlich das Wasser.“

    Gatorp gab mit rauher Stimme zurück: „Ich will es nicht auf die Weise herausfinden müssen. Lass uns sofort einen Rückweg suchen. Wenn wir im Alten Lager sind, können wir uns immer noch wegen den nassen Kleidern Gedanken machen.“

    Etwas verloren sah Tsino sich um und fragte schließlich: „In welche Richtung sollen wir gehen?“

    Gatorp warf ebenfalls einen kritischen Blick um sich und meinte dann: „Das ist die Frage. Den Fluss durchqueren kommt für mich kein zweites Mal in Frage.“ Gatorp schüttelte sich bereits beim Gedanken daran, dass die Tropfen in alle Richtungen flogen. „Für mich auch nicht.“, stimmte Tsino zu, der sich wegen der Aufregung im Wasser langsam ziemlich dämlich vor kam. Was hatte ihn nur geritten Gatorp zu packen, oder ihn ans Ufer ziehen zu wollen? Er kam im Wasser gut allein zurecht, selbst mit einer Hacke auf dem Rücken. Wahrscheinlich hatte er ihn eher behindert als ihm mit dem Versuch geholfen ihn an Land zu ziehen. Gatorp war es, der ins Wasser gesprungen war, um Tsino zu retten.

    Gatorp sprach das Offensichtliche aus: „Also scheidet die Richtung schon einmal aus.“

    „Welche Möglichkeiten haben wir noch?“, fragte Tsino und schwenkte die Fackel hin und her, damit ihr Schein die Chance hatte ihnen etwas mehr ihrer Umgebung zu enthüllen. Die Wasseroberfläche warf das Licht abweisend funkelnd zurück. In die anderen Richtungen reichte der Fackelschein nicht so weit, also gingen sie am Ufer ein paar Schritte hin und her, um ein genaueres Bild ihrer näheren Umgebung zu erhalten. Nach etwa einem dutzend Schritt endete das Ufer parallel zum Fluß an einer senkrecht nach oben aufragenden Felswand. Gatorp strich mit den Händen prüfend darüber, während Tsino im leuchtete. „Das ist viel zu steil.“ , stellte Gatorp fest, „Wollten wir hier lang, müssten wir klettern.“

    Er zog die Hacke von seinem Rücken und tat damit das sinnvollste, das ein Minenarbeiter mit der Kombination aus Hacke und Berg anzufangen wusste: Er schlug dagegen. Das Werkzeug hinterließ mit sprühenden Funken eine Narbe im Fels. Gatorp rammte die Spitze seiner Hacke noch einmal in den Felsen und hebelte sie auf der Suche nach Halt vor und zurück. Ein faustgroßer Steinbrocken löste sich dabei, verfehlte nur knapp seine Kniescheibe und fiel dumpf in den Sand vor ihren Füßen, der bereits einige Wassertropfen ihrer nassen Kleidung aufgesogen hatte. Die Hacke noch immer in der Hand, gab Gatorp sein Urteil ab: „Selbst ein geübter Bergsteiger bräuchte hier gute Ausrüstung, um überhaupt hoch zu kommen. Da haben wir beiden keine Chance.

    Das begrenzt unsere Wege auf zwei Richtungen: Flußaufwärts oder Flußabwärts.“, sagte Gatorp und Tsino gab ihm mit einem Nicken recht. Tsinos Fackelflamme stellte sich in seiner schmerzenden Hand quer, als ein frostkalter Windhauch sie anbliess.

    „Also bleibt nur noch eine Frage...“ Tsino musterte erst die unbeugsame Felswand, dann Gatorp, der sich in seiner noch immer nassen Kleidung zu Tsino umwandte. „Flußauwärts oder Flußabwärts?“

    „Ich bin für...“, setzte Gatorp an, ehe sein Blick plötzlich über Tsinos Schulter hinweg glitt.

    Schlagartig spannte sich seine Haltung an. „Schürfer!“ Er legte die zweite Hand an die Hacke und brachte sie in Anschlag. Zeitgleich fuhr Tsino herum. Beide stockten, als sie einen Fremden mit verschmitzten Lächeln vor sich sahen. Das unruhig zuckende Fackellicht strich über seine grüne Hosen.

    „Buddler.“, machte Gatorp beim Anblick der Hosenfarbe erleichtert und liess die Hacke zurück in die Rückenhalterung rutschen.

  • die Geister, die ich rief

    Er war auffallend blass. Sein linkes Ohrläppchen war von einem Goldohrring durchstochen, an dem ein kleiner Anhänger baumelte und auch um den Hals trug er mehrere Anhänger, was auf einen abergläubischen Menschen schliessen lies. Waffen und Hacke fehlten ihm. Dunkle Locken spielten um seinen Kopf und fielen ihm immer wieder in die hellblauen Augen, die selbst dann lächelten, wenn sein Mund es ausnahmsweise nicht tat. Im Dunkeln wirkte sein Haar so schwarz wie die Nacht. Tsino wäre nicht überrascht, wenn es bei Tageslicht eine lebhafte Farbe aufwiese. Kastanienbraun, Mahagoni, oder Aubergine zum Beispiel.

    „Wer bist du?“, fragte Tsino, der die flackernde Fackel in seiner schmerzenden Hand über seinen Kopf hielt, damit sie sich in deren warmen Schein unterhalten konnten.

    „Teto.“, kam die fröhliche Antwort. Der schwarzhaarige Fremde lächelte, als freute er sich darüber seinen eigenen Namen zu kennen.

    „Was machst du hier?“, fragte Gatorp und Teto schien schlagartig überrumpelt. Endlich sprach er, wenn auch zögernd, als sei er sich selbst nicht ganz sicher: „Ich bin wegen einem Schatz hier.“

    „Ein Schatz?“, fragte Tsino zurück. Seine Stimme schwankte zwischen Gier und Skepsis.

    Gatorp stellte sich neben Tsino: „Ein Schatz?“, hakte auch er nach und strich sich durch den dichten Bart, aus dem noch die Wassertropfen rannen.

    Teto nickte langsam. „Ja, hier in der Nähe ist ein Schatz versteckt.“, wiederholte er in bedächtigen Tonfall.

    Tsino stutzte. Mit einer Stimme, die trocken vor Skepsis war, zählte er ungebeten auf: „Du bist also ein Schürfer, der zufälligerweise die genaue Lage eines Schatzes kennt und mitten in der Nacht hier herum stolpert, um ihn zu bergen und dabei bist du bereit den nächstbesten Fremden, die dir begegnen – uns – das zu verraten? Machst du dir gar keine Gedanken darüber, dass wir ihn einfach ausgraben und mitnehmen könnten?“

    „Wie kommst du darauf, dass er ein Schürfer ist?“, fragte Gatorp Tsino, noch ehe Teto antworten konnte. Tsino gab zurück: „Hast du sein Gesicht schon einmal im Alten Lager gesehen?“ – „Nein.“ – „Frage beantwortet.“

    Teto machte nach wie vor einen fröhlichen Eindruck und blieb von Tsinos angeborener Skepsis vollkommen unbeeindruckt, als er sagte: „Ich verrate euch, wo er liegt – wenn ihr ihn ausgraben wollt.“

    Tsino wandte sich wieder Teto zu: „Und warum machst du das nicht selbst?“ In der skeptischen Tonlage, in der er diese Frage abfeuerte, hätte er genauso gut „Und wo ist der Haken?“ fragen können.

    „Ich kann nicht.“ Die Verzweiflung, die sich bei diesen Worten in Tetos bekümmerten Gesicht zeigte und in seiner Stimme niederschlug, war so aufrichtig, dass sie Tsinos Herz rührte. „Und warum nicht?“, fragte dieser ungewollt mitfühlend zurück.

    „Ich kann nicht, weil...“ Jetzt zeigte sich ein eindeutiges Zögern bei ihm, ehe er in leiseren Tonfall endete: „...weil ich es allein nicht schaffe.“ Hoffnungslos sah er zwischen Gatorp und Tsino hin und her. Die tauschten ebenfalls Blicke und jeder las die Frage aus den eigenen Gedanken im Gesicht des Gegenübers: Was hielt ihn davon ab?

    Teto lächelte zaghaft, als er sprach: „Ich bin reich, seht ihr? Und habe doch nichts von meinem Reichtum, so lange alles unter der Erde begraben liegt. Bitter... nicht wahr?“

    Tsino und Gatorp sahen nahezu gleichzeitig zu ihm hinüber und betrachteten ihn eingehend auf Zeichen seines Reichtums: Er trug stabile, aber gut genutzte Schuhe. Die Hose war nicht weiter nennenswert. Die Beutel am Gurt waren nicht von Erz prall, sondern sahen eher aus, als führe er eine sinnvolle Menge an überlebenswichtigen Gegenständen mit sich. Waffen und Hacke gingen ihm komplett ab. Um den Hals hatte er verschiedene Anhänger. Einer davon stach besondes hervor: Eine links gedrehte Muschel.

    Selbst Tsino wusste, dass Muscheln und Schnecken normalerweise nur rechts gedreht wuchsen. Die helle Muschelschale verriet selbst in dem warmen Fackellicht eine kühle Färbung mit einem eindeutigen Einschlag von Blau. Die entgegen der Naturgesetze gewachsene Form war so auffällig, dass sie selbst unter Hunderten ihrer eigenen Art heraus stechen konnte. Obwohl selten wie ein Albino, sah sie deswegen nicht unermesslich wertvoll aus.

    Lediglich an seinem linken Ohrläppchen blitzte ein einzelner Goldohring wie das dünne Versprechen nach noch größerer Menge.

    „Stimmt etwas nicht?“, fragte Teto besorgt. Ihm war es sichtlich unangenehm so eingehend gemustert zu werden.

    „Du bist reich?“, fragte Tsino trocken zurück.

    Tetos Gesichtsausdruck hellte sich auf. Er sprach zuerst sehr eilig: „Ich weis, was ihr jetzt denkt... ‚Dieser Mann sieht so ärmlich aus, wie kann er nur von sich behaupten reich zu sein? Der muss ja ein Spinner sein!’“ Sorgfältig betonte Teto, dessen Anhänger im Fackellicht blitzten, jedes Wort, als er eindringlich weitersprach: „Ich weis genau, dass hier Schatz liegt. Mehr als das weis ich sogar, wo genau der Schatz vergraben ist und schwöre bei meiner Seele: könnte ihn sogar blind finden.“

    Das Versprechen, das er da gerade bei seiner Seele machte klang so von Herzen kommend, dass Tsino stockte. Er selbst war jemand, der niemals leichtfertig etwas versprach. Daher hatte er auch grössten Respekt vor Tetos Worten. Deutlich grösseren Respekt wie Gatorp, der sich davon nicht so sehr beeindrucken liess.

    In Tetos Gesicht flammte für einen Augenblick ein zufriedener Ausdruck auf, ehe er die beiden eher verunsichert anblickte. „Wollt ihr den Schatz bergen?“, fragte er.

    Gatorp gab mit einem Schnauben zurück: „Was ist denn das für eine Frage? Wenn hier ein herrenloser Schatz herum liegt, wird sich den jeder holen wollen.“

    Doch Tsino war mit seiner Rechnung noch nicht fertig: „Nur mal angenommen...“, setzte er vorsichtig an, „Wir heben den Schatz aus... und...“ Er sprach seine Worte bewußt langsam aus, ehe er zum entscheidenden Punkt kam: „Bringen dich um und hauen mit dem ganzen Schatz ab?“

    Teto stutzte nur einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

    In dem Moment war es an Tsino zu stutzen. Alles hatte er erwartet – am ehesten den plötzlichen Ausbruch von Gewalt – aber nicht einen Lachanfall. Auch Gatorp fummelte jetzt nervös mit der nassen Hand an seiner Hacke.

    „Das gefällt mir gar nicht.“, murmelte Gatorp leise zu Tsino hinüber und sprach damit einen Gedanken aus, den dieser ebenfalls hatte. Es war nicht so, dass er Teto fürchtete, der mit seinem schüchternen Lächeln so wirkte, als könne er keiner Fliege etwas zu Leide tun. Es war vielmehr, dass er nach dem Ausbruch nicht wusste, was er zu erwarten hatte.

    Teto lachte sicht erst einmal aus und schüttelte sich dabei ein paar Mal dass sein Muschelanhänger klickerte. Wäre nicht diese Spannung in der Luft gewesen, es wäre ganz erfreulich gewesen einen Menschen in der Kolonie so herzlich lachen zu hören.

    Endlich hatte Teto sich so weit beruhigt, dass er wieder vernünftig Sprechen konnte. Doch sein Lachanfall schwebte noch wie ein irrsinniges Grinsen um seine Mundwinkel, als er Tsinos Frage beantwortete:

    „Das Risiko gehe ich ein!“ In seinen tränenfeuchten Augen blitzte es auf wie sein Goldohrring im Fackelschein.

    Mit jedem Wort von Seiten Tetos löste sich Tsinos anfängliche Skepsis langsam auf. Mittlerweile meldete sich ein leises Stimmchen in seinem Kopf, das ihm eindringlich zuflüsterte: ‚Was, wenn es wirklich einen Schatz gibt?’ Als hätte dieser plötzliche Gedanke den Anstoß gegeben, setzte sich sein logisches Denken in Bewegung: Dann wäre das ihre Chance zufällig reich zu werden. Und sie wären schön blöd diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.

    Teto zeigte ein nahezu schüchternes Lächeln, als er anbot: „Ich kann euch die Stelle zeigen... Wenn ihr mir helft.“

    Gatorp stöhnte auf, als sich Tsinos Skepsis als gerechtfertigt erwies. Natürlich musste es einen Haken dabei geben. „Also schön.“, machte Tsino genervt, „Was willst du?“

    Teto: „Nicht mehr als das, was ich bereits sagte: Ich zeige euch die Stelle und ihr grabt alles aus.“

    Tsino versuchte nicht aufgeregt zu klingen, als er dazwischen fragte: „Und sobald der Schatz gehoben ist, teilen wir ihn unter uns auf?“ Tetos unschuldiges Gesicht zeigte nur für einen Moment so etwas wie Überraschung, ehe er zögerlich lächelte. Doch schliesslich nickte er fest und sagte: „Ihr müsstet aber die Werkzeuge besorgen, wenn ihr den Schatz wirklich ausgraben wollt.“

    „Das ist alles? Das versteht sich doch von selbst.“ Gatorp meinte es nicht hilfsbereit. Eher wie ein Geschäftspartner, der einen Fakt vorträgt. Doch es reizte Teto zu einem weiteren Lächeln. Halb dankbar, halb zufrieden. Das Schatzfieber schien Gatorp gepackt zu haben. Und wenn Tsino ein kleines bisschen ehrlich zu sich selbst war: Sein eigenes Herz flatterte auch vor Aufregung.

    „Also schön. Wo liegt der Schatz?“

    Gatorp schaute Tsino blöd an, als dieser wie aus dem Nichts die Meinung geändert hatte.

    Doch Teto lächelte gewinnend: „Kommt mit. Ich zeige euch die Stelle.“

  • Unterwegs

    Obwohl es stockfinstere Nacht war, bewegte sich Teto mit traumwandlerischer Sicherheit und konnte Gatorp und Tsino auf jedes Hindernis in ihrem Weg aufmerksam machen, noch ehe es in den Lichtschein der Fackel rückte. Die beiden mühten sich in ihrer triefnassen Kleidung hinterher.

    Bei jeder Gelegenheit flüsterten Gatorp und Tsino in Tetos Rücken miteinander. Für die beiden stand fest: Sobald sie am Versteck angelangt waren, würden sie um einen Anteil am Schatz feilschen. Unterwegs legten sie ihre Rollen für das kommente Gespräch fest. Ihr geflüstertes Gespräch kam ins Stocken, als sie das bisher härteste Hindernis – ein gestürzter Baum – auf ihrem Weg überwinden mussten:

    Seine Krone war genau an der Uferseite gebrochen, an der sie sich entlang kämpften. Da sie der gestürzten Krone weder über die Felswand auf der einen Seite, noch durch den Fluß auf der anderen Seite ausweichen konnten, blieb ihnen Nichts anderes übrig, als sich auf direktem Weg durch das Gewirr aus Ästen und Zweigen zu kämpfen. Tsino musste besonders vorsichtig sein mit seiner Fackel nicht versehentlich das trockene Gestrüpp in Brand zu setzen, während sie selbst darin hingen. Vor einem plötzlichen Brand würde sie auch ihre nasse Kleidung nicht bewahren.

    Auf der anderen Seite empfing Teto sie mit einem warmen Lächeln, doch über Tsinos nasse Haut strich eine Gänsehaut und auch die Fackelflamme bebte. „Ab hier ist es nicht mehr weit.“, versprach Teto, der sie zielstrebig weiter führte.

    Es stellte sich heraus, dass ihr Ziel nicht einmal so weit von der Stelle entfernt lag, wo Tsino versucht hatte sie beide mit einem Büschel Pflanzen aus dem Fluß zu ziehen. Im Fackellicht offenbarte sich dichtes Schilfgras. Sicher war es eines der geknickten und in den Fluß ragenden Blätter gewesen, das Tsino auf die Rettung aufmerksam gemacht hatte.

    Die ganze Ansammlung sah an einer Stelle aus, als habe eine Peitsche durch den grünen Wall geschlagen. Zwischen dem aufgewühlten Boden sah man geknickte Halme, ausgerissene Blätter und eine gebrochene Wurzel. Tsino erinnerte sich nur ungern an den Kampf, den sie an dieser Stelle ausgetragen hatten. Seine Kleidung war immer noch durchnässt, was die Kälte der Nacht nicht angenehmer zu ertragen machte.

    „Der Schatz ist hier ganz nah.“, versprach Teto und schwebte leichtfüßig voraus. Gatorp und Tsino stapften in ihren nassen Klamotten hinterher.

    „Weist du, wo wir sind?“, fragte Gatorp und seine Hand fand den Weg durch seinen dichten Bart. Tsino kannte diese Geste von ihm, wenn er sich über irgendetwas Gedanken machte. Teto nickte zur Antwort auf Gatorps Frage, liess dann aber nichts mehr weiter folgen.

    Die Stille begann sich in die Länge zu ziehen, sodass Tsino nachhakte: „Kannst du uns sagen, wie wir ins Alte Lager zurück kommen?“ Teto hob einen Arm, wobei sein Muschelanhänger leise klickerte und zeigte damit in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er erklärte: „Wenn ihr in dieser Richtung dem Fluß folgt, dann werdet ihr an die Brücke kommen, die zum Alten Lager führt. Von dort aus findet ihr beiden euch wieder selbst zurecht?“ Er warf damit einen Blick auf ihre grünen Buddlerhosen und liess die Frage eher wie eine Feststellung klingen.

    „Wie finden wir die Stelle bei Tag wieder?“ Zweifelnd sah Tsino sich um. Die Hand, mit der er die Fackel hielt, brannte unangenehm an den Stellen, wo ihm die Pflanzen in die Haut geschnitten hatten. Mit einem Lächeln liess Teto seinen Muschelanhänger leise klickern. Die Fackelflamme erzitterte in einem plötzlichen Windstoss. „Das müsst ihr nicht. Ihr könnt gleich anfangen zu graben.“

  • Verhandlungen

    Teto blieb an einer Stelle neben dem Schilf stehen. Obwohl der Sand hier nicht anders aussah wie an allen anderen Stellen des Ufers, deutete er zielsicher neben seine Füße auf den Boden. „Hier.“, sagte er mit beeindruckender Sicherheit, „Hier müsst ihr graben und ihr werdet den Schatz finden.“ Ein Grinsen huschte über seine Züge. Als das warme Fackellicht wieder über sein blasses Gesicht strich, zeigte sich dort erneut sein schüchternes Lächeln.

    Tsino musterte den Boden. Der Fluß, der sein Wasser mal hoch bald tief führte, trug jede Menge Sand mit und hatte es an seinen Ufern in immer wieder neu geglätteten Schichten abgelegt. Wenn es dem Wasser passte, trug es ein Stück davon mit und formte sein Flußbett neu. Kein Mensch der Welt wäre auf die Idee gekommen, das unter dem vom Wasser glatt gezogenen Sand ein Schatz vergraben sein könnte.

    „Woher weist du das so genau?“, fragte Tsino, den seine Skepsis nie ganz verliess.

    „Ich war dabei, als er vergraben wurde.“, gab Teto unumwunden zu. Sein Lächeln wurde an den Rändern bitter.

    Tsino hob eine Augenbraue, als er fragte: „Mit ‚Du warst dabei’ willst du sagen, dass du ihn nicht alleine vergraben hast?“ Es klang fast wie eine Feststellung. Teto lächelte und nickte langsam, als er erzählte: „Das waren Tide Nap und ich. Wir wollten nicht, dass jemand fand, was wir uns in unserer Zeit hier so mühsam zusammengekratzt hatten. Also haben wir es in bester Manier vergraben und es vor allen anderen geheim gehalten. Damals haben wir noch beide in den königlichen Minen gearbeitet. Tide sah in seinen grünen Hosen sogar aus wie ein echter Buddler.“

    Tetos Lächeln trübte Wehmut, als er fortfuhr: „Jetzt möchte ich etwas, das beim Schatz liegt, um anderswo vergraben werden zu können. Dann habe ich vielleicht endlich meinen Frieden.“ Teto flüsterte die Worte nur. Die Fackelflamme tanzte unruhig auf Tsinos Fackelstab hin und her.

    Auf ihrer Haut zeigten sich zwar mittlerweile keine Wasserperlen von ihrem unfreiwilligen Bad im Fluß, doch ihre Kleidung war immer noch nass. Nass genug, dass sich Tsino schüttelte, als ihm erneut ein kalter Windhauch über die Haut zog und dort für Gänsehaut sorgte.

    Gatorp dagegen machte den Eindruck, als könne er es kaum erwarten, loszulegen und diesen Schatz unter ihren Füßen zu bergen. „Wird Zeit, dass wir uns einig werden.“, sagte er. Da musste selbst Tsino zustimmen. Das war ihr unterwegs abgemachtes Stichwort, um die Verhandlung zu beginnen.

    Tsino eröffnete: „Wir helfen dir. Was hältst du von folgender Abmachung...“

    Wie abgemacht übernahm Gatorp, ohne eine lange Pause entstehen zu lassen: „Wir organisieren das Werkzeug und fangen hier schon einmal zu graben. Sobald du kannst, kommst du dazu und packst mit an. Sobald der Schatz erst einmal freigelegt ist...“

    An dieser Stelle hakte Tsino nahtlos wieder ein: „...ziehen wir erst einmal unsere Ausgaben ab.“

    Sie liessen Teto nicht einmal dazu kommen nachzufragen, ehe sie schon weiter redeten: „Damit gemeint ist das Erz, von dem wir die Schaufeln kaufen.“

    „Und das andere Werkzeug. Eben alles, von dem sich heraus stellt, dass wir es benötigen.“

    „Genauso wie die Verpflegung.“

    „Und wofür wir noch Erz ausgeben müssen, während wir daran arbeiten den Schatz zu heben.“

    „Außerdem der Lohn, der uns entgeht, wenn wir in der Zeit, in der wir daran arbeiten den Schatz zu heben, in der Mine gehackt hätten.“

    „Nachdem das alles abgezogen ist... Teilen wir den restlichen Schatz einfach durch Drei.“

    Teto wandte den Kopf stets dem jeweiligen Sprecher zu, was dazu führte, dass sein bleiches Gesicht den ganzen Dialog über von der einen Seiten zur anderen wankte. Normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihre Taktik aufging, wollte Tetos Gesichtsausdruck nicht so recht dazu passen. Mittlerweile lächelte er sie so freudig an, als werde er gerade mit der Privataufführung irgendeines Schauspiels beehrt und nicht als verhandelten sie um unschätzbare Erzmengen.

    Schlimmer wurde es nur noch, als Teto begann mitzuspielen: „Nicht so einfach...“

    Weder Gatorp noch Tsino waren von Widerspruch überrascht. Was sie da vorschlugen war hoch gewürfelt. Aber sie hatten absichtlich etwas höher angefangen, weil sie davon ausgingen dass Teto sie herunter handeln würde. So lange sie nur auf einem Drittel des Schatzes für jeden hinaus kamen, hätten sie ihr Ziel bei dem Handel erreicht.

    Teto schlug vor: „Ihr teilt erst den Schatz auf und danach zieht er eure... was auch immer... ab. Das mit Erz aus der Mine entfällt.“

    „So nicht.“, Tsino liess seine Stimme bewusst stur klingen. Machten sie jetzt keinen guten Handel, würden sie es den Rest ihres Lebens bereuen. „Das mit der Mine kann nicht einfach so entfallen. Das ist absolut wichtig, damit wir drei uns einig werden. Und es macht einen sehr großen Unterschied, ob wir vor oder nach dem Teilen abziehen.

    Wenn du anders denkst, musst du schon einen vernünftigen Gegenvorschlag machen und uns nicht einfach nur abwimmeln.“ Tsino versuchte Teto lange genug mit Belanglosigkeiten abzulenken, die nicht als Argument für die Verhandlung gedacht waren. Der Sinn hinter dem Gejammere war nur Gatorp die Möglichkeit zu geben nachzuladen. Endlich feuerte der aus seinem Rohr: „Wer weis, wie viele Tage wir brauchen werden, um den Schatz zu heben? Jeder von uns beiden macht seine 35 Brocken pro Tag in der Mine. Wir sind meisterhafte Minenarbeiter! Jetzt zähl' mal zusammen wie viel Erz wir in der Zeit von auch nur drei Tagen hacken könnten.“ Tsino spürte das kurze Zögern vor der Anzahl der von Gatorp genannten Tage und hoffte, dass es Teto nicht auffiel. Keiner der beiden konnte gut genug rechnen, um in einer Verhandlung mit Zahlen um sich werfen zu können. Was sie bisher aus dem Ärmel gezogen hatten, waren Dinge, die jeder Minenarbeiter nach einiger Zeit von allen wusste. Sie hofften einfach darauf Teto mit der Rechnung von drei mal 35 ebenso weit zu überfordern.

    Teto spielte an seinem Anhänger und drehte die Muschel hin und her. Als er sprach, lächelte er sie noch immer an, als sei er bester Laune: „Wenn ihr den ganzen Tag in der Mine hackt, anstatt den Schatz zu heben, dann habt ihr überhaupt keinen Schatz.“ Gatorp zog ein langes Gesicht. Darauf ihr schlagfertiges Argument so spielerisch entkräftet zu sehen, hatte keiner der beiden gehofft.

    Rasch spielte Tsino die nächste Karte aus ihrer Hand: „Aber wir ziehen immer noch die Ausgaben vor dem Verteilen des Schatzes ab! Jetzt rechne mal nach, wie teuer das Werkzeug ist: Allein für eine Schaufel zahlen wir 50 Erzbrocken. Und mit einer allein ist es nicht getan.“ Gatorp erwies sich als hilfreich, indem er sichtlich so nicke, als habe er Ahnung von dem, was Tsino gerade von sich gab. „Wenn wir dazu noch einen Seil und einen Eimer brauchen, dann sind das 200 Brocken für das Seil und 80 Erzbrocken für den Eimer. Und wer weis, was das Holz kostet, wenn wir das auch noch als Baumaterial brauchen?“ Tsino warf andeutungsweise die Hände in die Luft und ging zum Schluß in eine Tonlage über, von der er hoffte, dass sie klagend genug klang, um Teto den Anteil aus dem Kreuz zu leiern.

    Er hatte nach wie vor keine Ahnung vom Rechnen. Alles, was er getan hatte, war mit ein paar Zahlen um sich zu werfen, die er zufällig vom Außenwelthändler aufgeschnappt hatte. Auch den Tonfall hatte er sich abgeschaut, wenn ein jammernder Händler versuchte die Preise für größere Unternehmungen zu drücken, damit sein eigener Gewinn nicht zu sehr geschmälert wurde.

    „Ich mache euch einen Gegenvorschlag.“, spielte Teto noch immer mit einem enstpannten Lächeln mit, „Bevor ihr den Schatz aufteilt, dürft ihr euch 500 Erzbrocken davon weg nehmen.“

    Gatorp und Tsino tauschten einen hilflosen Blick. War 500 jetzt die Summe dessen, was sie eben aufgezählt hatten, oder mehr oder gar weniger? Irgendetwas gegenüber Teto hatten sie herausgeschlagen, so viel konnte Tsino erkennen. Doch zu ihrem Nachteil oder ihrem Vorteil? Sie mussten schnell irgendetwas sagen, bevor ihr zu langes Zögern als Schwäche ausgelegt wurde...

    „Für jeden von uns!“, feuerte Tsino das nächstbeste ab, das ihm in den Sinn kam und schickte ein Stoßgebet an Innos, dass er nicht gerade verhentlich in Moleratkacke griff. Er würde erst nach dem Gespräch Zeit haben über Sinn und Unsinn seiner Aussagen zu reflektieren.

    „300 für jeden von euch.“, hielt Teto dagegen. Seine Stimme war sanft, dennoch unnachgiebig. Schlimmer noch war er dieses Mal derjenige, der Worte fand, bevor Tsino und Gatorp die Gelegenheit bekamen sich etwas zurecht zu legen: „Ich bin euch nicht böse, wenn der Wert 300 Erzbrocken übersteigt. Noch nicht einmal, wenn es 400 Erzbrocken werden.

    Ihr spart euch die Rechnerei mit euren Ausgaben, nehmt euch einen Teil weg und teilt den Schatz zu gerecht großen Teilen auf.“

    Es wurde immer schlimmer. Nicht nur, dass Teto spielerisch ihre mühsam zurecht gelegten Argumente entkräftete, klang er zu allem Unheil jetzt auch noch so, als ob er Erfahrung in solchen Sachen hätte. Gatorp fiel nichts besseres mehr ein, als verwundert „Gerecht gleich groß?“ nachzufragen. Damit waren sie in die Defensive gedrängt.

    Teto lächelte nachsichtig, als er erklärte: „Man sagt auch ‚über den Daumen gepeilt’.

    Angenommen ein Schatz enthält zwei Erzbrocken und einen Edelstein, der zwar genauso groß ist wie ein Erzbrocken, aber bedeutend mehr wert, dann wären zwar alle Teile gleich groß, aber es ist nicht gerecht verteilt. Wer den Edelstein bekommt, hat den eigentlichen Schatz und die beiden mit den Erzbrocken sind angeschmiert.

    Das soll verhindern, dass der Verteilende die Empfänger hereinlegt – aber es gibt gleichzeitig die Sicherheit, dass es nicht umgekehrt statt findet.

    Einverstanden?“

    Das war für Gatorp das nächste Stichwort. „Fassen wir zusammen:

    Wir besorgen das Werkzeug und helfen dir den Schatz auszugraben. Dafür erhält jeder von uns beiden...“ er nickte von sich zu Tsino „Zuerst einen Teil des Schatzes im Wert von 300 bis 400 Erzbrocken. Danach teilen wir den Schatz...“ Er zögerte einen Moment, ehe er mit Blick auf Tsino Tetos Formel wiederholte: „...zu drei gerecht gleich großen Teilen auf.“ Tsino nickte zustimmend und sah mit Gatorp wieder zu Teto.

    Teto nickte schließlich und stimmte lächelnd zu: „Also gut. So wie du es zuletzt gesagt hast ist es eine Abmachung.“

    „Dann schlag ein.“, Gatorp hielt ihm fordernd die Hand hin. Tsino streckte ebenfalls die Hand aus, doch Teto sah sie zögernd an. Schließlich lächelte er rätselhaft und machte einen Schritt zurück, dann noch einen. Tsino war davon so überrascht, dass er den Moment verpasste, ihm mit der brennenden Fackel in der schmerzenden Hand nachzulaufen. Teto blieb nicht stehen, sondern ging geschmeidig rückwärts weiter, verliess den Bereich, den die Fackel ausleuchtete und schließlich hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.

    „He!“, heulte Tsino auf. „Eine nicht besiegelte Abmachung ist keine Abmachung.“

    Gatorp knurrte rauh: „Ich glaube, der legt uns rein.“

    Tsino atmete einen Moment lang durch, den er brauchte, um seine Gedanken zu sortieren. Schließlich schnaufe er: „Dann hält uns nichts davon ab, es genauso zu tun, nicht wahr?“ Gatorp nickte zur Antwort grimmig, ehe er zurück fragte:

    „Wo ist er hin?“

    „Wir können seine Fußspuren im Sand verfolgen, vielleicht holen wir ihn noch ein.“

    Sie senkten den Blick, doch da war nichts. Der Sand, wo Teto gestanden hatte, war glatt und unberührt. Tsino und Gatorp starrten sich gegenseitig an. Dann, mit einem unguten Gefühl in der Magengegend senkten sie den Blick auf ihre eigenen Füße. Der Sand dort war aufgewühlt.

  • kurze Kapitel

    Die Sterne blinkten noch am Himmel, als sie den Weg zurück ins Lager fanden – Nicht ohne vor ihrem Aufbruch die Stelle mit dem mutmaßlichen Schatzversteck markiert zu haben, um sie überhaupt wieder finden zu können. Beide waren erschöpft und müde und doch zu aufgewühlt von den Ereignissen, um jetzt schon seelenruhig schlafen zu können. Also holten sie sich in der Taverne noch jeder ein Bier, suchten sich eine ruhige Stelle an einem der Feuer im Lager, in der Hoffnung wieder gänzlich trocken zu werden und sprachen die Ereignisse der Nacht durch.

    „Also wenn du mich fragst ist dieser Kerl, Teto, nicht ganz koscher.“, meinte Tsino gerade skeptisch zu Gatorp und rieb sich die schmerzende Stelle an der Hand, wo die Pflanzen ihn verletzt hatten, ehe er weiter sprach: „Nur mal angenommen da ist gar nichts... Kein Schatz und auch kein Reichtum vergraben...“

    Gatorp setzte mit einem lautstarken Seufzen die Flasche ab, was Tsino unterbrach: „Du schickst nicht einfach Leute zum Buddeln im Nirgendwo so aus Spaß.“

    Tsino sah Gatorp im Feuerschein neugierig an: „Du denkst, da ist etwas?“

    „Auf jeden Fall.“, antwortete dieser. Er schluckte ein, zwei Mal ohne Bier im Mund, ehe er anhängte: „Selbst, wenn es kein Schatz ist... irgendetwas wird da schon sein.“

    Tsino liess mit seinen Zweifeln nicht locker: „Und was ist mit dem Kerl, den er erwähnt hat?“

    „Diesem Tide Nap?“, fragte Gatorp zurück und hielt eine Hand zum Wärmen in die Nähe der Flammen.

    „Genau. Warum gräbt er den Schatz nicht zusammen mit demjenigen aus, mit dem er ihn vergraben hat?“ Fast schon hilflos blickte Tsino zu Gatorp, als er sagte: „Das macht doch gar keinen Sinn.“

    Gatorp drehte die Hand in der Wärme der Flammen, ehe er sie wieder ablegte und mahnend zu Tsino hinüber sah. Er sagte: „Es macht sogar sehr viel Sinn... Nicht alle Leute halten zusammen wie wir beiden. Wahrscheinlich will Teto Tide aus irgendeinem Grund eins auswischen. Wir haben es verpasst, ihn danach zu fragen.“ Gatorp grinste zu sich selbst, als er in Richtung der Flammen meinte: „Für so ein unschuldiges Gesichtchen hat er es faustdick hinter den Ohren.“

    „Was ist, wenn er uns reinlegt?“, wollte Tsino weiterhin wissen und rieb sich die schmerzende Hand am Knie.

    „Du bist immer so ein Schwarzseher. Aber wie genau soll er uns hereinlegen? Auf die Weise, wie du es ihm vorgeschlagen hast: Dass er uns tötet und mit dem Schatz abhaut? Soll er versuchen. Wir sind zu zweit und er allein.“ Seine Knöchel ließ Gatorp bei der Bemerkung angriffslustig knacken.

    Tsino verneinte: „So meinte ich das nicht.“

    Gatorp lies das Bier in der Flasche rotieren, während seine nächste Frage Tsinos Sorge fast schon ins Lächerliche zog: „Wie dann? Indem er nicht zum Graben vorbei schaut und wir daraufhin alleine mit dem Schatz abhauen können?“

    Tsino setzte gestikulierend zu einer Erklärung an: „Schon eher. Nur mal angenommen wir graben den Schatz aus, so weit wir können und nur noch ein paar Spatenstiche trennen uns davon... Aber dann müssen wir eine Pause einlegen und aus einem anderen Grund abziehen... In der Nacht kommt Teto vorbei, packt sich unsere Schaufel, gräbt den Rest des Schatzes alleine aus und macht sich ein glückliches Leben. Wie verhindern wir das?“

    „Woher willst du wissen, dass er in der Nacht kommt?“, fragte Gatorp wenig überzeugt zurück.

    „Diebe kommen immer in der Nacht.“, gab Tsino zurück.

    Gatorp überlegte selbst einen Augenblick, ehe er eine Antwort auf Tsinos Frage fand: „Wir nehmen die Schaufel mit. Ach nein... Dann bringt er eine eigene mit. Aber sagte er nicht, er könne den Schatz nicht alleine ausgraben?“

    Tsino meinte eifrig: „Dafür hat er jetzt uns zwei Idioten. Wir schaufeln ihm brav das Loch, bis es so tief ist, dass er es mit einer Hand ausgraben kannt, während er sich mit der anderen ins Fäustchen lacht.“

    Gatorp strich sich nachdenklich durch den rotblonden Bart, ehe er zurückgab: „Teto kann in einer Stunde nicht alleine so tief graben, wie wir es zusammen vermögen.“

    „Denkst du?“, fragte Tsino zurück. Seine Zweifel liessen sich nicht immer leicht zerstreuen und manchmal – so wie jetzt – kamen sie auch nachträglich noch einmal zurück. Dann war es meist Gatorp, der mit einer Mischung aus Stärke und Gelassenheit die Laune ertrug. Im Moment tat er es mit einem Vorschlag: „Wir graben, ja. Aber nicht so tief, dass Teto den Rest alleine machen könnte.“

    „Wie willst du das anstellen?“, hakte Tsino nach. Er spürte bereits, wie seine Skepsis ihren Griff von ihm löste.

    Gatorp genehmigte sich noch einen Schluck Bier, das er zweimal schluckte und erklärte mit einer so gelassenen Tonlage, als ob alles bereits fest stünde: „Am ersten Tag sehen wir, wie tief wir kommen. Wenn wir am ersten Tag den Schatz ausheben, dann müssen wir uns sowieso keine Sorgen mehr machen, denn dann können wir einfach damit abhauen. Wenn nicht, dann geht es weiter. Ab dem zweiten Tag haben wir unseren Rhythmus gefunden.

    Teto ist alleine, wir zu zweit. Also kann er an einem Tag auch nur halb so viel graben wie wir.“, schlußfolgerte Gatorp mit einer Milchmädchenrechnung, ehe er endete: „Bevor wir aufhören lassen wir einfach so viel Arbeit übrig, dass er es alleine gar nicht schaffen kann.“

    Die Skepsis in Tsinos Gedanken löste sich endlich auf. „Aber wir würden es in derselben Zeit schaffen...“, setzte er an.

    „...weil wir zu zweit sind.“, beendete Gatorp den Satz für ihn.

    Er hielt ihm die Bierflasche hin. „Auf unsere Freundschaft!“ Er stieß mit ihm an. „Auf unsere Freundschaft!“


    Mitternacht war längst vorbei gezogen, als sie sich voneinander verabschiedeten und sich jeder an seinen Schlafplatz zurück zog – Gatorp in seine Hütte, Tsino in die Pennerunterkunft.

    Mittlerweile zitterten Tsinos Arme und Beine allein von der Anstrengung sich auf den Beinen zu halten. Die Müdigkeit hatte endlich den Sieg über die Aufregung davon getragen. Er fühlte sich, als könne er sofort umfallen und einfach einschlafen, doch er zwang sich den Weg zu seiner Unterkunft zurückzulegen.

    Der Gestank dort war bestialisch: Irgendetwas zwischen verschwitzten Socken und getragenen Unterhosen. Die Ausdünstungen mehrer ungewaschener Leiber hingen in der Luft, zusammen mit dem schweren, grunzenden Atem der hier Schlafenden. Leise, um keinen Ärger durch zu laute Geräusche zu riskieren, schlich sich Tsino hinein und hielt nach einem freien Bett Ausschau. Als er eines gefunden hatte, zog er sich aus, legte seine Wertsachen ins Stroh, seine Kleidung darüber und legte sich hinein. An einem Ort wie diesem musste man immer auf der Hut vor Langfingern sein, weswegen man besser nichts offen herum liegen liess.

    Kaum hatte er sich zur Ruhe gebettet, zog ihn die Erschöpfung auch schon mit bleiernen Griff in die Tiefen eines unruhigen, wenig erholsamen Schlafes:


    Schwer wie vor kurzem noch die Müdigkeit hingen eiserne Schellen um seine Handgelenke und Fußknöchel. Unerbittlich wurde er von dem Gewicht der dicken Ketten hinunter gezogen. Auf diese Weise gefesselt fiel es Tsino schwer die Schaufel in seinen Händen überhaupt zu bewegen. Doch er musste hier graben, das wusste er, sonst gäbe es keinen Schatz.

    Obwohl sich seine Gliedmaßen tonnenschwer anfühlten, schaufelte er schwitzend Schaufel um Schaufel. Ein paar Mal hustete er, denn der Sand brannte ihm ähnlich wie Minenstaub in der Lunge. Doch anstatt dass das Loch tiefer wurde, versank er vom Gewicht seiner schweren Fesseln gezogen, langsam selbst im Boden. Umso hektischer er versuchte tiefer zu kommen, indem er versuchte ein Loch in den Sand zu schaufeln, umso schneller kam er tiefer, indem er im Boden versank. Schon stand ihm der Sand bis zum Hals und schnürte ihm die Luft ab.

    Schweißgebadet erwachte er im Dunkeln der Nacht. Seine Kehle war trocken und sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig in dem Kampf nach Luft. ‚Wahrscheinlich die Aufregung um die durchlebte Nacht und den überstandenen Goblinangriff.’, versuchte er in Gedanken eine Erklärung für seinen Zustand zu finden. Der Schnitt in seiner Hand pochte sanft. Vollkommen durcheinander wagte er sich zur Tür und spähte zum Himmel hinauf, wo sich die Barriere wie eine blau schimmernde Seifenblase abbildete. Er musste lange warten, bis sich das changierende Muster so weit veränderte, bis er die Sterne dahinter erkennen konnte. In unregelmäßigen Abständen hustete er dabei und zog danach zischend die Luft ein. In seinem Brustkorb schmerzte es. Endlich konnte er Sterne ausmachen und machte sich anhand ihre Lage ein Bild von der Uhrzeit. Es musste noch ein paar Stunden hin sein, ehe das Lager erwachen würde. Unausgeruht zog er sich in die Hütte zurück, um noch ein wenig zu schlafen.

  • Alltag

    „Mine!“ Der Schrei lies Tsino im Bett hoch fahren. ‚Wie spät ist es?’

    „Es geht zur Mine!“ Draußen brüllte jemand so laut, dass es selbst Tote wecken konnte. Nach seiner Schrecksekunde verschwendete Tsino keinen weiteren Moment. Eilig grub er sich aus dem Stroh aus. Ein Gutteil der in der Hütte befindlichen Leute war bereits auf den Beinen und bereitete sich in aller Eile auf die Minenschicht vor, die gerade lautstark ausgerufen wurde. Rasch tat Tsino es ihnen gleich und schwang sich aus dem zerwühlten Bett, aus dem er kurz darauf seine Habe kramte. Die Hand, mit der er in die Pflanzen gefasst hatte, schmerzte ihm noch immer.

    „Mine! Aus den Federn, ihr Schlafmützen!“ Die donnernde Stimme kam der Pennerunterkunft immer näher. Tsino schlüpfte in seine Socken und die Buddlerhose. Gerade legte er sich den Gurt mit seinen Wertsachen wieder an, als jemand mit einem stabilen Ast ein wahres Stakkato am Eingang der Bude trommelte.

    Tsino war nicht der einzige, der erschrocken inne hielt und dorthin starrte, obwohl ihnen die Situation nicht neu war. Im Türrahmen stand der Vorarbeiter und brüllte ein lautstarkes „Mine!“ in den Raum, als ging es darum Tauben das Hören beizubringen. Ruppig sah er sich im schummrigen Halbdunkel der stinkenden Unterkunft um, ob sich auch in allen belegten Betten die Schlafmützen regten.

    Tsino fuhr damit fort sich den Gürtel zu verknoten und zog sich danach die Schuhe an. Dem Vorarbeiter am Eingang schien in den schlechten Lichterhältnissen der Überblick zu fehlen, denn er donnerte in den Raum: „Seht zu, dass die Langschläfer auch noch wach werden! Werft sie aus dem Bett, wenn es sein muss.“ Damit entschied er seiner Pflicht als ausrufender Vorarbeiter weit genug nachgekommen zu sein und wandte sich „Mine!“ brüllend ab.

    Einer der übereifrigen Buddler nahm die Anweisung des Vorarbeiters wörtlich, packte einen noch im Bett liegenden, deutlich schmächtigeren Buddler mit beiden Fäusten an den Schultern und zerrte ihn aus dem Bettkasten, nur um ihn dann unsanft auf den kahlen Holzboden plumpsen zu lassen. „Aufgewacht, du Faulpelz. Du hast den Vorarbeiter gehört!“, sagte er dazu als verkünde er gerade Innos' Willen auf Erden.

    Tsino konnte nicht anders als die Augen zu verdrehen, während er sich das Hemd glatt zog und die Hackenhalterung um den Oberkörper schlang, deren schmale, stabile Lederriemen sich um den gesamten Oberkörper spannten. Das Gestell drückte unangenehm an den Schulterriemen. Obwohl sie an den Schultern scheurte, nahmen die meisten sie nicht einmal zum Schlafen ab – die Hacken dagegen schon.

    Bei dem Buddler konnte es sich nur um einen der Speichellecker handeln, die schnell nach oben wollten. Tsino beschäftigte sich gar nicht mehr mit der entbrennenden, lautstarken Diskussion, sondern begann das von ihm benutzte Bett zu durchwühlen, ob er auch wirklich alle seine Gegenstände wieder hatte. Er würde seine Habe nicht unbeaufsichtigt lassen, wenn es zur Mine ging. Die ersten Leute stürzten schon längst zur Tür und rannten eilig davon. Draußen entfernten sich die „Mine!“-Rufe immer weiter. Die Szene, die sich in der Pennerhütte abspielte war ebenso vertraut wie nervtötend.

    Tsino stellte zweifach sicher, dass er alles hatte und zog die Knoten seiner Beutel fest. Die Inhalte waren auch noch alle da. Wer fertig war, verliess im Laufschritt die Hütte und Tsino tat es den anderen gleich, dabei selbst einige weniger schnelle Personen – darunter die beiden Frischbuddlerstreithähne – zurücklassend.

    Gehetzt rannte er den anderen Pennern hinterher. Gerade als sie den Schattenturm passierten, kam ihnen der Schatten und Außenwelthändler Reldnäh entgegen. Spaßeshalber beugte der sich beim Anblick der rennenden Buddler weit zu ihnen vor und schlug die leeren Handflächen ineinander. „Schneller, schneller, schneller. Es geht zur Mine!“ Lachend setzte er seinen Weg fort, während die Buddler um die Ecke hasteten, die die Rampe am Südtor umfasste.

    Dort oben hatte die Südtorwache eine für Torwachen etwas ungewöhnliche Stellung eingenommen: Anstatt mit dem Rücken zum Lager zu stehen und die Umgebung vor dem Tor nach möglichen Gefahren mit den Augen abzusuchen, stand der schwer gerüstete Gardist im Augenblick mit dem Rücken nach draußen und beobachtete aus schmalen Augen die Buddler, die weit unter seinen Füßen vorbei rannten. Tsino vermutete, dass das verhindern sollte, dass die Leute der Minenschicht durch das Südtor entwischten. Trotz postierter Wachen geschah es immer wieder.

    Sie liessen das Lazarett hinter sich und überquerten den Marktplatz. Einer der sportlicheren Buddler setzte in vollen Lauf gekonnt über eine Bank hinweg. Ein paar Frühaufsteher wurden gerade vom Wirt nach draußen gescheucht. Nicht nur einer hatte noch eine Holzschale mit seinem angefangenen Essen in der Hand und schaufelte es sich hastig in den weit aufgesperrten Mund. Auch der Wirt hatte es eilig seine Schürze abzulegen und seine Hacke aufzutreiben. Über allem schwebte stets der mal näher, mal weiter entfernte Ruf: „Mine!“

    Tsino keuchte bereits, als sie die nächste Ecke der Burg erreichten. Sein Kopf brannte vor Müdigkeit und jeder tiefe Atemzug stach in der Lunge. Ab hier kam der Tümpel in Sicht. Jetzt galt es nur noch den grasüberwucherten Hügel zu überwinden und sie wären am Hauptor. In dem vor Morgentau feuchten Gras schlitterte plötzlich Tsinos Fuß. Wild mit den Armen rudernd, konnte er gerade noch so sein Gleichgewicht wieder finden. Danach beschloss er es einen Gang langsamer anzugehen und joggte nur noch locker. Binnen Sekunden war er hinter den anderen zurückgefallen und wurde bereits von einigen Nachzüglern überholt.

    Schwer Schnaufend erreichte er das Haupttor, wo sich eine unüberschaubare Menge an Buddlern auf und neben dem Weg drängelte. Tsino erkannte Gatorps Rotschopf in der Menge und stellte sich zu ihm.

    Das Tor selbst war von den Schicht habenden Aufsehern – Schatten und Gardisten gemischt – verstopft. Ein paar davon sahen so unausgeschlafen aus wie Tsino sich fühlte. Sie hatten ebenso wenig Lust wie die Buddler auf die Minenschichten und es schlug sich in angewiderten Gesichtsausdrücken und schlechter Laune nieder. Beides bekamen die versammelten Buddler zu spüren, sobald sich auch nur der geringste Anlass ergab.

    „Kann ich da mal vorbei!?“, schnauzte gerade ein frisch hinzugekommender Gardist in die Rücken der Buddlermasse. Sofort sprangen die Leute auseinander, denn keiner hatte ein Interesse daran, dass er sich mit dem Schwert einen Weg bahnte. In seiner dicken Panzerung walzte sich der Gardist auf geraden Weg zu seinen Kollegen nach vorne, wo er mit ironischen Kommentaren begrüßt wurde.

    Tsino fühlte sich eklig an diesem Morgen. Nach der Flucht vor den Goblins am Vorabend hatte er keine Gelegenheit mehr wahr genommen sich anständig sauber zu machen. Das unfreiwillige Bad im Fluß zählte er nicht dazu. Die Kleider waren mehr schlecht als recht getrocknet und rochen noch schlechter. Er selbst fühlte sich ungewaschen. Beim Streichen über seinen Hals konnte er Stoppeln erspüren und er wollte nicht wissen, in welchem Zustand seine Haare waren.

    Auch an Gatorp schien die Nacht nicht spurlos vorüber gegangen zu sein. Sein Gesicht sah unter den rotblonden Haaren blass aus und deutlich zeichneten sich dort Augenringe ab. Häufig schluckte er gegen irgendetwas in seinem Hals an, obwohl er nicht den Eindruck machte davor etwas gekaut zu haben.

    „Hey, Tsino. Du kommst wohl auch nicht aus den Kleidern, was?“ Der eigentlich lustige Gruß kam von einem der anderen Buddler. Tsino erkannte ihn auf Anhieb: Es war Bevras, der als Wirt arbeitete. Seit ein paar ungleich ausgegangenen Wettstreiten einten ihn und Tsino eine gewisse Rivalität. Bevras lies nur selten Gelegenheiten aus, sie am Leben zu erhalten. Tsino drehte den Kopf weg und beschloss ihn an diesem Morgen zu ignorieren.

    „Waren das alle?“ Die Stimme des Minenleiters – ein Schatten namens Nemo mit öliger Stimme und langen, schwarzen Haaren, die genauso ölig wie seine Stimme waren, hallte über die Köpfe der Buddler hinweg. Noch immer summte es am Haupttor wie in einem Fliegenschwarm. Nicht wenige unterhielten sich entweder lautstark, gedämpft, laut oder flüsternd. Doch niemand machte auf fehlende Buddler oder Wachen aufmerksam, sodass Nemo anschließend rief:

    „Abmarsch!“

    Ein paar der übereifrigen Buddler drückten rasch vor, hielten aber ebenso schnell inne, denn die Wachen am Tor bewegten sich nicht annähernd so schnell. Sie nahmen sich Zeit noch einmal verachtend durch die Gesichter der zerlumpten Leute vor ihnen zu sehen, ehe sie sich erhaben umdrehten und voraus stolzierten. Noch im Gehen riefen sich die Wachen gegenseitig Befehle zu: „Reldnäh - Vorhut. Paslov – Flußsseite. Kusta und ich – Waldseite. Toisi, du machst zusammen mit Kotzbrocken die Nachhut.“ Der Spitzname war so alt, dass er bei keinem im Konvoi auch nur ein müdes Lächeln hervor rief. Ausdrücke wie diese waren in der Kolonie an der Tagesordnung.

    Die paar gerufenen Befehle später, sortierten sich die Schattenwachen auf ihre beim Konvoi zugeteilten Stellen. Der Weg zur Mine verlief deutlich ruhiger als der Rückweg der vergangenen Nacht. Von dem Goblinhinterhalt war nichts mehr zu sehen. Dafür waren im Wald ein paar Tiere unterwegs und einige davon so dicht am Weg, dass sich die Wachen genötigt sahen ihnen mit gezogenen Waffen entgegen zu eilen und ihnen den Garaus zu machen. Abgesehen von diesen ganz gewöhnlichen Unterbrechungen kamen sie zwischenfallslos bei der Mine an.

    Durch die rund um die Uhr bewachte Öffnung in der Pallisade trampelten sie über den Platz, an den Hütten vorbei und hinunter in die Stollen, wo sie sich langsam verteilten. Die Buddler sortierten sich der Macht der Gewohnheit folgend, an vielversprechenden Adern ein, die sich durch einen sanften, blauen Schimmer von den grauen Felswänden abhob. Die Wachen suchten sich freie Plätze auf Bänken, schürten ein paar Feuer und ergaben sich der Langeweile einer monotonen Minenschicht.

    Der Minenleiter Nemo setzte sich mit einer Sanduhr und einem Stapel Papier auf die Bänke. War der Sand durchgelaufen, legte er einen Stein daneben, um die Stunden zu zählen und drehte den Zeitmesser wieder herum, um sich dann eine Weile mit seinen Unterlagen zu beschäftigen.

    Fern von Tageslicht war es in der Mine nicht möglich die Tageszeit anhand des Sonnenstandes zu bestimmen, wie es draußen natürlich wäre. Da das System sehr ungenau war und bei einer besonders guten Unterhaltung gerne einmal vergessen wurde die Sanduhr umzudrehen, konnte es passieren, dass sich die Minenschichten in die Länge zogen. So wurde ein X nicht nur in der Taverne für ein V verkauft.

    Nachdem eine bestimmte Anzahl an Steinen auf der Bank lag, herrschte der Schatten den zuständigen Vorarbeiter an: „Geh Rationen machen.“ Eine Sanduhrumdrehung später: „Ruf die Pause aus.“

    In der Pause trafen sich Gatorp und Tsino erneut. „500.“, grüßte Gatorp, den Sack mit seiner Ausbeute scheinbar mühelos über der Schulter tragend. Danach entfuhr ihm unwillkürlich ein Geräusch, als versuche er gerade eingeatmeten Minenstaub zu schlucken, statt ihn auszuhusten. „Etwa 380.“, gab Tsino zurück, woraufhin Gatorp frech grinste: „Kleiner Anfänger. War ja klar.“

    Tsino klopfte sich gegen die Brust – was er bei der schmerzenden Handfläche sofort wieder bereute – und entgegnete ungerührt: „Ich bin länger im Dienst als du.“ Er rückte sich den Sack zurecht, in dem er seine Ausbeute hinter sich her schliff und unterbrach ihr Schäkern für ernstere Aussagen: „Wir können die Pause sinnvoll nutzen, indem wir die Ladenbesitzer ansprechen. Den Außenwelthändler zum Beispiel habe ich heute morgen gesehen.“

    Die „Außenwelt“ bezeichnete alles, das außerhalb der Grenzen der magischen Barriere lag und „Außenweltware“ alles, das von draußen kam, weil sie es innerhalb nicht herstellen konnten oder wollten.

    Gatorp machte ein halbes Nicken, als ihm einfiel: „Beim Konvoi ist er auch ausgerufen worden. Holen wir uns die Rationen und dann machen wir die Runde.“

    Beim Austeilen der Rationen sprachen sie den Vorarbeiter auf Rationspakete an. Es war der mürrische Buddler, der bereits am Morgen an die Pennerunterkunft getrommelt hatte. „Was wollt ihr?“, knurrte er und schnürte bereits den Proviantbeutel für die nachrückenden Buddler.

    „Wie wäre es mit einem saftigen Stück Käse?“, antwortete Gatorp.

    „12 Erzbrocken.“, kam es unfreundlich vom Vorarbeiter.

    „Was?“, fragte Tsino überrascht, „Das ist fast doppelt so viel wie in der Taverne.“

    Der Vorarbeiter reichte zwischen ihnen hindurch einen Proviantbeutel an einen Buddler, der hinter ihnen die Hand ausstreckte. Missgelaunt antwortete er: „Dann kauft euer Essen da und nicht bei mir.“ Damit war das Thema für ihn erledigt und er teilte weiter die Rationen aus.

    Tsino und Gatorp stopften sich das meiste Essen in ihre Proviantbeutel statt in ihre Bäuche und nahmen nur so viel zu sich, wie sie im Gehen essen konnten.

    Gatorp verschlang ein trockenes Brot, während Tsino sich den Minenstaub mit Wasser aus der Kehle spülte. Den Geschmack mischte er mit Bissen von einem Apfel, den er vor ein paar Tagen draußen gefunden und in seinen Rationsbeuteln aufbewahrt hatte. Er mochte den Geschmack von Äpfeln.

    „Halsabschneider.“, machte Gatorp, der nach jedem Bissen beschwerlich schluckte, „Der kassiert doch bestimmt für sich selbst.“ Tsino trank Wasser aus einer Tonflasche, ehe er antwortete: „Vergiss ihn. Lass uns lieber zusehen, dass wir die nötigen Dinge besorgen. Schaufeln wären für's Graben am wichtigsten. Ich glaube der Schmied saß vorhin am Feuer.“

    „Toisi?“, fragte Gatorp unnötigerweise und klopfte sich mit den Knöcheln gegen die Brust, was jedes mal einen tiefen, hohlen Ton erzeugte. Das Schlucken schien ihm heute schwer zu fallen. Es gab nur einen Schattenschmied im Lager und nur einen Mann namens Toisi.

    „Genau den.“, machte Tsino und gemeinsam traten sie den Rückweg an. Sie fanden Schmied Toisi in der Nähe des Minenleiters, der dort immer noch mit Papieren und Sanduhr saß, eingesunken auf einer Bank sitzen.

    Gatorp gebot Tsino mit einer erhobenen Hand kurz zu warten und zeigte von Toisi auf den Minenleiter Nemo. Tsino verstand den Wink: Wären die beiden in einem Gespräch, müssten sie warten. Wachen konnten schnell ungehalten werden, wenn man einfach ein bestehendes Gespräch unterbrach. So wurden selbst verurteilte Verbrecher dazu gezwungen wenigstens eine Form der menschlichen Höflichkeit zu wahren. Doch kein Wort fiel zwischen Schmied und Minenleiter, weswegen sich Tsino und Gatorp zu dem Schmied hinüber schoben.

    „Hallo Toisi.“, grüßte Gatorp und stellte den Sack mit der Ausbeute zwischen seinen Beinen ab, als sei er ihm plötzlich zu schwer geworden.

    Toisi mochte es, wenn ein Buddler viel Erz schürfte. Daneben gab es wenig, das er an Buddlern noch mochte. Er war ein in die Jahre gekommener Mann mit kohlrabenschwarzen Haar und Bart. Einzelne, ergraute Strähnen zogen sich wie Kreidestriche durch seine Frisur. Mit dem Alter schien es ihm zu lästig geworden zu sein sich um seinen Haarwuchs zu kümmern, weswegen beide eine gewisse Länge erreicht hatten. Auffällig musterte er Gatorps Minensack und sah ihm dann ins Gesicht. „Was willst du?“

    „Wir wollten uns über die Preise von Schaufeln erkundigen. Hast du welche?“, fragte Gatorp sofort.

    „Schaufeln kann ich dir schmieden. Dauert aber ein paar Wochen, da ich auf neuen Erzstahl warte.“ Damit warf er einen vorwurfsvollen Blick zum Minenleiter hinüber, der sich aber so sehr in seine Unterlagen vertieft hatte, dass er den Blick scheinbar nicht mitbekam. „Spaten dagegen hätte ich auf Lager.“

    „Zwei Stück?“, machte Gatorp und rückte mit dem Fuß den Minensack zwischen seinen Füßen zurecht.

    „Zwei Stück.“, bestätigte Toisi.

    Tsino fragte: „Wie viel?“ Eigentlich meinte er damit den Preis, doch Toisi missverstand ihn. Zum Dank für seinen Einwurf warf ihm der Schmied einen unfreundlichen Blick zu: „Zwei Stück!“

    Ab da hielt Tsino lieber den Mund und überliess Gatorp das Sprechen, der sich wieder Toisi zuwandte: „Wir kaufen dir zwei Spaten ab. Können wir sie direkt nach der Minenschicht bei dir abholen?“

    Toisi nickte nur andeutungsweise und ließ es sich nicht nehmen, Tsino noch einmal mit einem genervten Blick zu bestrafen. Gatorp nickte Toisi seinerseits einmal tief zu und winkte Tsino weg. Damit war das Gespräch für sie beendet. Die beiden Buddler zogen sich zurück und stapften schon wieder suchend durch die Mine.

    Tsino überlegte laut: „Wir sollten noch Seil und Eimer besorgen. Wenn die Grube tiefer wird, dann lassen wir den Eimer am Seil hinunter, füllen ihn unten mit Erde auf und ziehen ihn wieder hoch.“

    Gatorp war sofort Feuer und Flamme: „Gute Idee. Lass uns mal Simon suchen. Der ist Schreiner und kann uns bestimmt mit dem Eimer weiter helfen.“

    Die Wahl war auch taktisch klug, denn Simon war mit seinem karottenroten Haar und den sympathischen Sommersprossen auch in größeren Menschenmassen und dürftig ausgeleuchteten Minen leicht auffindbar. Dennoch fanden sie Simon nicht in dieser Schicht, dafür einen Lehrling aus der Holzfällerei. Wo sie ihn schon einmal sahen, sprachen sie ihn an, um sich mit pechgetränkten Ästen einzudecken. Wie zu erwarten war er froh, spontan Umsatz machen zu können, denn das war alles, was seinen Boss an seinen Lehrlingen interessierte.

    „Hast du eigentlich immer Fackeln dabei?“, fragte Tsino beim Bezahlen, denn der Buddler konnte ihnen exakt die Anzahl an Fackeln geben, die sie ihm abkaufen wollten. „Nein, nur wenn ich sie verkaufen kann.“ Die Antwort machte Tsino umso stutziger, doch er liess das Thema lieber fallen, ehe er ein Opfer der romantischen Ironie wurde. Frisch mit trockenen Fackeln bestückt, die sie sofort in Öltücher einschlugen, setzten sie ihre Suche in der Mine fort. Die Pause schritt langsam voran und ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.

    Den Außenwelthändler Reldnäh fanden sie an einer Steinwand lehnend, von wo aus er ein paar Arbeiter beobachtete, die sich zum Essen im Halbkreis auf den Boden gesetzt hatten und verdächtig leise miteinander sprachen. Er bemerkte Gatorp und Tsino sofort, als hätte ihm ein zusätzlicher Sinn ihr näher kommen verraten, noch ehe sie ihn erreicht hatten.

    „Hallo Reldnäh.“, sprach Tsino ihn an und hob dabei grüßend die Hand, „Hast du Zeit?“

    Der Schatten wandte ihnen den Kopf zu, ohne seine bequem aussehende Position zu verlassen, als er antwortete: „Sicher. Was gibt es?“

    Diesmal übernahm Tsino das Sprechen: „Wir wollten dich nach einem Seil und einem Eimer fragen, hast du da etwas auf Lager?“

    Reldnäh wankte leicht mit dem Kopf von einer Schulter zur anderen, als ob sie ihm Umstände machten. Etwas langsamer als vorher gab er Auskunft: „Ein Seil habe ich. den Eimer müsste ich euch erst besorgen. Kostet dann aber auch 100 Erzbrocken.“

    Tsino zog bei dem Preis die Luft durch die Zähne ein.

    „Ist was?“ Die Weise wie Reldnäh das fragte war fast provokativ. Geradezu als hoffe er auf Widerspruch, den er zum Anlass für irgendetwas nehmen konnte.

    „Nein, nein.“, machte Tsino schnell, der um keinen Preis der Welt in der Mine einen Streit anfangen wollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend zeigt er ihm die Handinnenfläche, die ihm in der Nacht zuvor die Pflanzen zerkratzt hatten. „Nur ein Kratzer. Deswegen das Geräusch. Pocht manchmal etwas unangenehm.“, erklärte Tsino eilig.

    Reldnäh sah ihn einen Moment lang aufmerksam an. Seinen Augen entging sonst nur wenig. ‚Warum habe ich das Gefühl, dass er merkt, wenn er eine Ausflucht oder die Wahrheit hört?’

    „Und das Seil?“, fragte Tsino schnell weiter, ehe sich Reldnäh noch weiter Gedanken über den Wahrheitsgehalt seiner Notlüge machen konnte.

    „200.“, war die Antwort, wobei Reldnäh trotz allem nicht damit aufhörte ihn aufmerksam anzusehen.

    Ehe Tsino eine weitere, unpassende Reaktion auf den Preis machen konnte, schallte ein lauter Ruf durch die Mine: „Pause vorbei! Bewegt eure Hintern wieder an die Adern!“

    „Gut, äh...“, machte Tsino, dem langsam nichts mehr einfiel.

    Gatorp rettete ihn, indem er sagte: „Da müssen wir noch etwas Erz sparen. Wir kommen wieder auf dich zu.“

    „Sicher. Bis bald.“, meinte der Schatten nur und sah wieder zu den Arbeitern hinüber, die noch immer am Boden saßen und weiterhin Pause machten. Daraufhin löste er sich von der Wand und schritt drohend auf die Gruppe Buddler zu: „Hoch jetzt, Jungs.“, hörten sie ihn im Weggehen sagen, „Die Pause ist vorbei!“

    Als sie außer Hörweite waren, setzte Tsino an: „Der Preis ist gesalzen.“

    Gatorp machte ein heftiges Schluckgeräusch, als habe er eine Ladung Minenstaub abbkommen, ehe er Tsino zustimmte: „Und ob. 300 Für Seil und Eimer? Die wollen offensichtlich nicht, dass jemand so etwas besitzt.“

    Tsino rückte sich den Sack mit Erzklumpen zurecht, den er nun die ganze Pause über spazieren getragen hatte. Er sagte: „Lass uns damit lieber noch ein paar Tage warten. Aber die Spaten brauchen wir sofort.“

    „Da stimme ich dir zu.“, sagte Gatorp mit einem Nicken, „Wie wäre es mit Rationen? Wobei... Lass uns die besser in der Taverne holen, sobald wir wieder im Lager sind. Das gibt weniger Schwierigkeiten.“

    Auch Gatorp und Tsino blieb Nichts Anderes übrig als sich wieder mit schwingenden Hacken an die Adern zu stellen. Dort mussten sie wie der Rest der Buddler stehen bleiben und schuften, bis das Schichtende auf Nemos Geheiß ausgerufen wurde. Tsino stemmte den Sack mit seiner Ausbeute hoch und hatte das Gefühl unter dem Gewicht der Steine gleich zusammenzubrechen. Mit zitternden Armen und Beinen arbeitete er sich Schritt für Schritt voran. Die Müdigkeit brannte nicht nur in seinem Schädel, sondern auch in seinen Muskeln.

    Ein paar der Buddler, die durch Schlaf offenbar besser ausgeruht waren als er, überholten ihn mühelos. So war am Stand, wo die Ausbeute gezählt wurde, bereits eine ganze Reihe an Buddlern, bis er ankam. Jeder schnaufte, keuchte und sah von der Arbeit komplett ausgelaugt aus.

    Wer an der Reihe war, musste sein Schürfgut vorzeigen. Der Vorarbeiter schätzte die Menge, trug es in sein Protokoll ein und schickte die Leute zum Abgeben nach draußen. Außerdem nahm er bei der Gelegenheit die Leihhacken zurück.

    Ein Stück vor Tsino in der Schlange wuchtete Gatorp seinen Sack auf den Tresen. Die Tischplatte bog sich unter dem Gewicht der Steine. "800... sehr gut, Gatorp." Der Vorarbeiter schickte ihn mit einem Wink weiter. Ein paar Buddler später war es an Tsino den Sack auf den Tresen zu hieven. "650.", keuchte er, denn er hatte die Menge bereits beim Einsammeln grob gezählt. Der Vorarbeiter liess sich nicht lumpen und siebt die Hand durch die Ausbeute. "Tsino...", notierte er in seinem Protokoll, laut aussprechend, was er schrieb, "643. Kannst abgeben."

    Tsino nahm den Sack wieder auf die Schulter und wunderte sich nicht zum ersten Mal in seinem Leben, wie es die Vorarbeiter schafften auf einen Blick eine ins hundertfache gehende Erzmenge mit einem einzigen Blick bis auf den kleinsten Klumpen genau zu bestimmen.

    Erneut folgte er den Schritten der anderen Buddler und trat den Rückweg durch den langen Stollen an, bis ihn schwindendes Tageslicht und frische Luft grüßten. Wie alle anderen gab auch er draußen sein geschürftes Erz ab und erhielt dafür einen Anteil an Erzbrocken, die im Vergleich der abgegebenen Erklumpen eine fast schon lächerliche Menge darstellten. Nachdem auch das erledigt war, reihte er sich in die Masse an Buddlern ein, die wie am Vorabend am Ausgang darauf warteten, dass der Konvoi zurück ging.

    Es war ein Tag wie jeder andere.

    Minenschichten allein waren schlimm genug. Aber eine bis in die Nacht überzogene Minenschicht, eine waghalsige Flucht vor Goblins, wenige Stunden nicht erholsamer Schlaf gefolgt von einer überfrüh gestarteten Minenschicht mit pünktlichen Ausgang war selbst für geübte Minenarbeiter keine Kleinigkeit.

    Zumindest Tsino spürte die Erschöpfung in allen Knochen. Er stellte sich zu Gatorp, der sich eine Flasche Wasser aus den Rationen in der Pause zurückbehalten hatte. Nach jedem Schluck aus der Flasche schluckte er mehrfach ohne Wasser im Mund, als versuche er irgendetwas im Hals los zu werden.

    Gefühlte Stunden warteten sie am Tor, bis auch der Letzte eingetrudelt war. Dann wurden die Konvoiregeln vorgetragen und schließlich der Abmarsch verkündet. Wie ein sich streckender Wurm setzte sich der Konvoi in Bewegung und walzte durch den Minenwald zurück in das Alte Lager.

  • Bummel

    Im Lager machten Gatorp und Tsino noch einen längeren Spaziergang, um die bestellten Dinge in den verschiedenen Läden abzuholen. Beim Schmied ging weit mehr als ihr frisch erschürftes Erz darauf. Für die Spaten mussten sie noch einiges ihrer Rücklagen auf den Tisch legen. In der Taverne stärkten sie sich und ließen sich ein paar schmale Rationspakete schnüren. Das von Gatorp fiel etwas üppiger wie das von Tsino aus. Ein Nebeneffekt des Erfolgs als Minenarbeiter.

    Zuletzt suchten sie Simon, den Schreiner auf, um auch ihn nach Eimern zu fragen. Sie fanden ihn in seiner Schreinerei, so wie sie gehofft hatten.

    „Hi, Simon.“, grüßte Gatorp den rothaarigen Schreiner. Dieser stand gerade in seiner gut ausgeleuchteten Werkstatt über einen Arbeitstisch gebeugt und leimte etwas. Bei dem Gruß sah er auf. „Hallo Gatorp. Tsino.“

    Gatorp reckte den Hals ein Stück, um einen Blick auf das Werkstück werfen zu können. War ein Schreiner am Werk, gab es immer etwas Interessantes zu sehen. Gatorp fragte flach: „Warum warst du heute nicht in der Minenschicht?“

    Simon rührte mit einem stabilen Holzstück fleißig den Leim um, damit er geschmeidig blieb, als er antwortete: „Es gibt Leute, die sind befreit und Leute, die haben keine Lust.“ Er tauchte den Pinsel in den flüßigen Leim und bestrich damit geschickt die Kanten seiner Holzarbeit. „Ich für meinen Teil hatte hier etwas zu tun. Wäre ich zur Mine gegangen, wäre mir der Leim angetrocknet. Das ist mir schon die letzten drei Male passiert und irgendwann reicht es auch mal.“

    Tsino mochte Simons Art. Er handelte nie, ohne vorher zu urteilen. Hatte er erst einmal einen Entschluß gefasst, war er von entwaffnender Ehrlichkeit. So wie jetzt mit seinem Leim. Eine Art, die einem als Buddler eigentlich nur das Genick brechen konnte.

    Simon stellte den Pinsel zurück und presste zwei Holzlatten fest aneinander, während er fortfuhr: „Ich habe den Jägern jetzt genug Erz in den Rachen geworfen für Knochen. Irgendwann will ich auch mal etwas sehen für mein Erz. Etwas anderes, als vertrocknete Leimvorräte.“

    Er zwang sein Werkstück mit Schaubzwingen am Arbeitstisch fest, wischte sich mit einem ergrauten Tuch Leimreste von den Fingern und wandte sich den beiden Buddlern zu. „Aber ihr seid nicht gekommen, um euch das Gejammere anzuhören. Was kann ich für euch tun?“

    Gatorp kam sofort zum Punkt: „Hast du Eimer auf Lager?“

    Simon musste nicht lange nachdenken: „Eimer? Nein. So etwas fertige ich nur auf Anfrage. Wie groß soll es denn sein?“

    Damit war Gatorp offensichtlich überfragt, denn statt einer Antwort gab er ein gedehntes Geräusch von sich. Tsino sah sich auf der Suche nach Inspiration um und antwortete schließlich: „So ähnlich wie ein Brunneneimer. Darf auch etwas kleiner sein. Wie teuer wäre das?“

    Simon warf das Tuch achtlos auf den Tisch, als er meinte: „Das Holz dafür habe ich gerade da. Kostet euch aber 80 Erzbrocken und einen Tag Wartezeit. Heute komme ich nicht mehr dazu.“ Erklärend nickte er zu seinem trocknenden Werkstück.

    Tsino sah fragend zu Gatorp. Der strich sich ausgiebig durch den Bart, ehe er zu Tsino hinüber sah. Entgegen seiner Hoffnung schüttelte er kaum merklich den Kopf. Tsino wandte sich wieder an Simon: „Das ist doch mehr, als wir erwartet haben. Gibst du uns noch etwas Bedenkzeit?“

    „Normalerweise lasse ich mich erst bezahlen, bevor ich etwas anfange.“, sagte Simon und griff wieder zu seinem Leim, um ihn geschmeidig zu rühren, „Aber ich kenn' euch Jungs. Gegen einen Vorschuss fange ich morgen an und ihr bringt mir das restliche Erz, wenn ihr die Ware abholt.“

    „Das ist nett.“, sagte Tsino um einen höflichen Ton bemüht und sah dabei Hilfe suchend zu Gatorp. Der fing den Blick auf und sagte zu Simon: „Wir überlegen es uns noch mal und kommen dann auf dich zu.“

    Simon widmete sich wieder seiner Arbeit und sagte: „Wie ihr meint, Jungs. Bis bald!“

    Sie verabschiedeten sich und zogen ihrer Wege.


    Nach dem Einkauf schlurften sie nur noch erschöpft.

    „Wenn wir morgen noch einmal zur Minenschicht müssen und danach noch graben wollen, breche ich zusammen.“, beschied Tsino auf dem Weg zu Gatorps Hütte.

    „Willst du dich drücken?“, fragte Gatorp, doch er klang, als ob er die Antwort bereits wusste. Es war nicht unüblich, dass nicht jeder Buddler im Lager zu jeder Minenschicht mit ging, obwohl sich die Leute alle Mühe gaben die verfügbaren Kräfte im Lager zusammen zu trommeln. Gatorp fragte weiter: „Wie willst du das anstellen?“

    Tsino meinte: „Lass uns noch vor der Minenschicht verschwinden. Also noch vor Sonnenaufgang.“

    „Und dann zu Innos beten, dass sie die Tore nicht vor Tagesanbruch schliessen. Ist auch schon mal vorgekommen, um die Buddler im Lager zu behalten, bis der Minenkonvoi aufgebrochen ist.“, meinte Gatorp.

    „Wir riskieren es.“, schlug Tsino vor und Gatorp war einverstanden. „Aber du stehst auf und weckst mich.“

    „Versprochen.“, sagte Tsino, der nie leichtfertig etwas versprach.

    Die Nacht war die reinste Tortur. Tsino wollte und wollte es sich nicht gestatten einzuschlafen, da er fürchtete sonst erst wieder wach zu werden, wenn erneut zur Mine ausgerufen wurde. Entgegen aller Vorsätze und allen Kampfes übermannte ihn dann doch der Schlaf:


    Während er noch darum kämpfte aufzustehen, packte ihn etwas an den Handgelenken und zog ihn nach unten. Er strampelte rückings im Sand liegend. An seinen Knöcheln zog wieder dieses schwere Gewicht der Eisenschellen. Die Ketten daran strafften sich schon allein durch ihr Gewicht und zogen ihn nach unten. Mit aller zur Verfügung stehenden Kraft wand er sich, denn er musste ja aufstehen und Gatorp wecken. Schwungvoll warf er sich von der einen Seite auf die andere. Neben sich im Sand konnte er eine linkgsgedrehte Muschel mit blauer Färbung sehen. Bei dem Anblick wehrte er sich umso heftiger. Während er kämpfte, strich ihm eine kalte Hand den Rücken hinunter.

    Tsino schreckte hoch. Irgendetwas hatte ihn im Schlaf gestört, doch er konnte nicht mehr sagen, was es war. Er versuchte sich an seinen Traum zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Zurückgeblieben war nur noch das dumpfe Gefühl unangenehm geträumt zu haben. Das und der Eindruck einer blauen Muschel.

    Um heraus zu finden wie spät es war, schlüpfte er aus der Pennerhütte und beobachtete die Sterne. Dabei stellte er fest, dass es Zeit war, Gatorp zu wecken. Also kehrte er noch einmal in die Hütte zurück, um sich anzuziehen und seine gesamte Habe mitzunehmen. Er hatte keine Probleme sich bei Nacht im Lager zurecht zu finden, da überall die Fackeln in den Gestellen brannten. Für das Entzünden der Lichter wurden Buddler durch das Lager gescheucht und die Patroullien passten zusätzlich auf, dass keine davon in der Nacht herunterbrannte.

    Gatorps Hütte war schnell erreicht, doch da ein Gardist auf Nachtwache in der Nähe stand, wagte Tsino es nicht einfach so hinein zu trampeln. Stattdessen tat er etwas sehr ungewöhnliches und klopfte lautstark an. Halblaut rief er ein paar Mal den Namen seines Freundes, ehe er wieder klopfte. Endlich regte sich drinnen etwas und ein verschlafener Gatorp erschien im Türrahmen. Seine Reaktionszeit war noch nicht auf dem Nullpunkt angekommen und so dauert es eine Weile, bis er erst Tsino erkannte, sich daran erinnerte, warum dieser hier war und ihn schließlich zu sich in die Hütte zog. Die ersten Sätze, die er von sich gab, waren verschlafenes Kauderwelsch und damit absolut unverständlich. Er räusperte sich immer wieder in dem Versuch sich die Stimme zu klären, doch vergeblich.

    Tsino setzte sich auf die Bettkante, während er darauf wartete, dass sein Freund wacher wurde als er selbst, der sich noch ziemlich zerschlagen vor Müdigkeit fühlte.

    Gatorp klatschte sich mehrfach mit den flachen Händen ins Gesicht, um schneller wach zu werden. Zuletzt zog er eine Flasche Wasser aus einem Regal in seiner Hütte hervor und ging nach draußen, um sie sich über den Kopf zu kippen. Wieder drinnen rieb er sich mit einem Fell ab und sah schon frischer aus, auch wenn er immer wieder schniefende Geräusche von sich gab.

    Alles für den Tag nötige hatte er bereits am Vorabend gepackt, sodass ihnen nun nicht viel anderes übrig blieb, als dass Gatorp seinen Beutel aufnahm und Tsino die vortags bei Schattenschmied Toisi gekauften Spaten schulterte. Als sie nach draußen traten, ignorierten sie die Nachtwache in der Nähe und die Nachtwache ignorierte sie. Eine stillschweigende Abmachung und niemand kam in die Verlegenheit arbeiten zu müssen und sich dabei versehentlich die Nerven aufzureiben.

  • Grabung

    Gatorp schniefte an diesem Tag immer wieder. Tsino vermutete seine Gesundheit war durch den Sprung in den Fluß an der kalten Nachtluft angeschlagen, doch da Gatorp das Thema nicht anschlug, vermied auch er es, davon zu sprechen.

    Auf dem Weg zum Schatzversteck passierten sie recht schnell eine Stelle, wo der normale Erdboden wich und von Sand bedeckt war, den der Fluß zur Formung seiner Ufer hier abgelegt hatte. Es war die Seite des Flußes, an der nie jemand vorbei ging, weil der Weg dort an keine Stelle führte, die man auf einem anderen Weg nicht einfacher erreichen konnte.

    Beide hielten es für unangebracht ihre Anwesenheit an diesem wenig frequentierten Ort durch hinterlassene Fußspuren publik zu machen. Also sammelten sie ein paar struppige Pflanzen, banden sie an einem ihrer Äste fest und strichen damit so lange über den Sand, bis der aufgeworfene Boden wieder glatt aussah. Sie behielten ihre Pflanzenbüschel und schliffen sie hinter sich her, um ihre Fußabdrücke genauso schnell zu tilgen, wie sie sie im Sand hinterließen.

    „Ich komme mir ausgesprochen dämlich vor hier draußen den Sand zu kehren.“, meinte Gatorp, während sie ihre Spuren verwischten und schniefte einmal mehr.

    Tsino beruhigte ihn: „Mir ist es lieber im Geheimen etwas ausgesprochen dämliches zu tun, als dass man uns offen bei etwas erwischt, das wir lieber geheim halten wollen.“

    Gatorps Scherz enthielt eine große Portion Ernsthaftigkeit, als er ohne eine Antwort zu erwarten fragte: „Kannst du deinen komplexen Gedankengängen eigentlich noch selber folgen?“

    An besonders schlimmen Stellen kippten sie eine Flasche Wasser aus. Die Nässe hatte einen ähnlichen Effekt wie der Fluß, wenn er über die Ufer trat und bügelte die auf dem Untergrund hinterlassenen Spuren wieder aus. Ihre Behälter konnten sie am Fluß jederzeit wieder nachfüllen.

    Als sie auf ihrem Weg zur Schatzstelle an einem fast undurchdringbaren Gestrüpp abgestorbener Äste ankamen, wussten sie, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Die Zeit hatte dem Baumstück alle Blätter aus der Krone gerissen, so dass das Skelett aus Totholz nicht einmal mehr einen guten Sichtschutz bot. Die Krone hing im Wasser und an den Verästelungen blieb allerlei Schmutz aus dem Fluß hängen.

    Interessantes Treibgut war nicht dabei. Höchstens Müll, den irgendwelche Verbrecher flußaufwärts hinein geworfen hatten. Der Baum hier musste vor vielen Jahren von der Klippe weiter oben herabgestürzt und aufgeschlagen sein. Ob ihn ein Blitz gespalten, oder er an Altersschwäche gebrochen war, ein Holzfäller seine Arbeit schlampig ausgeführt hatte, oder gar ein Tier seine Kräfte daran maß, ließ sich heute nicht mehr sagen.

    Zu sagen war nur, dass der Baum im Weg lag.

    Ähnlich wie in der Nacht zuvor durchquerten sie das Baumskelett, wobei diesmal kein Teto bei ihnen war, der sie führte. Ohne ihn stapften sie das Flußufer entlang.

    Tsino war sich schon gar nicht mehr sicher, ob sie nicht längst an der Stelle vorbei gegangen waren, als Gatorp wie aus dem Nichts meinte: „Innos sei Dank, da ist ja die Markierung. Gut, dass wir die vor unserem Aufbruch in der Nach noch gesetzt haben.“

    Diese Markierung war Nichts weiter als ein paar ausgerissene Schilfhalme, die senkrecht in den losen Sand gesteckt waren. Es sollte so aussehen, als seien zufällig ein paar Pflanzen abseits gewachsen, doch die Rechnung ging nicht ganz auf: Mit verletzten Wurzeln welkten die Pflanzen. Schon jetzt ließen sie die Köpfe hängen, so dass kein Zweifel daran bestand, dass sie von Menschenhand versetzt worden waren.

    „Ich sehe mich hier um. Nur um sicher zu gehen, dass in der Zwischenzeit niemand anderes hier war.“ Mit diesen Worten warf Gatorp das Pflanzenbündel, mit dem er Spuren verwischt hatte, achtlos bei Seite und schritt energisch aus.

    Zur Flußseite hin wurde die Stelle mit dem Schatzversteck von einer Mauer aus Schilf begrenzt. Obwohl die Felswand, die über ihnen aufragte, an ihrer Kante von dornig aussehendem Gestrüpp bewachsen war, gab es für sie keine Sicherheit, dass sie nicht doch von oben gut zu sehen waren. Die letzte Seite, die flußaufwärts zeigte, war vollkommen offen. Hier herrschte an Geräuschen nur das Rauschen des Flußes und Gatorps vereinzelte Schniefgeräusche.

    Tsino stellte das Gepäck ab. Er hatte noch nicht einmal damit begonnen die Grabung vorzubereiten, als er Gatorp sagen hörte: „Hier sind noch ein paar aufgewühlte Stellen.“

    Tsino schnürte die Rationsbeutel ab und fragte zurück: „Fußspuren?“

    „Ja, aber...“ seine Stimme klang rauh. Tsino wusste, dass Gatorps Stimme diesen Klang nur annahm, wenn ihn emotional etwas aufwühlte. Er kannte den Freund gut genug, um zu raten, dass ihn diesmal irgendetwas beunruhigte.

    „Aber was?“, fragte er alarmbereit.

    „Von uns oder von Teto... Ich kann es nicht sagen.“

    Tsino spürte, wie ihm am hellichten Tag eine Gänsehaut die Arme empor kroch.

    „Lass uns nicht weiter darüber nachdenken.“, schlug Tsino laut vor und rieb sich die Arme, „Sondern einfach anfangen.“

    Sie legten ihre Werkzeuge bereit und machten sich daran zu graben. Nicht lange, nachdem sie angefangen hatten, mussten sie einsehen, dass ihr Vorhaben leichter gedacht als getan war. Die ersten Spatenstiche setzten sie noch in vorfreudigen Elan und schippten Spatenblatt um Spatenblatt voll Sand einfach irgendwohin. Bald war der helle Sand gesprenkelt von dunklen Flecken, wo sie eine vor Feuchtigkeit dunklere Spatenladung Sand hingeschippt hatten.

    Gesprenkelt und auffällig.

    Sie entschieden sich fortan den Aushub an einer Stelle hinter dem Schilfsichtschutz abzulegen und schaufelten wieder ebenso motiviert wie planlos weiter.

    Gatorp schniefte einmal lautstark. Er stützte sich hinter dem Schilf auf den Spaten und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Bei alledem frage ich mich, wie das die Leute gemacht haben, die den Schatz hier vergraben haben.“

    Zu zweit fanden sie einen Rhythmus, in dem einer das Spatenblatt einstieß und – während er den Aushub bei Seite warf – der andere einstach und den Aushub ebenfalls wegwarf, sodass wieder Platz für das Spatenblatt des ersten war zu arbeiten.

    Das ständige Graben ging schon sehr bald auf die Schultern und das auf eine Weise, wie sie es von den Minenschichten nicht gewohnt waren. Tsino schnaufte bereits schwer und ein dumpfes Gefühl in der Hand erinnerte ihn noch immer daran, wie er versucht hatte, sie am Schilf aus dem Wasser zu ziehen.

    Auch Gatorps Atem kam stoßweise und war durchsetzt von Schniefgeräuschen, doch er machte verbissen weiter. Sie kamen noch ein gutes Stück tiefer und sahen sich schon bald mit dem nächsten Problem konfrontiert: Je tiefer ihre Kuhle wurde, desto enger wurde sie auch. Tsino und Gatorp rückten unfreiwillig immer enger zusammen, bis sie sich mit der Arbeit behinderten. Tsino nutzte den Vorwand, um zu fragen: „Können wir eine Pause machen?“

    „Ich habe eine bessere Idee.“, sagte Gatorp schniefend, „Ruh' du dich eine Weile aus. Ich mache so lange weiter. Sobald du etwas verschnauft hast, löst du mich ab, damit ich mich einen Moment lang ausruhen kann. In Ordnung?“

    „Gute Idee. So machen wir es.“, stimmte Tsino sofort zu und verliess mit seinem Spaten die Stelle, wo sie gruben.

    In seiner Ausdauer angeschlagen setzte sich Tsino hin und zog eine Wasserflasche vom Gurt, um sich mit unregelmäßigen Schlücken die Kehle zu feuchten. Hin und wieder warf er einen Blick auf seine Handinnenfläche. Das war die Hand, mit der er sich in der Nacht zuvor an den Pflanzen festgehalten hatte. Jetzt noch konnte er deutlich die Schnitte sehen, die ihm die unerwartet scharfkantigen Blätter zugefügt hatten. Ein paar der Stellen hatten sich in einem Ton verfärbt, der mit seiner Hautfarbe nichts gemein hatte. Das leise Brennen und Ziehen, das er bei jeder Bewegung und nach der Anstrengung des Grabens auch in Ruhelage verspürte, erinnerte ihn jedes Mal daran, wie er von der Strömung des Flußes mitgetragen nach den Pflanzen gegriffen hatte.

    Er hoffte einfach, dass keine Entzündung hinzu kam.

    Als Gatorp das Spatenblatt streckte, fühlte sich Tsino, der eigentlich ausgeruht sein sollte, als seien seine Muskeln gelähmt. Aber er wollte weder Gatorp im Stich, noch sich den Schatz entgehen lassen. Also packte er sich seinen Spaten wieder und stellte sich an den Arbeitsort. Er begann zu arbeiten, doch bei jedem Stich flamte der Schmerz wie mit einer glühenden Nadel erneut in seinen Schultergelenken auf, nur um wieder zu dem dumpfen Gefühl der Taubheit zu kommen, ehe das Gefühl mit dem nächsten Stich erneut aufbrandete.

    Er zwang sich lange genug weiter zu arbeiten, bis Gatorps Atem wieder ruhiger kam. Der hustete er ein paar Mal leise anstatt nur zu Schniefen und behalf sich mit einer Flasche Wasser. Tsino wollte das, was sie bisher ausgegraben hatten, ein gutes Stück tiefer werden lassen, ehe er sich wieder ablösen lies.

    Als er kaum noch das beladene Spatenblatt aus dem Boden hebeln konnte, musste er aufgeben. „Du bist wieder dran.“, beschied er Gatorp. Der sprang ohne Umschweife auf die Füße, schniefte einmal kräftig und stellte sich mit seinem Spaten in die Kuhle. Eine Weile lösten sie sich auf die Weise gegenseitig ab. Irgendwann waren sie beide so ausgebrannt, dass sie sich erst einmal auf den trockenen Sand setzten und sich eine Essenspause gönnten.

    Gatorp schluckte beim Essen und Trinken schwerer als gewöhnlich. So laut, dass es selbst Tsino, der ja ein gutes Stück entfernt saß, noch hören konnte. Irgendwann fing Gatorp an nach den größeren Bissen zu husten. Als Gegenmaßnahme feuchtete er sich die Kehle mit etwas zu Trinken, was erneut zu ein paar harten Schluckgeräuschen führte. Danach nahm er kleinere Bissen und sich mehr Zeit sie durchzukauen. Dadurch wurde zumindest das Husten besser, doch die Geräusche blieben, selbst, wenn er einmal keinen Schluck und keinen Bissen hinunterwürgte. Tsino vermutete hinter den Schluckbeschwerden nach wie vor eine durch ihre nächtlichen Erlebnisse angeschlagene Gesundheit. Aber auch jetzt wollte er das Thema lieber nicht anschlagen und knabberte lieber an einem Apfel.

    Nach ihrer Erholungspause schippten sie noch eine ganze Weile weiter, bis sich die Farben der Welt veränderten und von einem anstehenden Sonneuntergang kündeten. Da befanden sie, dass es an der Zeit wäre, aufzuhören.

    Ehe sie den Platz verliessen, maßen sie einmal mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nach, wie weit sie gekommen waren. An diesem Arbeitstag hatten sie recht schnell eingesehen, dass sie nicht gut voran kommen, wenn sie nur planlos darauf los arbeiten.

    „So geht das nicht weiter.“, befand Tsino auf dem Heimweg, „Wir brauchen einen besseren Plan als das, wenn wir ungesehen voran kommen wollen.“

    „Du sagst es.“, pflichtete schnaufend Gatorp bei und schniefte einmal lautstark, ehe er fragte: „Hast du schon irgendeine Idee?“

    „Ja, habe ich.“, konnte Tsino ohne Umschweife antworten, der sich bereits den ganzen Tag über in seinen Pausen Gedanken darüber gemacht hatte, „Das Seil und der Eimer würden uns am schnellsten voran bringen.“

    Gatorp fragte zurück: „Und wie willst du das Erz dafür aufbringen? Wir haben fast alles für die Spaten ausgegeben und etwas sollten wir noch zurückhalten, um uns die Rationen leisten zu können.“

    „Das ist der schwere Teil.“, schnaufte Tsino. Er hatte gut darüber nachgedacht, doch selbst jetzt fiel es ihm noch schwer, den Plan auszusprechen: „Ich verpfände mein Messer an Reldnäh. Dann haben wir schon einmal den Großteil an Erz.“

    Gatorp kraulte sich den Bart, als er Tsinos Ton hörte. „Du hattest so lange auf die Klinge gespart...“, gab er zu bedenken. „Ich weis.“, fiel Tsino ihm ins Wort, „Und ich habe es mir gut überlegt. Bei der nächstbesten Gelegenheit gehen wir zum Außenwelthändler. Unterstütz' mich einfach beim Feilschen.“

    „Lass uns vorher in meine Hütte gehen, damit ich mein Erz holen kann und uns eine Kleinigkeit in der Taverne essen. Ich lad' dich ein, Kumpel.“

    Damit war alles besprochen.

    Als Dank für die Einladung gab Tsino Gatorp einen Klaps auf die Schulter.

  • und eine Flasche voll Branntwein

    Am nächsten Tag rückten sie mit einem Eimer und einem Seil bewaffnet, dafür an Erz deutlich ärmer, wieder an. Tsino hatte sein Messer noch am Vortag an Reldnäh verpfändet und Gatorp einiges von seinem eigenen Erz obendrauf gelegt. Sie beteten zu Innos, dass der Schatz ihnen die Investitionen wieder einspielte. Diesmal gingen sie planvoller vor.

    „Ich fange schon mal an.“, verkündete Gatorp mit dem Stolz eines Minenarbeiters und stellte sich als erstes in die Grube. „Das Schilf hier stört beim Graben.“, bemerkte Gatorp und wich mit dem Kopf erneut einem frechen Blatt aus, das ihn beim Arbeiten im Nacken kitzelte.

    Tsino versetzte: „Ja, aber es schützt auch vor Blicken. Wenn nur der Sand nicht so dämlich nachrutschen würde.“ Tsino suchte sich derweil eine andere, möglichst sinnvolle Beschäftigung und bereitete den Rastplatz vor, wobei er sich absichtlich viel Zeit lies. Nachdem er alles eingerichtet hatte, kehrte er mit dem Wort „Ablösung“ zu Gatorp zurück.

    „Ach was, ich bin noch frisch und ausgeruht.“, lehnte Gatorp zuerst ab und schippte wie um das zu demonstrieren eine besonders üppig gefüllte Spatenladung Dreck bei Seite.

    „Noch. Aber wenn du so weiter machst, bist du es sehr schnell nicht mehr. Wir hatten das alles besprochen und wollten uns darum die erste Zeit früh abwechseln.“

    Endlich stieß Gatorp den Spaten in die Erde. „Hast ja Recht.“, brummte er und kletterte mit einem trockenen Husten aus der Kuhle.

    Tsino übernahm den Spaten, um zu graben und spürte bereits wieder das taube Gefühl in den Schultern. Einen so schlimmen Muskelkater hatte er seit seiner ersten Minenschicht nicht mehr. Gatorp band so lange das Seil am Eimer fest und warf ihn zu Tsino hinüber, damit der den Aushub ab sofort dort hinein schaufelte. Sobald der Eimer voll war, zog Gatorp ihn heran und suchte eine unauffällige Stelle, wo er ihn ausschütten konnte. Auf diese Weise gedieh ihre Arbeit zu einem sichtbaren Loch im Boden.

    Fast früher wie abgemacht stand Gatorp neben Tsino: „Raus da. Ruh dich aus. Jetzt bin ich wieder dran.“ Tsino war froh darum und übergab willig den Spaten. Die Erde im Eimer zu versorgen war auch nicht die leichteste Arbeit, doch es strengte nicht ganz so sehr an wie das Graben, weswegen sie auch vor hatten sich auf diese Weise abzuwechseln.

    So oder ähnlich ging es eine Weile zwischen ihnen hin und her.

    „Wir sollten eigentlich knöcheltief im Schatz stehen.", beschwerte sich Gatorp, der mit angespannten Armmuskeln ein Spatenblatt voll Sand hoch wuchtete. Er liess ein Husten folgen, ehe er sich weiter mockierte: „Stattdessen läuft uns die ganze Grube mit Wasser voll.“

    „Denk an all das Erz...“, schnaufte Tsino. Die Schmerzen in den Schultern hatten sich trotz der Verteilung der Arbeit nicht ganz erholt.

    „Oder...“ Diesmal lies Tsino eine vielleicht zu dick aufgetragene Spur Humor hören, „Willst du mir etwa sagen, dass so ein Minenarbeiter wie du keine Löcher graben kann?“

    „Pah.“, machte Gatorp, der den Scherz sofort aufnahm und gespielt beleidigt zurück gab: „In das Erz hacke ich dir eine Büste des Barons. Sieh zu, wie ich der Erde in der Nase bohre!“

    Gegenseitig trieben sie sich mal mehr mal weniger triezend an und machten mit dem Graben weiter, bis aufgeben nicht mehr für sie in Frage kam.

    Ihr Loch im Sand wurde immer tiefer, wuchs ihnen über die Hüften, die Brust, bis über den Kopf und war schließlich eine ansehliche Grube im Boden und wuchs immer tiefer. Immer tiefer neigte sich auch die Sonne, die ihnen fast den ganzen Tag über bei der Arbeit zugesehen hatte.


    Tsinos Spaten knirschte, als er auf etwas traf und diesmal nicht, weil er Sand getroffen hätte. Er bückte sich und tastete mit der Hand direkt neben dem Spatenblatt. Etwas wickelte sich um seine Finger, als er suchend in der Erde wühlte und endlich konnte er etwas Hartes spüren, das definitiv nicht zum Boden gehörte. Fest schloss er die Finger darum herum und zog den ganzen Klumpen Dreck mitsamt dem Fund heraus.

    „Ich habe etwas“, sagte er laut genug, dass Gatorp es außerhalbder Grube auch hören konnte und liess den Spaten stecken, wo er war, um das Ding mit beiden Händen untersuchen zu können. Den Schmutz versuchte er zu entfernen, doch der klebte förmlich an seiner Hand und zerrte an seinen Fingern. Endlich begriff er, dass er in ein Stück Schnur gefasst hatte, die sich zwischen seinen Fingern verheddert hatte.

    „Was hast du?“, fragte Gatorp zurück, der auf den Grubenboden kletterte und herüber kam. Währendessen grub Tsino mit den Fingern seiner freien Hand zwischen dem Dreck in seiner Handfläche, den er achtlos zu Boden rieseln lies. Stück für Stück legte er den Fund frei: Eine links gedrehte Muschel mit blauer Färbung. Sie war der Anhänger eines Lederbandes, das sich um Tsinos Finger gewickelt hatte.

    Tsino klappte der Mund auf.

    Bestürzt starrte er Gatorp an und brachte kein Wort heraus. Er zeigte ihm, was sich da auf seiner Handfläche befand. Gatorp musterte es und machte große Augen. „Das gibt's nicht...“, entfuhr es ihm mit rauer Stimme. Auch er musterte den Fund ungläubig, ehe er Tsino verstört in die Augen blickte. „Tetos Anhänger!“

    Erschrocken sahen sie sich um, doch von Teto keine Spur.

    Tsino wollte den Anhänger fallen lassen, doch die Schnur – die Halskette – hatte sich um seine Finger gewickelt und liess nicht los. So baumelte der Anhänger nur von seiner Hand und tanzte direkt vor seinen Augen. Gatorp fragte einmal ohne dabei zu schniefen: „Aber... Wie kann der so tief unter der Erde sein?“

    „Nein...“, stöhnte Tsino auf. „Dafür muss es eine Erklärung geben...“ Er dachte nach, ob ihm etwas einfiele und seine Gehirnwindungen brannten vor Anstrengung. „Das muss... eine Kopie sein...“, würgte er hervor und als er seine eigenen Worte hörte, fühlte er sich sicherer.

    "Eine Kopie?", fragte Gatorp noch nicht überzeugt nach. Er schniefte hörbar nervös.

    „Ja, genau. Es gibt mehrere Anhänger. So wie bei Hosen, verstehst du? Die werden gefertigt und sehen alle gleich aus. Genau so muss es bei dem Anhänger auch sein.“ Erleichterung durchflutete ihn, als er sich diese Erklärung zurecht gelegt hatte. Lückenhaft wie sie sein mochte, beruhigte sie ihn dennoch zutiefst und er begann sich daran festzukrallen wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm.

    „Ich weis nicht...“, machte Gatorp und schüttelte sich einmal, als fühle er sich unwohl, „Die Muschel hat eine sehr eigenartige Form.“

    „Es gibt viele Anhänger, die alle gleich aussehen. Der hier ist handgefertigt, nicht gewachsen, verstehst du? Teto hat eben nur zufällig einen. Und einer...“, er wies mit der schmutzigen Hand, von der noch immer der Anhänger wie ein Hohnbild baumelte, auf das Loch, das sie bisher ausgehoben hatten.

    „Ist beim Schatz?“, fragte Gatorp nicht restlos überzeugt zurück, wie seine gehobene Augenbraue vermuten liess.

    „So ist es!“, bestätigte Tsino mit etwas zu viel Nachdruck, „Vermutlich, damit Teto beweisen kann, dass ihm ein Teil des Schatzes gehört.“ Jetzt machte er sich daran den Anhänger von seiner Hand zu lösen und warf ihn bei Seite. Dabei ignorierte er geflissentlich die Scherben von Perlmutt, die beim Zusammenstoß mit dem Spatenblatt aus dem natürlich gewachsenen Anhänger heraus gebrochen waren. „Bei dem Schatz sind sicher noch ein paar mehr Schmuckstücke. Seien wir also nicht überrascht.“ Im selben Maße stolz wie erleichtert die Situation durch seine Erklärung gelöst zu haben, packte er sich erneut die Schaufel.

    Gatorp schien noch einen Rest Zweifel zu verspüren, denn anstatt wieder aus der Grube zu klettern, blieb er in Tsinos Nähe stehen und kraulte sich den Bart, wie er es meistens tat, wenn er intensiv über etwas nachdachte. Tsino rammte davon unbeeindruckt den Spaten in die Erde, doch das Blatt stieß diesmal nicht so tief wie beim letzten Mal. Irgendein Widerstand bremste ihn schon kurz nach der Oberfläche ab. „Ich glaube, ich habe noch etwas.“, sagte Tsino. Er kratzte mit dem Spatenblatt über den Widerstand und löste so die Erde, die er bei Seite schaufelte.

    „Schon wieder?“, machte Gatorp und schniefte. Man hörte seiner rauhen Stimme an, dass er nervös war.

    Tsino kratzte erneut über den Widerstand, der nur noch von einer dünnen Schicht Boden bedeckt sein konnte. Die Ränder des Werkzeugblattes strichen über den Rand der Grube und lösten dort versehentlich wieder etwas Dreck, der auf den Grund der Grube rieselte und sie weiter vom Schatz trennte. Tsino schaufelte sie unwirsch weg.

    „Es scheint etwas größeres zu sein. Da, Stoff!“ Für einen kurzen moment konnte der Spaten braunes Sackleinen frei legen, das die Farbe von Erde angenommen hatte, ehe dieselbe wieder nachrutschte und ihn erneut bedeckte.

    Gatorp sah ihm angespannt zu und schniefte dabei in unrgelmäßigen Abständen. Das Loch war annähernd trichterförmig und an seinem Boden zu eng, um vernünftig nebeneinander schaufeln zu können. Tsino gab sein Bestes den Untergrund schneller weg zu graben, wie er nachrutschen konnte. Es war fast wie ein Ertrinkender, der sich verzweifelt jedes Mal zurück an die Wasseroberfläche kämpft, nachdem das Meer ihn wieder ein Stück tiefer gezogen hat. Fieberhaft arbeitete er weiter, während sein Herz einen Satz machte. ‚Der Schatz! Zum Greifen nah!’, hämmerte es in seinem Kopf wie ein Mantra.

    Endlich lag der Fetzen Sackleinen frei. Aufgeregt rammte Tsino den Spaten senkrecht in die Erde, um mit den Händen weiter wühlen zu können. „Bestimmt ist der Schatz in den Sack eingewickelt, damit er die Zeit im Boden besser übersteht.“, überlegte Tsino laut in seiner Gier, während er eilig mit der Hand den Schmutz vom Leinenstoff wischte, zwischen seinen Fäusten zusammenraffte und mit beiden Händen links und rechts bei Seite warf, die Augen nur noch auf den Fund fixiert.

    „Erzbrocken vielleicht. Oder eine Schatzkiste. Noch mehr Schmuckstücke... oder... teurer Stoff.“, sinnierte er dabei hörbar. Seine Hände strichen über das rauhe Leinen, dessen Struktur stellenweise von einer schmierigen Schicht Erde verklebt war. An einer aufgerissenen Stelle blieb er mit den Fingern hängen. Dort endete das kratzige Gewebe und seine Finger strichen kurzzeitig über etwas samtweiches, ehe seine Fingerkuppen über den aufgeworfen Grat auf der anderen Seite des Risses schrammten.

    „Wie fühlt es sich an?“ Gatorp reckte sich, um die Stelle besser sehen zu können, während Tsino wie besessen weiter grub. Seine Hände legten eine Stelle frei, die nicht von dem groben Sackleinen bedeckt waren. Er ertastete auch unter dem rauhen Stoff eine glatte Form. Es war nicht zu sagen, welche Art von Schatz so nachgiebig sein konnte. Tsino teilte Gatorp seine Beobachtungen mit: „Fest... und trotzdem weich... irgendwie.“

    „Vielleicht wirklich teurer Stoff?“, begann Gatorp zu raten, während Tsino wie ein Wahnsinniger mit vor Aufregung fliegenden Händen die freigelegte Stelle vergrößerte. Tsino gab mittlerweile keuchend zu bedenken: „Aber die blasse Farbe ist etwas seltsam für Stoff.“

    Gatorp schniefte und riet noch einmal: „Elfenbeinfarbene Seide vielleicht?“

    „Das macht Sinn.“, gab Tsino zu, doch irgendwie passte seine Vorstellung von der Farbe Elfenbein nicht wirklich zu den gelb-grünlich angelaufenen Stellen, die da unter der Erde zum Vorschein kamen.

    Beherzt rammte er seine Finger in den Dreck und packte zu, in dem Versuch den Sack mit dem Schatz aus dem Loch zu ziehen, doch der rührte sich kein Stück. Er saß fest. Der größte Teil musste noch immer begraben sein, weswegen es unmöglich war, ihn mit einer Hand heraus zu heben. Tsino grub die Hand tiefer in den Dreck, umklammerte die nur stückweit freigelegte Stelle mit den Fingern und als er erneut energisch zog, erspürten seine Finger in dem Druck etwas Hartes unter der weichen Polsterung. „Da ist etwas in dem Stoff eingewickelt.“, sprach er seinen nächstbesten Gedanken aus.

    Gatorps Stimme hörte sich vor Aufregung ganz rauh an: „Vielleicht ein silberner Kerzenleuchter? Macht Sinn den in Seide einzwickeln, damit das Silber nicht beschlägt.“

    „Es fühlt sich an wie...“ Es fühlte sich an, als packe Tsino jemandem mit der Hand an der Schulter, um ihn gewaltsam herumzudrehen. Dabei spürte man immer die Schulterknochen der anderen Person gegen die eigenen Finger drücken. „Knochen!“ Tsino liess wie von der Blutfliege gestochen los. Der Schwung liess ihn hintenüberfallen und auf dem Hosenboden landen. Gatorp sah ihn verwundert an. Schlagartig wurde Tsino auch klar, warum er keine Stoffstruktur auf der vermeintlichen elfenbeinfarbenen Seide fand. Diese weichen Stellen waren keine Seide... „Es war Haut!“ Tsino realisierte nicht einmal, dass er die Worte laut ausgerufen hatte. Von seinen eigenen Sinneseindrücken nahezu bewußtlos geschlagen starrte er blicklos vor sich hin.

    Gatorp spannte sich alarmiert an. Er griff sich Tsinos liegen gebliebenen Spaten und nahm ihn in Anschlag, als ginge es darum ihn gleich einem wilden Tier auf den Kopf zu donnern. Ungeachtet der beengten Platzverhältnisse schob er sich an Tsino vorbei, um mit eigenen Augen sehen zu können. Den Rücken zu Tsino und breitbeinig aufgebaut, stocherte er prüfend in dem Loch herum, das Tsino den Schreck seines Lebens verpasst hatte. Schließlich fuhr auch er zurück.

    „Teto.“


    Brennende Flüßigkeit rann durch Tsinos Kehle und er schluckte sie bereitwillig. In sich zusammengesunken saß er auf dem Sand und wartete ein paar Momente, in denen er spürte, wie das ölige Brennen seine Kehle hinunter und in seinen Magen floß. Es dauerte quälend lange, bis es von dort wieder aufstieg, wie ein Gift durch seine Adern ausbreitete und schließlich mit benebelnden Dunst endlich in seinem Kopf ankam. Obwohl sie auf warmen Sand in der prallen Sonne saßen, war Tsino kalt bis auf die Knochen. Gelegentlich rann ein Zittern durch seine Finger.

    „Geht es wieder?“, fragte Gatorp. Die Stimme des Freundes klang so rauh, wie Tsinos Kehle sich anfühlte. „Gleich wieder...“, krächzte Tsino und trank noch einen Schluck des Branntweins.

    Der entfernte Geschmack von Äpfeln breitete sich wie eine Wolke in seinem Mund aus. Eigentlich einen Geschmack, den er mochte, vermochte er ihn nach diesem Fund kaum zu trösten. Das Aroma trug die Erinnerung an die Frucht in sich. Nicht unähnlich der Art, wie der Rauch eines Feuers entfernt den Geruch der Gegenstände mit sich brachte, die es verzehrt hatte. Der flüssige Brand rann erneut Tsinos Kehle hinunter und der gab ihm genügend Zeit, sich von dort auszubreiten. Seine Fingerspitzen wurden bereits taub und das Zittern legte sich langsam. Für die Flasche hatten sie ihre Verdienste aus der Mine zusammengekratzt und sie eigentlich mitgenommen, um auf ihren Sieg anzustoßen, wenn sie den Schatz gelüftet hätten. Jetzt nutzten sie die Flasche, um den Schreck über ihren Fund zu überwinden.

    Innos' Ironie.

    Immer wieder liesen sie die Flasche hin und her wandern und stotterten mechanisch dieselben Sätze „Geht's wieder?“ – „ Geht gleich wieder.“ in Abständen vor sich hin, von denen sie selbst nicht sagen konnten, ob es sich dabei um Minuten oder Stunden handelte.

    Je länger sie dort saßen und nicht sagen konnten, ob sie gerade versuchten ihre Gedanken zu klären oder zu benebeln, desto klarer wurde Tsino eines: Sie mussten einfach weiter machen.

    „Gatorp...“, begann er und schluckte einmal schwer, obwohl er keinen Branntwein im Mund hatte. Gatorp sah ihn an, als warte er darauf, dass Tsino irgendetwas verkündete, das die Lage entschärfte und sie beide aufatmen liess. „Hm?“

    „Ich will sicher gehen, dass es nicht... Das es nicht dieser Teto ist.“ Er hob den Blick und sah Gatorp fest an. „Anhänger hin oder her, aber es ist nicht Teto, hörst du? Das ist irgendjemand, den man verschwinden lies und es ist nur ein böser Zufall, dass wir beim Graben auf seine Leiche gestoßen sind.“ Tsino hoffte, wenn er es nur laut genug sagte, dass er dann selbst daran glauben konnte.

    Mit unveränderten Nachdruck fuhr er fort: „Wir wollen doch verdammt noch mal reich werden... und da drüben liegt unser Schatz. Was will uns der Tote schon? Wir wären schön blöd, wenn wir uns jetzt abschrecken ließen, nur weil da eine Leiche liegt.“ Er versuchte es mit einem Lachen, aber es klang in seinen Ohren so kläglich, dass er es schnell wieder aufgab und wieder in seinem vorigen, nachdrücklichen Tonfall vorfuhr: „Ich gehe da jetzt hin und grabe ihn aus.“

    Er konnte die Zweifel in Gatorps Augen sehen, aber auch die Dankbarkeit, mit dem der Freund die mögliche Erklärung aufnahm. Selbst dieser kleine Funke war es genug, um auch Gatorps Eifer wieder zu entfachen: „Recht hast du. Für den Schatz gehen wir zwar über eine Leiche... aber immerhin haben wir ihn nicht selbst umgebracht.“

    Im Gegensatz zu Tsino versuchte er es gar nicht erst mit einem Lachen, sondern zog nur andeutungsweise die Mundwinkel hoch. Auch er schluckte ein paar Mal so heftig, dass das Geräusch eher an ein Würgen erinnerte.

    Trotzdem rappelte er sich auf, als Tsino aufstand. Tsino war ihm unendlich dankbar, dass er ihn jetzt nicht alleine ließ. Er nahm all seinen Mut (und den Spaten) zusammen. Solcherart bewaffnet trat er wieder auf die Grube zu und linste hinein.

    Das Stück Stoff und die Stelle bleiche Haut waren noch immer zu sehen. Wie eine Augenhöhle in der Leere eines Schädels starrte es zu ihm hoch. Tsino blieb am Rand stehen und sammelte sich. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum sich seine Beine so weich wie Apfelpudding anfühlten. Als Gatorp neben ihn trat und ebenfalls auf das Bild des Schreckens hinab sah, gab ihm das den entscheidenden Ausschlag sich zu bewegen.

    Mit Knien, die ihm nicht ganz gehorchen wollten, kletterte er wieder in das Loch hinunter. Es kam ihm hier unten vor wie eine andere Welt. Alle Geräusche von oben waren gedämpft und drangen nur wie durch eine geschloßene Tür zu ihm durch. ‚So muss es im Innern eines Topfes sein, auf den man den Deckel gesetzt hat’, ging es ihm durch den Kopf. Er war selbst fasziniert davon, was für abstruse Gedanken aufkamen, wenn die eigene Welt gerade durch ein schockierendes Ereignis aus den Fugen geriet. Kein direktes Licht fiel hier hinunter, wo selbst mitten am Tag die Schatten einen Spielplatz gefunden hatten. Mit dem unumstößlichen Wissen, dass direkt unter seinen Füßen eine Leiche lag, fühlte er sich auf dem Boden des Lochs dem Tod näher als dem Leben.

    ‚Du wirst auch eines Tages so enden.’, sagte er sich in dem Versuch sich an die obskure Situation zu gewöhnen ‚Tot. Das ist ganz natürlich.’ Trotz seiner großspurigen Versprechungen brachte er es nicht über sich noch einmal mit den bloßen Händen im Boden zu graben und die Leiche zu berühren. Er verlegte sich darauf nur noch mit der Schaufel in der Hand zu arbeiten. Dennoch war ihm jedes Mal sehr unwohl, wenn das Schaufelblatt gegen den Toten drückte. Stieß sein Werkzeug auf etwas Festes im Boden, ergab sich unfreiwillig in seinem Kopf das Bild der Leiche, die von dem scharfen Spatenblatt angestoßen wurde.

    Die ersten Momente war er sich gar nicht bewußt, was er eigentlich tat, so abgelenkt war er durch die ungewohnte Situation. Planlos kratzte er am Boden oder schob etwas Erde von hier nach da. Irgendwann wurde ihm klar, dass er eines nicht wollte: Er wollte keinesfalls den Kopf der Leiche zuerst ausgraben. Nach dem Fund des Anhängers drückte die absurde Vorstellung auf ihm, dass er Tetos Gesicht sehen würde. Im Gegensatz zu dem, was er Gatorp erzählt hatte, war er sich trotz allem nicht sicher, dass die Leiche nicht doch leibhaftig Teto war. Dafür saß ihm der Schreck einfach noch viel zu tief in den Gliedern.

    Das würde ihm Nichts anderes übrig lassen, als zuerst in Richtung der Beine auszugraben. Noch immer mit einem ungeheuren Respekt und von einer irrationalen Angst besessen, die ihm wie Würmer durch die Eingeweide kroch und von der er bei aller herrschenden Vernunft nicht sagen konnte, wo sie ihren Ursprung hatte, begann er die Erde abzutragen. Er fixierte sich so weit wie möglich auf die Spitze seines Werkzeuges und versuchte alles darum herum auszublenden.

    Die ersten Spatenstiche um den leblosen Körper herum fühlten sich an wie Hausfriedensbruch, doch nachdem er den Spaten und eine große Ladung voll Erde hin und her bewegt hatte, ging es ihm schon leichter von der Hand. Er konzentrierte sich einfach auf die Bewegungen des Grabens selbst und verbot sich jeden weiteren Gedanken an die Umstände, in die sie hier geraten waren. Selbst Gatorp, der vermutlich noch am oberen Rand der Grube stand, vergaß er und schippte einfach stupide Erde von einem Fleck zum anderen.

    Der Rhythmus ergab eine eigentümliche Musik und ergänzte sich wunderbar mit der Anspannung in seinem Kreuz. Tschak - schlurp - fwumph, machte die Erde, die er mit dem Spaten bearbeitete. Tschak - schlurp - fwump.

    Knirsch!

    Tsino fror mitten in der Bewegung ein. ‚Das Geräusch gehörte aber nicht dazu.’

    Von dem unerwarteten Klang aus seiner schützenden Aphatie gerissen, sah Tsino zum ersten Mal nach, was er eigentlich genau gemacht hatte. Die Stelle, wo er zuerst auf die Leiche gestoßen war, ließ sich genau erkennen:

    Dort war noch der Fetzen grobes Sackleinen, dann die Stelle, wo unter der dunklen Erde die totenblasse Haut zum Vorschein gekommen war. Dort entlang hatte er weiter gegraben und wie ein Schlauch zog sich das verfärbte Fleisch in gerader Linie durch das Erdreich, nur um dann einen Knick zu beschreiben und sich zu einer knochigen Stelle zu verjüngen.

    Tsino ignorierte geflissentlich, wo handgeknüpfte Lederschnüre die verjüngte Stelle umspannten, denn die dreckverschmierten Knoten sahen genauso aus wie der Schmuck, den der lebende Teto um die Handgelenke trug.

    Tsinos Spaten verharrte unweit des Knicks, der sich durch eine runzlige Stelle als Ellenbogen erkennen liess. Mit einem Schaudern sah er sich die Form an. Zweifellos hatte er hier einen Arm ausgegraben. Die Formen stimmten mit Schulter, Ellenbogen und Unterarm bis hin zum Handgelenk überein.

    Mit den neuen Erkenntnissen wurde ihm klar, dass er zuerst auf die Schulter des Toten gestoßen war. Das passte auch zu seiner Empfindung, als er versucht hatte den vermeintlichen Schatz mit einem Ruck aus dem Erdreich zu ziehen. Ihn schauderte noch immer beim Gedanken daran, wie er eine Leiche an der Schulter gefasst hatte. Der braune Sackleinenstoff musste entsprechend ein Ärmel sein. Ob der nur verwest, oder schon immer in so schlechten Zustand gewesen war, vermochte Tsino nicht zu sagen und er wollte sich keine unnötig detailierten Gedanken zu dem Thema machen.

    Stattdessen musterte er die Stelle, wo das unpassende Geräusch den Rhythmus unterbrochen hatte. Den Spaten in seiner Hand stieß er ein paar Mal prüfend dort ins Erdreich. Der Spaten drang nur einen Finger tief durch Erde, ehe er gegen irgendetwas Festes klopfte. „Äh... Gatorp?“ Ob Tsinos Stimme auch in Wirklichkeit so aufgerieben vor Angst klang, wie sie sich in seinen eigenen Ohren anhörte?

    Er vernahm ein undeutliches Brummen zur Antwort, ehe Gatorp mit rauher Stimme hinunter rief: „Ja?“ Tsino bildete sich ein auch bei ihm noch die aufgeriebenen Nerven heraus zu hören.

    „Hier ist etwas.“, meldete er hinauf.

    „Ein Toter.“, stellte Gatorp rauh fest.

    Tsino stammelte: „Nein. Ich meine Ja. Also.... Auch. Er liegt auf etwas!“

    Tsino machte vor Schreck einen Satz, als Gatorp unerwartet neben ihm landete. Er war direkt vom Rand der Grube gesprungen. Tsino scharrte demonstrativ mit dem flachen Spatenblatt über den Boden. Holzstruktur kam unter der Erde zum Vorschein.

    „Das ist er!“ Gatorps Stimme überschlug sich fast und schien bei dem Anblick jeden Gedanken an den grausigen Fund zu vergessen. „Wir haben den Schatz gefunden!“, jubelte er. Tsino lies sich davon nur zu gern anstecken und spürte auch schon, wie seine Mundwinkel zu einem Höhenflug ansetzten.

    Der ganze Schreck würde sich nun endlich auszahlen. Sie konnten sich den Schatz schnappen und waren reich. Tsinos Herz hüpfte. Wo zuvor die bleierne Müdigkeit eines Muskelkaters in seinen Muskeln brannten, breitet sich nun ein ganz anderes Gefühl aus. Obwohl mit beiden Füßen fest auf dem Boden, unter dem ein Toter ruhte, fühlte er sich, als schwebe er.

    Gatorp schlang ihm überschwänglich vor Freude einen kräftigen Arm um die Schultern und rüttelte ihn. Tsino revanchierte sich wie blöde grinsend, indem er ihm immer wieder gegen die Schultern klopfte. „Der Schatz, der Schatz!“, wiederholte er atemlos und war so aufgeregt, dass er anfing mit den Füßen zu tänzeln, wo Gatorp schon lange außer sich herumstapfte. „Wir haben ihn!“

    Ab da ging ihnen die Arbeit deutlich einfacher von der Hand. Seit ihrem freudigen Ausbruch über den Fund dessen, was sie für die Schatzkiste hielten, kam Tsino die Gegenwart eines Toten nicht mehr so schlimm vor. Er fragte sich, ob die ausgebrochene Hysterie ein frühes Zeichen für anstehenden Wahnsinn war. Bald darauf fragte er sich nur noch, ob es denn eine Rolle spielte.

    Gatorp schien solche Bedenken nicht zu kennen oder zumindest nicht zu zeigen. Immer wieder schniefte und schluckte er schwer. Gedanklich hatte er den Schatz längst gehoben und erzählte dauernd, was er sich von dem Erz alles leisten würde. „Erst einmal ziehe ich in eine größere Hütte um. Dann leiste ich mir eine Waffe – eine echte Waffe. Die, auf die ich schon seit Monaten spare. Ich frage Paslov, ob er mich trainiert.“ Tsino liess sich dankbar anstecken.

    Sie arbeiteten wieder beide in dem Loch, obwohl sie sich dabei mehr behinderten, als gegenseitig halfen. Wieder so planlos wie am Anfang schaufelt sie mal hier mal da und brachten die Erde nur dann in großen Schippenladungen nach oben, wenn sie bereits einen ansehlichen Teil davon gelockert hatten.

    Einmal unterbrach Tsino die Arbeit und stieß Gatorp an, um dessen Aufmerksamkeit zu erhalten. Er nahm eine Hand voll Erde auf und warf sie hoch in die Luft, als seien es Goldmünzen. Natürlich kamen sie senkrecht wieder herunter und bespritzten die beiden. Tsino grinste Gatorp so breit an, dass seine Mundwinkel schmerzten. Der lachte rauh, nur um dann wieder schwer zu schlucken, brachte selbst eine Hand voll Erde an sich und warf sie nach Tsino. Der kicherte albern und sie arbeiteten weiter.

    Während sie versuchten den Schatz zu heben wurde es unausweichlich, dass sie auch den Toten mit ausgruben. Je mehr Teile sie von ihm frei legten, desto klarer trat Tsino das Bild Tetos vor Augen. Der schüchtern lächelnde Teto mit seiner blassen Haut, der dunklen Lockenmähne, dem blitzenden Ohrring und seinem Muschelanhänger. Nach dem groben Sackleinenhemd trat eine grüne Buddlerhose zu Tage und die schweren, dunklen Schuhe dazu. Alles war von feuchter Erde verklebt. Nachdem sie sich so lange darum herumgemogelt hatten, kam der Moment, in dem sie auch den Kopf ausgraben mussten.

    Mit bleiernen Knochen und benebelten Gedanken starrten sie auf das Bild, dass sich ihnen nach all ihrer harten Arbeit nun bot.

    Es hätte nicht erst des funkelnden Goldohrringes bedurft oder der dunklen Lockenpracht, die schmutzverklebt um das bleiche, mit dunkler Erde verschmierte Gesicht lag. Tsino sah Teto ins Gesicht. Das war unverkennbar. Blass, schmutzig und in einem Verwesungszustand, der in Tsino Übelkeit aufsteigen liess.

    Der Tote lag auf einer Kiste, als sei er bei einem Erzkonvoi gestürzt und mit dem Oberkörper auf seiner Last gelandet. Ein Arm lag locker über dem Holz, dessen düstere Farbe sich kaum von der dunklen Erde abhob. Am beunruhigendsten war der abgebrochene Spieß, der sich von hinten nach vorn durch den Brustkorb gebohrt hatte.

    „Jede Wette, dass das die Todesurchsache war und nicht das Verbuddeln.“, sagte Gatorp rauh mit Blick auf die Szene.

    „Wie...“, stammelte Tsino betäubt „Wie kommt Teto nur hier her? Wir haben ihn doch gesehen... Er hat mit uns geredet...“ Seine eigene Stimme klang ihm fremd.

    „Also eines steht fest...“, sagte Gatorp indem er sich die Gänsehaut an den nackten Armen rieb, „Diese Geschichte wird immer unheimlicher.“

    „Ja.“, pflichtete ihm Tsino nicht ohne Würgen bei, „Aber eines weis ich ganz sicher: Wenn wir dem nicht nachgehen, dann kann ich nie mehr ruhig schlafen.“

  • Fundgrube

    Es bedurfte fast der ganzen Flasche des restlichen Brantweins, ehe sie ihre Nerven wieder weit genug unter Kontrolle hatten. Sie rollten den Toten mit Hilfe ihrer Spaten vom Schatz und lösten die Kiste aus dem Erdreich. Tsino hätte schwören können, dass Tetos tote Augen ihn direkt anblinzelten. Eine kalte Hand schien in seinem Nacken zu ruhen, so lange er in der Grube stand.

    Tsino standen die Haare zu Bergen, als er sich daran machte die Kiste neben dem Toten auszuheben. Zuletzt stieß er den Spaten unter den Rand und drückte ihn hoch. Mit einem Knirschen löste sich auch der Boden der Truhe aus dem Erdreich. Die Bewegung lies den Toten eine wippende Bewegung machen. ‚Hat er da eben mit dem Kopf gewackelt?’ Obwohl er wusste, dass er tot war, war Tsino flau im Bauch.

    „Innos, lass den Toten nicht wieder aufstehen...“, stammelte Tsino, als er die Kiste fest im Griff hatte. ‚Bringen wir es hinter uns.’, sagte sich Tsino und riss die Kiste mit einem Ruck heraus.

    Mit Grauen starrte er auf die Leiche, deren Oberkörper von der Kiste bei Seite gestoßen wurde und nun in veränderter Haltung auf dem Boden lag. ‚Schwebt dort nicht ein Lächeln um seine Mundwinkel? Genau so lächelt Teto.’ Er wandte sich ab, um den Toten Teto nicht mehr sehen zu müssen und beschäftigte sich damit, die Kiste am Seil festzumachen.

    Gatorp war mittlerweile wieder nach oben geklettert und wartete außerhalb der Grube darauf, dass die Kiste ans Seil gebunden wurde.

    Tsino schlang das Seil um ihr Fundstück.

    Während er es am Holz verknotete, war ihm als höre er ein leises Klicken in seinem Rücken. ‚So haben Tetos Anhänger geklackert...’ In das Geräusch mischte sich Tsinos heftiger werdendes Atmen. Als er die Spannung, die in seinem Nacken kribbelte, nicht mehr aushielt, fuhr er herum, bereit einen Schrei auszustoßen.

    Doch da war nichts.

    Er reckte sich ein Stück, um besser sehen zu können. Der Tote lag noch im Grab. Genauso wie er ihn zurück gelassen hatte.

    „Wo bleibst du denn?“, rief Gatorp von oben und ruckte energisch am Seil

    „Warte, warte.“, gab Tsino entnervt zurück. Er sicherte den Knoten und gab dann seinerseits dem Seil einen kurzen Ruck. „Jetzt!“

    Schon zog Gatorp oben an. Tsino warf einen Blick zurück auf die Leiche, während die Kiste neben ihm langsam vom Boden abhob und nach oben schwebte. Doch in der Nähe des Toten hielt er es nicht aus.

    Rasch sprang er auf den Grubenrand zu und kletterte, beflügelt vor Angst hinauf. Noch vor der Kiste erreichte er den oberen Rand und begann Gatorp beim Ziehen am Seil zu helfen.

    Bald darauf war auch die Kiste bei ihnen. Fieberhaft lösten sie das Seil wieder. Fast kamen sie sich vor als packten sie eine Geschenk aus, von dem man das verknotete Band löst. Gespannt klappten sie den Kistendeckel hoch und betrachteten den Inhalt.

    Tsino hörte seinen eigenen Atem in einem erleichterten Seufzen stocken.

    „Das hat sich wirklich gelohnt.“, stellte Gatorp bei dem Anblick matt fest.

    Keinem von beiden war nach dem Leichenfund beim Schatz jetzt noch nach Luftsprüngen zu Mute. Dennoch musterten sie die Menge und versuchten nahezu krampfhaft irgendwie Freude daran zu entwickeln. Die Sonne senkte sich immer tiefer. Der Branntwein zog sich langsam aus ihren Knochen zurück, ohne den Nebel in ihrem Kopf zu lösen und machte stattdessen einer unwiderstehlichen Müdigkeit Platz.

    „Wo verstecken wir den Schatz jetzt am besten?“, fragte Tsino.

    Gatorp starrte ihn an als habe er den Verstand verloren. „Wovon redest du?“, fragte er ihn laut, „Wir haben ihn gerade erst ausgegraben! Warum sollten wir ihn jetzt wieder verstecken!?“

    Tsino erwiderte: „Aus dem Nichts kommen zwei Buddler von draußen und haben eine bis an den Rand gefüllte Schatzkiste dabei... Wir sind viel zu auffällig!“

    „Stimmt. Lass mich nachdenken...“, Gatorp kniff die Augen und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Doch schon einen Herzschlag später warf er frustriert die Hand in die Luft: „Ach was, hol erst mal den Branntwein.“

    „Also da kann wirklich nur eine Schnapsidee raus kommen.“, meinte Tsino zwar in einem skeptischen Ton, doch der Vorschlag gefiel ihm eigentlich. Jetzt, wo sie die Kiste dem Toten entrissen hatten, war ihm danach ihren Sieg auch ein kleines bisschen zu feiern.

    Jeder nahm einen tiefen Schluck davon. Sie setzten sich hin, rauchten je einen Stengel Sumpfgras und erholten sich erst einmal. Nun, wo sie den Schatz gehoben hatten, waren sie in stillen Einverständnis darüber, dass sie sich einen Moment der Pause verdient hatten.

    „Wir stopfen uns erst einmal die Beutel damit voll.“, meinte Gatorp, „Die Wachen kontrollieren Buddler nur, wenn sie mit auffällig großen Fässern, Kisten und Säcken um die Ecke kommen. Aber nicht bei der alltäglichen Menge, die jemand am Gürtel trägt.“

    „Alles wird aber nicht hinein passen.“, gab Tsino zu bedenken.

    Gatorp fragte mit rauher Stimme nach: „Und was machen wir dann mit dem Rest? Einfach hier lassen, wo ihn jeder vorbei spazierende Sumpfmolerat mitnehmen kann kommt nicht in Frage!“

    Tsino antwortete darauf nichts mehr, sondern nahm tiefe Atemzüge des Stengels. Im Gegensatz zu Gatorp hatte er damit aufgehört es im Mund mit Apfelbranntwein zu mischen. Es dauerte lange, bis seinen träge gewordenen Gedanken die nächste Idee entkam:

    „Wir bedecken die Kiste mit Zweigen und behaupten wir waren Feuerholz schlagen.“

    Gatorp prustete los, als habe er einen guten Scherz gemacht, nur um im Anschluss erstickt zu husten. Mit dem Kraut im Kopf sahen seine Gesichtszüge bereits etwas entspannter aus. Während der Bergung des Schatzes hatte seine Mimik mindestens so angespannt ausgesehen wie sich Tsino gefühlt hatte. Nachdem Gatorp seine Stimme halbwegs geklärt hatte, frage er nach: „Du willst hier draußen wirklich noch einen Baum fällen, nur um den Schatz zu verstecken?“ Ein lautes Lachen konnte er sich gerade so verkneifen.

    „Wir nicht.“, stellte Tsino fest, „Das hat der Blitz für uns gemacht.“

    Er drehte den Kopf und grinste Gatorp schief an. Der grinste zurück und meinte flach: „Von uns beiden hast wirklich du den besseren Stengel erwischt.“

    Tsino antwortete nicht, sondern hob die Hand und deutete damit den Fluß hinunter in die Richtung, wo die gestürzte Baumkrone lag, die sie auf ihrem Weg zum Schatzversteck noch bisher jedes Mal hatten überwinden müssen. Gatorp richtete sich ein Stück auf, um in die Richtung sehen zu können, in die Tsino wies. Tsino konnte im Gesicht seines Freundes sehen, wie sich dessen Augen in Erkennen weiteten.

    „Oh.“, machte Gatorp und hustete laut, ehe er ansetzte: „Du meinst...“

    Tsino nickte nur und lächelte schwach.


    Nachdem sie den Schatz gehoben hatten, war eigentlich jeder von beiden reif für einen frühen Feierabend. Dennoch zwangen sie sich dazu noch so viel von dem trockenen Geäst abzubrechen, wie sie sich trauten.

    Sie experimentierten etwas damit, wie sie den Schatz tarnen konnten. Etwas von ihrem eigenem Erz verstreuten sie auf dem Boden der Truhe, um in ihren Erzbeuteln Platz für die kleinen, wertvollen Gegenstände aus dem Schatz zu schaffen. Erst legten sie die Äste einfach so darüber, doch das erschien ihnen nicht gut genug, also leerten sie die Truhe einmal komplett. Tsino hatte die Idee den Deckel der Truhe in Länge und Breite zu kürzen, um ihn dann als doppelten Boden auslegen zu können.

    „Wenn wir nur eine Säge hätten.“, murrte Gatorp und brach den Deckel der Kiste mit Gewalt über ihre Spatenblätter. Tsino unterstützte ihn mit den Hackenköpfen. Es war mühselig, doch bald hatten sie ihn weit genug heruntergebrochen, um ihn einsetzen zu können. Er saß schlecht, verkeilte sich an einer Stelle und war an einer anderen so schief, dass an den Rändern das Erz hervor blinkte.

    „Nicht perfekt, aber sollte ausreichen.“, entschied Gatorp und hebelte den Deckel wieder heraus, den sie nur probehalber eingesetzt hatten.

    Sie füllten den Boden der Truhe mit einer dünnen Schicht Schatz, setzten den zurechtgebrochenen Deckel der Truhe als gefälschten Boden ein, drückten ihn gewaltsam so tief nach unten durch, wie es nur ging und schichteten dann das Feuerholz darüber. Endlich wähnten sie den Schatz gut genug verborgen, um ihn nach Hause tragen zu können.

    „Ich trage den Schatz, äh... das ‚Feuerholz’ und du die Werkzeuge.“, schlug Gatorp vor. Tsino schüttelte den Kopf und gab zurück: „Lass das Werkzeug hier, sonst kommen wir am Ende doch noch in Erklärungsnot.“

    Gatorp hustete trocken, wie er es nach dem anstrengenden Tag zwischenzeitlich öfter tat. Er sagte: „Dass du immer alles so schwarz sehen musst. Aber gut. Wir lassen sie hier. Den Schatz trage trotzdem ich.“

    Auf dem Weg zurück ins Lager setzte die Dämmerung bereits ein und die Welt verschwamm grau in grau, als sei einem Aquarellmaler sein Farbglas umgefallen, das seinen schmutzigen Inhalt nun über das gesamte Gemälde ergoß. Im Lager selbst mussten die Fackelanzünder bereits umgehen. Gatorp und Tsino entschieden sich für einen kleinen Umweg und betraten das Lager über das Südtor. Eigentlich rechnete keiner von beiden mit Schwierigkeiten, doch sie wurden enttäuscht:

    „Halt.“, hielt der Gardist am Tor sie an. „Das will ich mir genauer ansehen.“ Tsino wurde kalt, als der Gardist mit den bepanzerten Händen zwischen den knochentrockenen Ästen wühlte. ‚Was, wenn er das Geheimversteck findet?’

    Der Gardist warf ein paar der Äste unwirsch bei Seite und hob eine weitere Faust voll an. Mit verengten Augen musterte er den Holzboden der Kiste, der darunter zum Vorschein kam. Tsino rollte der nackte Angstschweis den Rücken hinab. ‚Dem fällt doch bestimmt gleich auf, dass die Kiste innen nicht so tief wie außen hoch ist.’ Oder kam es Tsino nur so vor, weil er darum wusste?

    Seine Gedanken schienen es herauszuschreien und der Gardist schien sie lesen zu können, denn er warf Tsino einen musternden Blick aus verengten Augen zu. Unter dem schneidenden Blick schmolzen Tsinos Knie auf die Stabilität von zimmerweicher Butter. Der Gardist schleuderte nun auch die Äste in seiner Faust energischer als nötig zu Boden. Schon war Tsino der Überzeugung, dass er am Rand des schlecht eingepassten Kistenbodens das Blinken von Erz gesehen haben musste und sie gleich mit einer Standpredigt zusammenstauchen würde.

    Doch anstatt auf Beliar komm raus loszuwettern, verschränkte der Gardist träge die Arme und sah Gatorp ernst an: „Nichts. Ihr könnt weiter.“ Tsino blieb keine Zeit erleichtert aufzuatmen, als er hinzu fügte: „Aber das Zeug hier hebt ihr noch auf!“ Mit einem strengen Nicken wies er auf die trockenen Äste, von denen er mehrere Ladungen am Boden verteilt hatte. Gatorp warf einen verwunderten Blick um sich, dann beugte er sich hinunter, um zu tun wie geheißen.

    Tsinos Knie drohten nachzugeben, als ihm langsam ins Bewußtsein sickerte, was gerade passiert war: Der Gardist hatte überhaupt keinen Grund misstrauisch zu sein, oder sie durchsuchen zu wollen und nie einen gehabt. Er wollte nur Buddler schikanieren, um sich die unendlich lange Wachezeit am Tor zu vertreiben. Erneut blieb die Erleichterung aus. Zu spät merkte er zu lange gezögert zu haben; Der Gardist wurde durch das Ausbleiben einer Reaktion auf ihn aufmerksam:

    „Was ist denn mit dem los?“, frage der Gardist Gatorp und nickte zu Tsino. Der fragte sich, ob sein Gesicht genauso blass und verschwitzt war, wie es sich blutleer und kalt anfühlte. Er war zu keiner Ausrede fähig. Gatorp erfasste mit einem Blick die Situation und meinte in einem Ton der Beiläufigkeit: „Blutfliegenstich.“

    „Ah.“, machte der Gardist verstehend. Blutfliegenstich mit zitternden Opfer bedeutete Blutfliegengift im Blut. Vergiftetes Opfer bedeutete es musste ein Gegenmittel her. Zu besorgendes Gegenmittel bedeutete Besuch im Lazarett oder schlimmer noch: Im Sumpflager, wo das Mittel hergestellt wurde. Alles in allem bedeutete es vor allem Arbeit, auf die keiner Lust hatte.

    Weich gekocht sank nun auch Tsino gehorsam auf die Knie und begann mit beiden Händen die Äste zusammenzuraffen. Gatorp tat es ihm gleich und nahm die Äste mit der Kiste in Empfang. Der Gardist beobachtete sie bei ihrer erniedrigenden Tätigkeit mit einem zufriedenem Grinsen.

    Neben ein paar verirrten Scavengern am Tag waren zwei auf dem Boden kriechende Buddler vermutlich das Spannendste, was er die ganze Wachschicht über sah und er liess sich den Spaß nicht entgehen, so lange er ihn machen konnte. „Da drüben hast du noch einen vergessen.“, behauptete er und zeigte mit der behandschuhten Hand auf den Boden. Einen anderen Ast trat er weg, als Gatorp gerade danach greifen wollte. „Da drüben auch.“

    Gatorp schluckte mit bewundernswerter Gelassenheit jede Demütigung, wobei er immer noch hustete. Mit zitternden Händen sammelte Tsino alle Äste ein, die er finden konnte und legte sie zu Gatorp in die Kiste. ‚Bloß nicht auffällig werden, bloß nicht auffällig werden... Lieber Innos, lass ihn bloß nicht den Schatz entdecken!’ Nachdem der Boden wieder aussah wie vor der Kistenkontrolle nickte der Gardist zufrieden. „Eins habt ihr noch übersehen...“ Er griff sich in einen seiner Beutel und schleuderte eine Hand voll Steine auf den Boden. Tsino zuckte zusammen, als ihn ein paar harte Brocken am Bein trafen.

    ‚Wie weit soll das hier noch gehen?’ Erst einen Moment später bemerkte er, dass die vermeintlichen Steine blau schimmerten. Erneut dauert es einen Moment, bis sein bereits stark strapaziertes Gehirn realiserte, dass der Gardist ihnen gerade eine überaus großzügige Faust voll Erzbrocken vor die Füße geworfen hatte. Gatorp war längst auf den Knien und sammelte den Reichtum ein. Schnell lies sich auch Tsino wider auf alle Viere fallen und grabschte sich gierig ein paar der losen Brocken. Diesmal schoben sie sie in ihre Taschen und nicht in die Kiste. Das war das Gute an den Gardisten: Wenn sie gut gelaunt waren, waren sie so spendabel dass man locker eine Woche und mehr davon leben konnte.

    Als sie wieder aufsahen, starrte der Gardist längst wieder in die Dunkelheit vor dem Südtor und machte keine Anstalten mehr auf die Buddler einzugehen. Tsino seinerseits wagte es auch nicht ihm für das viele Erz zu danken und verliess lieber schnell mit Gatorp die Gefahrenzone. ‚Auf den muss ich mein nächstes Bier trinken.’ dachte Tsino verwirrt, dem der Schreck noch immer durch die Adern pulsierte.

    Auf dem Weg die Rampe hinunter blieb ihnen nicht einmal die Zeit Luft zu holen, als ein markerschütternder Schrei erklang. Beide blieben wie angewurzelt stehen. Der Schrei wurde von den Burgwänden zurück geworfen und verhallte Schließlich zwischen den Hütten. Viel sagend sahen sich die beiden Buddler an.

    „Lazarett.“, sagten sie einstimmig.

    Mit der Kiste in Gatorps Armen gingen sie dort hinüber und spähten heimlich durch den türlosen Eingang. Das Innere war hell erleuchtet von unzähligen Fackeln, Kerzen, Leuchtern, Binsen- und Windlichtern und allem, was das Arsenal an menschlichen Einfallsreichtum zur Erhellung her gab, damit die Heiler rund um die Uhr Verletzte versorgen konnten. Der Boden war trotz tropfender Fackeln und häufig blutender Verletzter sauber, denn die Lazarettmitarbeiter liessen regelmäßig reinigen und legten penibel Wert darauf, dass sich alle Eintretenden die Füße an einem Eisengitter vor der Tür abtraten, ehe sie zu den Verletzten konnten.

    Ein solcher wälzte sich gerade auf einem der strohgefüllten Betten. Der über ihn gebeugte Heiler liess ihn einen Moment in seinem Widerstand gewähren, in seiner erhobenen Hand ein Tuch. Es mochte bis vor kurzem blütenrein gewesen sein, doch nun leuchtete darauf frisches, rotes Blut. In seiner anderen Hand hatte der Heiler eine Alkoholflasche mit fünf dicken Kreuzen darauf. Sobald sein Patient halbwegs ruhig lag, drückte er das getränkte Tuch erneut auf die Wunde und der gequälte Schrei setzte sofort wieder ein. In der Luft lag der Geruch nach Schweiß, Blut und Alkohol.

    „Das müssen wir nicht gesehen haben.“, flüsterte Gatorp. Tsino gab ihm mit einem Nicken recht. Für heute hatte er genügend Erfahrungen gemacht, die eher in Richtung Tod als Leben gingen. Gatorp und Tsino zogen die Köpfe zurück und setzten ihren Weg zu Gatorps Hütte fort.

    Ohne weitere Zwischenfälle kamen sie dort an und beratschlagten so leise wie möglich, damit sie außerhalb der schützenden vier Holzwände nicht gehört wurden, wie sie die Schatzkiste in der Hütte verborgen halten wollten. Dass sie sie in der Hütte verstecken würden, stand für sie außer Frage.

    Gatorp flüsterte leise: „Was spricht dagegen sie offen stehen zu lassen? Gut getarnt ist sie sowieso. Jeder wird das für Feuerholz halten.“

    Tsino hielt dagegen: „Du hast aber keine Feuerstelle in deiner kleinen Hütte, Gatorp.“

    „Oh... Stimmt... Dann...“ Gatorp zögerte nur kurz, bis er den nächsten Vorschlag machte: „Dann sage ich eben das hätte ich für die Schreinerei gesammelt.“

    Tsino hob skeptisch die Augenbrauen, als er zurück gab: „Die krummen Äste? Das kauft dir kein Schreiner ab. Die Äste, meine ich. Die Ausrede sowieso niemand.“

    Tsino fragte sich, ob diese Ideen der Branntwein oder das Kraut geboren hatten, doch er war dankbar dass der Freund so fleißig mitdachte. Sein eigenes Gehirn war vor Müdigkeit, Anstrengung und nicht zuletzt ihren Entspannungsversuchen wie vernebelt und schrie nahezu nach einer Erholungspause.

    „Was schlägst du dann vor?“, fragte Gatorp ihn gerade. Bisher hatte Tsino nichts anderes zu Stande gebracht als alle gemachten Vorschläge auseinander zu nehmen. Jetzt strengte er sich an und sah sich nach Inspirationsquellen für eine gute Idee in der Hütte um. Auf der Suche nach einem guten Einfall marterte er sich den Kopf: ‚Unter den Tisch damit? Nein, das wäre genauso gut wie offen stehen lassen... Mit einem Tuch abdecken, damit man den Inhalt nicht sieht? Nein, denn dann jeder wird wissen, dass wir etwas zu verbergen haben. Unter das Bett? Auch nicht gut genug...’

    Sein Blick fiel auf das Regal und er versuchte sich vorzustellen, wie dort die Kiste stand. ‚Das Holz der Kiste würde aussehen wie... Wie...’ Seinem Kopf fiel kaum noch etwas ein. Sein Blick glitt auf der Suche nach einem Vergleich über das schmale Regal und blieb schließlich an dessen Fußteil hängen.

    Dort, wo nur eine halbe Regalhöhe Abstand zwischen dem Regalbrett und dem Boden Platz war, hatte man eine Blende installiert. Der Platz dort reichte nicht als Stauraum für sperrige Gegenstände aus und es war anzunehmen, dass Mieter dort nicht sauber machten. Da der Platz also nur noch dazu taugte, dass Gegenstände darunter rollten und verloren gingen oder Fleischwanzen darunter krochen, nagelte man solche Stellen vorsorglich zu.

    ‚Es würde aussehen wie die Blende dort.’, fasste Tsinos Gehirn schließlich zusammen. Dann sah er noch mal hin. Gatorp beobachtete ihn fragend, als Tsino unvermittelt aufstand und sich vor dem Regal auf die Knie sinken ließ. „Tsino? ...Alles in Ordnung?“

    Aber Tsino tastete mit den Händen längst die Blende ab, deren Oberkante etwas unsauber mit der Vorderkante des Regalbretts aufstieß. Ohne den Blick abzuwenden sagte er zu Gatorp: „Kannst du mal deine Hacke holen?“

    In seinem Rücken hörte er, wie Gatorps Stuhlbeine beim Aufstehen über den Boden kratzten. „Von uns beiden hast wirklich du das bessere Kraut erwischt.“, meinte Gatorp und hustete leise, doch er ließ Tsino gewähren und brachte ihm seine Hacke herüber.

    Tsino nahm sie nicht entgegen, sondern wies auf eine unsauber gearbeitete Stelle und erklärte: „Drück die Spitze hier rein. Wir versuchen das auszuhebeln.“ Sorgsam vermied er in seinem Satz jede Erwähnung von „Regal“ und „Brett“, falls nicht doch jemand in den anderen Hütten lauschte. Gatorps Hütte war rechts und links umzingelt von anderen, vermutlich vermieteten Hütten, hatte den Wehrgang im Rücken und nur vorne ein kurzes Stück freie Fläche, das bereits von angeschlagenen Fellen und wucherndem Unkraut eingenommen worden war. Wer sie trotzdem belauschte und einen Erzbrocken und einen Erzbrocken zusammen zählen wollte, konnte genauso gut auf den Trugschluss kommen, dass sie gerade ein Bodenbrett aushebelten oder den Bettkasten anhoben. Gemeinsam zweckentfremdeten sie die Hacke, um die Blende am Regal herauszudrücken.

    Das Brett leistete kaum Widerstand und kippte gehorsam heraus. Tsino zog es bei Seite und ließ sich flach auf den Boden nieder, um den Platz zu mustern. Neben ihm tat Gatorp dasselbe. „Mensch...“, meinte er, als er sah, was sich da alles in seiner Hütte befand, „Darunter ist es so staubig, dass da jemand gestorben sein könnte.“

    Tsino deutete in die hinterste Ecke unter dem Regal, wo eine ausgebeulte Form zu erahnen war. Er fragte: „Was ist das?“

    „Keine Ahnung. Wahrscheinlich eine tote Fleischwanze.“, sagte Gatorp, schob die Hacke unter dem Regal hindurch und zog das Ding damit hervor. Als es mitsamt Schmutz und Staub hervor kam, entpuppte es sich als verstaubter Beutel.

    Gatorp und Tsino tauschten einen Blick, dann zogen sie den Beutel vorsichtig auf und staunten nicht schlecht bei ihrem Fund: Ein paar lose Erzbrocken, ein Krautpaket, kleine Seifenstücke, zwei Verbände und ein Honigtiegel. Tsino starrte auf das Zeug, für das seine Gehirnwindungen keine Erklärung mehr fanden und fragte leise Gatorp: „Wer war noch gleich der Vorbesitzer deiner Hütte?“

    Gatorp antwortete ebenso gedämpft: „Kann ich dir sagen, aber der kann damit nichts zu tun haben. Wer vor uns beiden drin wohnte, wissen wir beide nicht. Aber Toisi hat mal erzählt, dass hier vor Ewigkeiten ein Buddler gehaust hat, den sie wegen Hehlerverdacht rausgeworfen haben.“

    „Hehler... Verdacht?“

    „Ja, aber die Beute wurde nie gefunden. Manche meinen er sei zu Unrecht verstoßen worden.“ Gatorp sah Tsino schief an: „Wie bist du eigentlich darauf gekommen? Hat Beliar dir das gesagt?“

    Diesmal flüsterte Tsino nur noch: „Eigentlich hielt ich das für ein mögliches Versteck für den Schatz.“

    Gatorp lachte rauh: „Wie es aussieht ist es sogar bewährt. Lass uns das nehmen.“

    Erneut entleerten sie die Kiste und stopften die Gegenstände einzeln unter das Bett, wobei sie sich nicht die Mühe machten vorher zu putzen. Auch die Hehlerbeute, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollten, steckten sie dazu.

    Danach setzten sie das Brett wieder ein. Es war bereits Mitternacht, als sie die Arbeit in aller Heimlichkeit und nach wie vor so leise wie möglich, endlich beendeten. Tsino war totmüde und so verabschiedete er sich von Gatorp, um zurück zur Pennerunterkunft zu wanken. Zu seinem Glück fand er noch ein freies Bett und ließ sich dort hineinfallen, wie er war.


    In der Pennerunterkunft herrschte Dunkelheit. Hinter seinen Lidern und in seinen Gedanken herrschte Dunkelheit. Darum herrschte auch in seinem Traum Dunkelheit. Eine Dunkelheit wie in der Nacht, als sie in den Fluß gefallen und am anderen Ufer von Teto gefunden worden waren. Tsino erinnerte sich genau an den warmen Fackelschein in der Nacht und aus diesem Schein heraus schälte sich die Gestalt Tetos.

    Schüchtern lächelnder, blasser Teto. So wie sein Goldohrring blitzte, schimmerte auch beim Sprechen immer ein Lächeln um seine Mundwinkel. Tsino sah sein Gesicht ganz genau vor sich. Die dunklen Locken verschmolzen mit der Dunkelheit. Teto setzte an irgendetwas zu sagen, doch da wurde sein Gesicht starr vor Schreck.

    Ebenfalls erschrocken senkte Tsino den Blick und sah einen blutigen Spieß aus Tetos Brust sprießen. Tsino wollte vor Entsetzen Schreien. Teto stürzte und landete bei einer Holzkiste in dem Loch, aus dem Tsino und Gatorp ihn erst kürzlich ausgegraben hatten. ‚Nein!’ Tsino wollte nicht wieder Tetos Leiche finden müssen. Die Erde stürtzte auf Teto und begrub ihn unter sich. Jetzt mussten Tsino und Gatorp ihn noch einmal ausgraben, wenn sie ihren Schatz wollten; Den Schrecken über den Leichenfund noch einmal durchleben.


    „Neeein!“ sein eigener Schrei riss Tsino endlich aus dem Schlaf. Er hatte sich aus dem Stroh heruntergestrampelt und keuchte. Blind starrte er in Richtung Decke und wartete mit hämmernden Herzen darauf, dass ihn die Realität wieder ganz einschloss und vor seinem eigenen Alptraum schützte.

    „Halt's Maul Penner!“, kam es aus einem der anderen Betten. Tsino rührte sich nicht, lag da und keuchte noch immer von der Aufregung seines Traumes. Scheinbar etwas zu laut, denn in die Hütte kam Bewegung. „Wenn du das Maul nicht von selber hältst...“ Kurz darauf erschien ein düsterer Schemen neben Tsino am Bett „...muss ich es dir wohl stopfen!“

    Eine Hand presste sich in sein Gesicht. Tsinos Hände fuhren reflexartig hoch, um den Angreifer an den Handgelenken zu packen, doch keiner von beiden konnte den jeweils anderen wirklich sehen. Tsino warf den Kopf hin und her, um die Hand, die sich unangenehm fest gegen seine Nase presste und sich immer tiefer über seinen Mund schob, abzuschütteln. Mit beiden Händen hielt er das Handgelenk seines Angreifers gepackt und versuchte es wegzudrücken.

    Eher unbewußt strampelte er dabei hilflos mit den Beinen. Jetzt legte sich eine zweite Hand tiefer unter die erste und genau über seine Kehle. Als sie zudrückte wurde Tsinos Gegenwehr heftiger. Mit der Faust holte er aus und schlug zu. Irgendetwas hatte er getroffen, nur konnte er nicht sagen was. Die Hand um seine Kehle lies nur kurz los und fasste dann nach. Tsino versuchte aus Leibeskräften zu Schreien, bekam aber nur ein ersticktes Geräusch zu Stande. In seinen Ohren rauschte das Blut. In der Panik holte er mit beiden Beinen aus und stieß sie so kraftvoll er konnte gegen den Angreifer.

    Sein Knie prallte an etwas weichem ab, das andere Schienbein traf auf etwas Hartes. Die Hände auf ihm fuhren wie von der Blutfliege gestochen weg. Den Moment nutzend warf sich Tsino keuchend hinterher. Er stürzte über die harte Bettkante, als sich sein Angreifer auf ihn werfen wollte. Beide verfehlten sich gegenseitig in der Dunkelheit und krachten zu Boden. Genervtes Aufstöhnen in der Pennerunterkunft und ein verschlafener Ruf: „Macht das draußen!“

    Ein unkoordiniertes Gerangel entstand, als jeder versuchte den anderen an einer empfindlichen Stelle zu packen und gleichzeitig von sich zu stoßen. Wie Hunde rauften sie sich am Boden, was zu noch mehr missmutigen Geräuschen in den anderen Betten führte. Eine Hand bekam schließlich Tsinos Kragen zu fassen und würgte ihn. Defensiv riss dieser die Hände an diese Stelle, doch im gleichen Moment wurde er auch um die Hüfte gepackt und aufgehoben.

    Auf der Suche nach dem Boden strampelte Tsino hilflos mit den Beinen. Ein, zwei Mal streifte er dabei etwas, das in dieser Umklammerung nur Beine sein konnten und brachte damit den anderen zum Stolpern. Erneut landeten sie übereinander auf dem Boden. Tsino fand sich auf der Schwelle der Hütte wieder. Kopf und die zum Abfangen des Sturzes ausgestreckten Arme im Freien, der Rest in der Dunkelheit der Pennerhütte steckend.

    „Und da bleibst du jetzt.“, knurrte sein Angreifer, der sich aufrappelte und ihm abschliessend einen ungezielten Tritt verpasste und davon schlurfte. Scheinbar war ihm die Lust ausgegangen.

    Tsino blieb atemlos liegen und versuchte für sich zu sortieren, was da gerade passiert war. Aus der Hütte schlug ihm eine Atmosphäre der Ablehnung entgegen. Er selbst verspürte auch nicht die geringste Motivation sich noch einmal keuchend in eines der Betten zu legen. Unbeholfen rappelte er sich auf und taumelte ganz hinaus. Draußen stolperte er so kurz nach dem Aufwachen noch unkoordiniert herum. Es war, als habe der Schlaf noch immer seine lähmenden Hände um ihn gelegt und versuche ihn festzuhalten.

    Ihm fiel kein besserer Weg ein als der zu Gatorps Hütte. Da die Nachtwache um diese Zeit schon wieder bei den Hütten Dienst schob, wagte er es nicht einfach so die Hütte seines Freundes zu betreten. Stattdessen legte er sich auf eine der Bänke, die vor den Hütten stand und starrte nach oben. Er rechnete nicht damit noch einmal einschlafen zu können und blieb einfach wie betäubt liegen.


    Am nächsten Morgen war Gatorp ziemlich überrascht einen vor Müdigkeit halbtoten Tsino vor seiner Hütte zu finden. „Hast du hier etwa übernachtet?“ Gatorp versuchte zu Scherzen, klang aber heiser.

    Tsino hob nur müde den Arm, um abzuwinken. Danach liess Gatorp das Thema gnädigerweise fallen. Mit einem Räuspern versuchte er sich die Stimme zu klären und sagte: „Komm erst mal rein. Ich habe noch Vorräte für das Frühstück.“

    Während und nach dem Essen holten sie in Gatorps Hütte ein Versäumnis nach: Sie gingen den ganzen Schatz einmal systematisch durch, versuchten den Wert der einzelnen Stücke einzuschätzen und überlegten, wie sie das möglichst unauffällig zu Geld machen konnten.

    Ihre ersten Anlaufstsellen waren der Schmied Toisi und der Minenleiter Nemo, denen sie ein, zwei der Edelsteine verkauften. Auf Nachfrage hin behaupteten sie einfach, sie hätten beim Schürfen Glück gehabt. Toisi schluckte es desinteressiert. Nemo dagegen liess sich die Möglichkeit nicht nehmen, sie dafür anzukeifen: „Das nächste Mal, wenn ihr so etwas findet, bringt ihr es sofort zu mir! Gefundene Edelsteine sind spätestens nach der Schicht abzugeben, in der sie gefunden wurden. Eigentlich solltet ihr Buddler gar keine davon behalten dürfen, denn alles, was in der Mine geschürft wird, gehört dem Alten Lager.“ Mit diesen Worten bellte er sie aus seiner Hütte hinaus und schloss die abgekauften Edelsteine in einer Truhe ein.

    Ein Stück von Nemos Hütte entfernt meinte Gatorp heiser zu Tsino: „Mach dir nichts draus. Der hat nur Bammel seine Stellung könne ihm entzogen werden, wenn in der Mine etwas schief geht. Der ist immer so ein Paragraphenreiter.“

    „Hühott!“, wieherte Tsino vor Lachen und damit war das Thema für sie erledigt. Tsino fragte: „Kommst du mit zu Reldnäh?“

    Gatorp fragte mit angeschlagener Stimme zurück: „Was willst du denn bei dem? Ihm auch einen Edelstein verkaufen?“

    Tsino antwortete mit einem Kopfschütteln: „Darum geht es mir nicht. Ich hatte ihm doch mein Messer verpfändet. Das will ich wieder haben.“ Er verspürte eine dezente Vorfreude und wollte Gatorp damit anstecken.

    „Erbstück?“, scherzte Gatorp. Er klang gut gelaunt, doch immer noch heiser. Tsino gab trocken zurück: „Ha, ha. Du weist doch, dass einem beim Eintritt in die Minenkolonie alles abgenommen wird.“

  • Ein Ei dem anderen

    Sie betraten den Laden. Wie die meisten anderen Gebäude im Außenring war auch das hier eigentlich eine Wohnhütte. Hieß: Keine Tür, keine Fenster, Keine eingebaute Ladentheke und nur einen gähnenden Türrahmen als Eingang. Dafür ein Bett, Wandbretter, ein Regal, ein Tisch, einen Stuhl und ursprünglich eine Truhe. Diese Zahl hatte sich verdammt aufgestockt und ausnahmslos alle waren mit einem Eisenschloss gesichert. Dazwischen standen mehrere Stapel Kisten, Säcke und Fässer. So viele, dass ein Teil davon außerhalb der Hütte und unter den Augen der Gardisten gelagert wurde. Nur die Waren, die zu sperrig waren um in eine Truhe oder durch die Tür zu passen und damit keine Beute für Diebe waren, standen offen herum. Darunter ein Teppich und eben die Möbel.

    „Manchmal frage ich mich, wie Reldnäh in dieser Rumpelkammer hier schlafen kann.“, scherzte Gatorp noch immer heiser. Die beiden sahen sich um, doch es war niemand zu sehen, daher rief Tsino laut: „Reldnäh?“

    Eine Hand legte sich auf einen Kistenstapel im Laden und gleich darauf tauchte dahinter der passende Kopf auf. „Hallo, Reldnäh.“, grüßte ihn Gatorp und klärte sich mit einem Räuspern die Stimme ehe er fortfuhr, „Tsino würde gerne sein Messer auslösen.“

    Der Mann im Laden richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schob sich um den Kistenstapel herum. Nun, wo Tsino ihn im Ganzen sah, konnte er zwei Feststellungen über ihn machen:

    Erstens: Anstatt der erwarteten Schattenuniform trug der Mann ein zerschlissenes, blaues Leinenhemd und feste Minenarbeiterhosen in grün.

    Zweitens: Es war nicht Reldnäh.

    „Reldnäh ist nicht da.“, beschied ihnen der Mann, „Und wo auch immer er ist, er ist vor allem eines: Nicht. Mein. Problem. Ich habe ihm gerade nur eine Lieferung gebracht.“ Damit klopfte er auf die Kisten, hinter denen er aufgetaucht war.

    Gatorp lachte heiser, als ihm sein Fehler klar wurde: „Merchant.“ Es war der Zwillingsbruder des Außenwelthändlers.

    Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern hatte schon oft zu Verwechslungen geführt. Manchmal sogar zu richtig verzwickten, wenn der Buddler mit dem Außenwelthänder verwechselt wurden. Die engsten Freunde der Zwillinge konnten sie selbst in derselben Aufmachung auf Anhieb auseinander halten, doch die meisten anderen Leute taten sich immer schwer damit und für die Neuen war diese Doppelgängerschaft sogar ein richtiges Mysterium.

    „Schon wieder. Letzten Monat hätte ich dich fast zu einem Bier eingeladen, weil ich dich für deinen Bruder gehalten habe.“ Gatorp nahm die Verwechslung sportlich, wie er durch ein Grinsen zeigte und scherzte heiser: „Wenn du dich mal verschuldet hast und deinen Tod vortäuschen möchtest, dann musst du nur deinen Zwillingsbruder ins Grab bringen. Der Rest der Kolonie würde darauf hereinfallen.“

    Merchant hob nur die Schultern an. Er schien von der Pointe nicht viel zu halten, doch Tsino war wie vom Donner gerührt. „Zwillinge.“, stotterte er.

    „Klar.“, machte Gatorp mit seiner heiseren Stimme. „Du kennst die beiden doch.“

    Merchant sah mit leicht gehobenen Brauen zu Tsino hinüber: „Tsino? Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so weiss im Gesicht wie Milch.“

    Tsino achtete nicht auf ihn, denn eine plötzliche Eingebung hatte ihn mit einem heftigen Schlag getroffen. So heftig, dass er Gatorp nicht minder heftig am Arm packte. „Au!“, entfuhr es diesem, als sich Tsinos Finger tief in seinen Oberarm krallten. „Was ist denn in dich gefahren?“, beschwerte er sich, wobei seine heisere Stimme ihm bei ein paar Silben den Dienst versagte. Mit ein paar heftigen Bewegungen versuchte er Tsinos Hand abzuschütteln, doch dieser war noch ganz eingenommen von der Eingebung, die ihn getroffen hatte:

    Die Lösung für ihr Problem. Es war so furchtbar einfach! „Zwillinge!“ Tsino lachte hysterisch auf.

    Merchant musterte ihn mittlerweile argwöhnisch. Dabei zuzusehen wie ein Buddler gerade dem Wahnsinn anheim fiel, schien ihm sichtlich unangenehm zu sein. Er und sein Bruder mochten sich im wahresten Sinne des Wortes zum Verwechseln ähnlich sehen, doch so unterschiedlich waren sie in ihrem Inneren: Während Reldnäh sich für alles und jeden interessierte, das überhaupt unter der Barriere vor sich ging, war Merchant das absolute Gegenteil und wollte von nichts und keinem wissen das auch nur einen Steinwurf entfernt war.

    Deswegen schob er sich nun auch mit kaum verhohlener Eile an Gatorp und Tsino vorbei in Richtung Ladenausgang, ehe sie versehentlich zu seinem Problem werden konnten. „Ich bin in der Mine.“, beschied er ihnen kurz und bündig. Einen Moment später war er schon durch die Tür nach draußen verschwunden und man konnte hören, wie sich seine energischen Schritte entfernten.

    „Mach's gut.“, erwiderte Gatorp mechanisch und nickte Merchant hinterher, als dieser den Laden verliess.

    Tsino achtete nicht wirklich auf Merchant. Nach wie vor hielt er Gatorp am Arm gepackt und rüttelte ihn nun eindringlich, als könne er so bewirken, dass die Erkenntnis schneller in Gatorps Gehirn fiel. Tsino starrte Gatorp fieberhaft an, als er wie hypnotisiert sagte: „Wir haben seinen Zwillingsbruder gefunden.“

    Gatorp starrte Tsino an, als ihm nicht sofort klar wurde, was gemeint war. Heiser beschwerte er sich: „Natürlich haben wir seinen Zwillingsbruder gefunden! Merchant und Reldnäh. Weist du doch.“ Zweifel zeigten sich in dem Zug um seine Augen. Wahrscheinlich dachte er wie Merchant, dass Tsino gerade den Verstand verlor.

    Der funkelte ihn an: „Teto hatte einen Zwillingsbruder!“

    „Wie kommst du jetzt auf Tet-oooh...“ Man konnte förmlich dabei zusehen, wie Gatorp die Erkenntnis kam, wer noch einmal Teto war und wie dann der Erzbrocken der Erkenntnis auf seine Gedankengänge fiel. Seine Augen weiteten sich und sein Mund sperrte sich auf. Allerdings ohne etwas zu sagen.

    Schon sprudelte es aus Tsino heraus: „Die Leiche... Das war gar nicht der Teto, den wir gesehen haben. Es war überhaupt nicht Teto! Teto hatte einen Zwillingsbruder, verstehst du? So wie Merchant und Reldnäh.“

    Gatorps Gesicht überzog sich mit Erleichterung. Als er sprach klang es, als rühre seine Heiserkeit zum Teil auch von der Aufregung her: „Das ist es, Tsino... Eine vollkommen logische und einfache Erklärung. Es war einfach sein Bruder, der umgebracht und verscharrt wurde.“ Doch kurz darauf überschattete sich sein Gesicht. „Wir sollten vorsichtig sein.“

    „Warum?“, fragte Tsino dazwischen.

    Gatorp wurde etwas leiser. Um die Stimme zu schonen, oder damit sie nicht so einfach belauscht werden konnte, vermochte Tsino nicht zu erkennen. Gatorp erklärte leise: „Wir drei sind nicht die einzigen, die von dem Schatz wissen. Wer auch immer noch davon weis, ist bereit dafür über Leichen zu gehen. Er hat es bereits mit einem Mord bewiesen. Wer weis, ober nicht vor einem...“ Er sah kurz an sich hinunter, dann wieder zu seinem Freund und fuhr in normaler Lautstärke heiser fort: „Vor zwei weiteren zurückschrickt? Mein Freund... Wir sind in Gefahr.“

    Ehe Tsino die Worte vernünftig realisieren konnte, mischte sich eine dritte Stimme ein: „Wer ist in Gefahr?“

    Gatorp und Tsino fuhren herum. Im Eingang stand...

    „Reldnäh. Großer Innos, hast du uns jetzt erschreckt.“, machte Tsino.

    Der Schatten trat etwas näher. Er hatte ein leutseeliges Lächeln, doch Tsino konnte ganz genau sehen, wie in seinen Augen das harte Misstrauen funkelte, dass in Schattenaugen sonst nur aufkam, wenn sie von einem Hehlerverdacht hörten.

    „Was ist los, Jungs?“, es klang so freundlich, dass niemandem der harte Blick aufgefallen wäre.

    Tsino gab ein ersticktes Geräusch von sich. Er mochte es nicht sonderlich in einem Verhör zu landen und so ein Blick sah ganz danach aus.

    „Wir sind in Gefahr, wenn du uns nicht hilfst. Wir brauchen ganz dringend...“, schaltete sich Gatorp schnell ein, schaffte es aber nicht ganz den Satz zu beenden, da seine angeschlagene Stimme auf halben Weg versagte.

    Reldnäh hörte sich alles geduldig an und liess hin und wieder sein Lächeln aufflammen. Ein Lächeln, dass so brüderlich und freundlich war, dass die meisten darauf herein fielen und ihm mehr anvertrauten als gut für sie selbst war. Normalerweise war auch Tsino sehr dankbar, wenn er sich dem Schatten anvertrauen konnte, doch heute kam ihm dabei eine Gänsehaut.

    „Ich glaube ich höre schon, was du brauchst. Aber Medikamente bekommst du bei mir keine. Dafür musst du schon zum Orden gehen – und mach es schnell! Wir können keine todkranken Buddler gebrauchen.“ Das letzte kam eindeutig harsch, entgegen des sonst sehr milden Lächelns.

    „Bei etwas anderem kannst du uns noch helfen.“, sagte nun Tsino. Reldnähs Blick wanderte langsam zu ihm hinüber und das leichte Lächeln spannte sich wieder über seinen Mund. Tsino sagte freundlich: „Ich hätte gerne mein Messer zurück.“

    „Sicher.“, meinte Reldnäh nur und zuckte mit den Schultern, als sei ihm das Pfand eine lästige Last gewesen, als er fortfuhr: „Ich dachte mir schon, dass du das bald zurück haben möchtest.“ Damit stiefelte er durch seinen Laden, kramte zwischen seinen Waren und holte schließlich das verpfändete Messer hervor, das er auf die Ladentheke legte.

    In scheinbar bester Laune wickelte Reldnäh den Handel ab, doch als Tsino begann das Erz auf die Theke zu zählen, fragte er beiläufig: „Wie bist du so schnell an das Erz gekommen?“ Tsino zog erneut ein kaltes Gefühl über die Haut. Was wie eine Frage aus Höflichkeit klang, hörte sich in Tsinos Ohren wie die Fortsetzung des Verhörs an. „Ein Freund hat seine Wettschulden bei mir bezahlt.“, behauptete er und hielt dabei den Blick vorsorglich auf die Erzbrocken gesenkt, die schon auf der Theke lagen. Er konzentrierte sich danach die Brocken umständlich auf den Tisch zu zählen. Zum Schluß schob er den abgezählten Haufen Reldnäh hinüber.

    Reldnähs Lächeln flammte auf, ohne dass der harte Blick erlosch. Tsino gab sich alle Mühe das Lächeln zu erwidern, wandte aber viel zu bald die Augen ab und senkte den Blick auf das Messer. Er wollte danach greifen und es einschieben, doch in dem Moment legte sich Reldnähs Hand auf sein Handgelenk. „Wenn du ein Problem hast, dann komm zu mir.“ Eindringlich sah der Schatten den Buddler an.

    Tsino behielt den Blick auf dem Messer und konnte daher Reldnähs Gesichtsausdruck nicht sehen, doch er wusste aus Erinnerung, was er dort sehen würde: Weiches Lächeln, harte Augen. Die Stimme des Schatten klang so warmherzig, dass Tsino nur zu gerne darauf hereingefallen wäre. Doch er hatte keine Hehlerei zu beichten, keinen Kontakt zum Neuen Lager und ihm saßen auch keine Erpresser im Nacken. Er hatte nur durch unverschämtes Glück einen Schatz. ‚Und der geht niemanden etwas an.’

    „Werde ich machen, Reldnäh.“, sagte Tsino und hatte nicht vor ihm von dem Schatz zu erzählen. Um das Gespräch zu beenden, lies er nichts weiter folgen. Endlich lies Reldnäh ihn los. Tsino konnte das Messer einschieben und wandte sich ab. Gatorp verabschiedete sich heiser. Der Außenwelthändler lächelte den Buddlern hinterher. „Bis bald.“ Da waren sie auch schon aus seinem Laden verschwunden.


    Nachdem Tsino sein Messer zurück hatte, begleitete er Gatorp, der seine seine Mietschulden bezahlte. Der Mieteintreiber war sichtlich überrascht: „Woher das Erz auf einmal? Sonst verschuldest du dich doch zwei Monate, nur um dann mit Ach und Krach alles zurückzuzahlen.“

    Gatorp grinste ihn unter dem dichten Bart verwegen an und erklärte mit seiner heiseren Stimme: „Hatte eine Wette in der Taverne gewonnen. Darum zahle ich diesmal früher. Ach ja... Wo wir gerade dabei sind: Kann ich ein paar Monate im Voraus bezahlen?“ Die Überraschung des Vermieters steigerte sich so weit, dass er überrumpelt genug war, ohne weitere Fragen das Erz anzunehmen.

    Tsino bekam langsam den Verdacht, dass sie auffällig wurden und nahm Gatorp nach dem Gespräch bei Seite: „Wir sollten feinfühliger vorgehen. Sonst wundern sich die Leute am Ende noch, woher wir so viel Erz haben.“

    „Na gut... Aber eine Sache müssen wir noch unbedingt machen.“

    „Die wäre?“

    Gatorp grinste verschmitzt in seinen dichten Bart als er heiser erklärte: „Satt werden, natürlich. Was denn sonst?“


    Tsino nahm eine Gabel voll des Salates.

    Eigentlich war es Wurzelgemüse angemacht mit Essig, Fett und Rahm. Den Essig stellte der Orden her, der neben Medizin auch hochprozentige Alkoholika produzieren konnte. Das Fett war eigentlich ausgelassenes Tierfett, das die Jäger mitgebracht hatten und vor dem Servieren erwärmt wurde, damit es in flüssigen Zustand unter das Essen gemischt werden konnte. Nur durch welches Verbrechen der Menschheit der Rahm in der Kolonie auftauchte, vermochte Tsino nicht zu sagen und wenn er darüber nachdachte, dass er es essen wollte, wollte er es eigentlich auch nicht wissen.

    In seinem Mund fühlten sich alle Zutaten in ihrer Konsistenz gleich an, doch es war eine Überraschung, welcher Geschmack beim Kauen in seinem Mund explodierte: Der scharfe Rettich gemischt mit den sauren Äpfeln und den süßen Rüben. Alles zusammen auf dieselbe Größe gehobelt und durch den Saft der roten Rüben zur Unkenntlichkeit gefärbt.

    Vom Aussehen her hätten es genauso gut gehobelte Fischinnereien seien können, doch der frische Salat schmeckte viel besser als er aussah. Zufrieden mit dem Essen lehnte sich Tsino im Stuhl zurück und kaute jeden Bissen gründlich durch. Er hatte spontan beschlossen den Geschmack im Mund so lange zu genießen wie er konnte – es gab genug Geschehnisse in der Kolonie, die einem allen Appetit verderben konnten. Außerdem gefiel ihm die Note von Apfel darin – der ausschlaggebende Grund, warum er ihn bestellt hatte.

    Er und Gatorp fraßen sich in der Taverne einmal so richtig satt und leisteten sich um zu feiern auch Speißen, von denen sie sonst nur träumen konnten. Saftiges Bratenfleisch statt Hartwurst, Wein statt Bier, dicke Gemüsecremesuppe statt nur dünne Pilzsuppe und mehrere Nachtische, von denen sie aber nur jeweils wenige Bissen schafften. Den Rest liessen sie sich mitgeben.

    Obwohl sie ausgelassen untereinander und auch mit anderen Gästen plauderten, vermieden sie jede Auskunft über ihr Einkommen, dass ihnen aus dem Nichts ein solches Tafeln erlaubte. Kam das Thema doch darauf zu sprechen, behalfen sie sich mit Ausflüchten: „War ein kleiner Dank, weil ich... etwas... für einen Schatten erledigt habe.“ Tsino war gut darin, die Leute abzuwimmeln, doch er hasste es.

    Vielleicht lag es an dem ungewohnt schweren Essen, das ihm am Abend wie ein Stein im Magen lag, aber Tsino träumte diesmal nur schlecht in der Nacht:


    Ein fester Griff hatte sich um seine Handgelenke gelegt, doch diesmal waren es keine Eisenschellen, die ihn hielten. Es waren Hände. Tetos blasse Hände, die an Kälte einer Eisenschelle in nichts nachstanden.

    Voll Furcht wandte Tsino sich in dem Griff. Er wollte dem Toten nicht so nahe sein, wie er es jetzt gerade war. Verbissen kämpfte er darum los zu kommen und konnte dabei nicht anders, als in Tetos blasses Gesicht zu starren. Teto mit toten, blinden Augen. Er bewegte die blutleeren Lippen, als wolle er irgendetwas sagen.

    Tsino schrie vor Entsetzen auf und verstand kein Wort. Schon fürchtete Tsino, er wolle ihn in den Sand ziehen – da sah er nur noch Dunkelheit.


    Schwer atmend rang er nach Luft. Er hustete ein paar Mal, was nur dazu führte, dass ihn ein Schmerz von der Kehle bis in die Brust zog. ‚Ein Traum.’, sagte er sich, ‚Es war nur ein Traum.’ Er versuchte wieder einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht sofort. Das Warten auf den Schlaf wurde zu einer zähen Geduldsprobe und als es endlich so weit war, wurde er kurz darauf wieder grundlos wach. Den Rest der Nacht verbrachte er unruhig und kaum mit Schlaf.

    Seine späteren Nächte wurden kaum besser als das.

  • Kein Glück

    Als Neureiche kaufen sie sich ein paar Luxusartikel, die sie in ihrem bisherigen Überlebenskampf in der Strafkolonie noch nie gebraucht hatten und vielleicht auch niemals brauchten. Gatorp schmückte seine neue Hütte mit gleich zwei gekauften Kerzenständern aus und Tsino schenkte ihm einen kleinen Vorrat an Kerzen dafür. Etwas unvorsichtig legte sich Gatorp auch die neue Klinge zu, auf die er schon lange sparte und lies sich wie angekündigt häufiger von Paslov trainieren. Ähnlich wie es schon bei ihren ersten Einkäufen getan hatten, versuchte er sich herauszureden, wenn man ihn auf die Quelle seines Erzes ansprach, doch scheinbar weniger erfolgreich wie Tsino.

    Aufgrund der erfundenen Gründe, die alle mehr oder minder unzutreffend waren, wurde Gatorp schärfer im Auge behalten. Die Vermutungen festigten sich zu Gerüchten, die Gatorp wie ein schlechter Geruch durchs Lager folgten. Dabei tat er die erste Zeit kaum etwas Anderes als seine Erkältung, die sich bis zu einem Fieber verschlimmert hatte, auszuheilen und dabei zwischen Lazarett, Taverne und seiner Hütte zu pendeln. Tsino passte in den Zeiten, in denen Gatorp unpässlich war, auf dessen Hütte auf – und ihren gemeinsamen Schatz. Es ging so weit, dass Gatorp selbst bei alltäglichen Verrichtungen Unterstellen zu hören bekam.


    Einmal waren er und Tsino in der Taverne Tee für Gatorps wunden Rachen und Bier für Tsinos Minenrationen kaufen. Der Wirt Bevras, der zu diesem Zeitpunkt Schicht hatte, verkaufte zwar alles anstandlos, doch als er das Trinkerz einstrich, machte er Gatorp gegenüber eine abfällige Aussage: „Das habe ich wahrscheinlich gerade an das Neue Lager verkauft“

    „Hey!“, fuhr Tsino sofort dazwischen. Er hatte einen weiteren Alptraum in der Nacht durchlebt und war entgegen seiner sonstigen Natur überdurchschnittlich gereizt. Bevras' Kommentar provozierte ihn, sodass er ihn anfuhr: „Nimm das sofort zurück, Bevras!“

    Doch der dachte gar nicht daran, sondern schob sich das Erz in einen Beutel, der mindestens so dick war wie sein Bierbauch, als er provokant zu Tsino sagte: „Sonst was? Verprügelst du mich in der Arena?“ Er ließ ein hämmisches Lachen hören, das genau zum Ausdruck brachte, wie wenig er an genau diese Sache nicht glaubte.

    Tsino machte einen aggressiven Schritt auf ihn zu, obwohl sich zwischen ihm und Bevras der Tavernentresen befand. Hätte Tsino in jenem Moment Rede und Antwort stehen müssen, hätte er selbst nicht einmal sagen können, ob er den Schritt gewagt hatte, um auf der Stelle mit Bevras abzurechnen – und er würde es auch nie herausfinden, da Gatorp ihn im entscheidenden Moment am Arm packte und weg zog. „Komm schon...“, sagte er, dessen Stimme sich selbst nach Tagen noch nicht ganz von seiner Erklätung erholt hatte, „Das ist es nicht wert.“

    Bevras rief ihnen hinterher: „Ja, ja, bring es nur deinen Banditenfreunden.“


    Tsino für seinen Teil litt unter Alpträumen, die ihm jede Nacht den Schlaf raubten und ihm tagsüber kaum genug Kraft für die Minenschichten liessen. Mit geringerer Ausbeute als ohnehin schon, war ihm die erhöhte Aufmerksamkeit der Wachen sicher. Sie beobachteten ihn strenger, wenn er Erz schürfte, wie er bei einem unangenehmen Zwischenfall in einer Minenschicht feststellen musste:


    Durchsuchung

    Tsino holte gerade wieder mit der Hacke aus, um auf den trüb schimmernden Brocken vor ihm einzuschlagen. In dem Moment fasste ihn eine Hand an der Schulter und eine zweite legte sich mit der Festigkeit einer Schraubzwinge um sein Handgelenk. Abrupt gebremst tat die Hacke in seinen Armen nur einen abgehackten Ruck, statt auf den Brocken zuzurauschen. Tsino erschrak bis ins Mark. Als er hinter sich sah, stand dort der Minenaufseher Nemo.

    „Mitkommen.“, beschied ihm Nemo ölig, lies ihn los und ging bereits voraus. Tsino wagte nicht sich zu widersetzen. In aller Eile hakte er die Hacke auf dem Rücken ein und schaufelte mit beiden Händen seine Ausbeute in den Sack, den er ächzend schulterte. Ein Großteil der Brocken blieb zwischen dem wertlosen Gestein am Boden liegen, doch die Zeit reichte nicht aus, sie zu trennen und auch noch einzusammeln. Wahrscheinlich würden sich ein paar der weniger umsatzstarken Buddler bei nächster Gelegenheit darüber her machen wie Ratten über ein liegen gebliebenes Stück Käse.

    Schwer beladen versuchte Tsino den Schatten Nemo einzuholen, aber sein steinschweres Gepäck lies es nicht zu, dass er vernünftig rannte. So hoppelte er mit ungleich verteilter Last heftig schnaufend Nemo hinterher. Die Augenpaare der anderen Wachen folgten ihm auffällig und bohrten sich wie Nadeln in seinen Nacken. Auch ein paar der Buddler spähten zu ihm hinüber. Wer mitten in der Schicht von der Ader gerufen wurde, dem stand zweifellos Ärger ins Haus.

    Nemo legte den gesamten Weg durch den Stollen bis an die Oberfläche zurück und führte ihn zu einer der Minenhütten, wo er sich neben dem Eingang aufbaute. „Er ist hier.“, sprach er mit seiner öligen Stimme nach drinnen und zu Tsino: „Rein da.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm er Tsino mit einer Hand den Sack von der Schulter und gab ihm mit der anderen einen kräftigen Stoß zwischen die Schulterblätter, die ihn unbeholfen nach drinnen stolpern liess. Noch ehe er sein Gleichgewicht wieder finden konnte, packte ihn drinnen die nächste Hand unsanft am Oberarm. Es war der Simon, der sommersprossige Schreiner, der neben dem Hütteneingang gelauert hatte und ihn nun noch ein Stück tiefer hinein stieß.

    Drinnen wartete zu allem Überfluß Reldnäh auf ihn und maß ihn mit einem seiner unergründlichen Blicken. Nur von dem sonstigen Lächeln fehlte diesmal jede Spur.

    „Hallo, Reldnäh...“, grüßte Tsino schwach. Er versuchte freundlich zu klingen, wie sonst der Händler, doch die Furcht hatte bereits sein hämmerndes Herz fest im Griff. ‚Was wollen die nur von mir?’

    Reldnäh ging nicht darauf ein, sondern befahl ihn mit einer nickenden Bewegung des Kinns noch tiefer in die Hütte. „Stell dich da an die Wand.“ Tsino gehorchte und stapfte mit weichen Knien zur Hüttenwand hinüber. Es war eine der Schlafhütten, die gerade breit genug gebaut waren, um zwei Reihen Bettkästen mit stinkender Strohfüllung Platz zu machen. Die Minenarbeiter konnten sich hier ausruhen, wenn sie nach einer Schicht zu erledigt waren, um den Rückweg ins Lager anzutreten. Tsino trat zwischen zwei der Betten an die beschiedene Wand und stand nun mit einem Bett Abstand zu Simon, der an dem schmalen Freiraum zwischen Bett und Eingang am Türpfosten lehnte.

    Hinter ihm betrat Nemo den Raum, lies den Sack zu Boden rauschen und kippte den Inhalt auf die Dielenbretter aus. Auf dem Boden kauernd begann er sich sehr sorgfältig ein Bild von der Menge der enthaltenen Erzklumpen zu machen.

    Simon für seinen Teil postierte sich nach dem Eintreten des Minenleiters mit verschränkten Armen im Hütteneingang, was jede Flucht unmöglich machte. Mit vorwurfsvollen Blicken musterte er Tsino, der dort zwischen zwei Betten eingekeilt mit dem Rücken zur Wand stand und der Dinge harrte, die da kamen. ‚Was geht hier nur vor?’ Mittlerweile kam er sich vor wie im falschen Bühnenstück.

    Reldnäh rutschte in seinem eigenen Tempo von dem Bettkasten herunter, auf dem er mit halben Hintern gesessen hatte und trat auf Tsino zu. Ohne eine Erklärung packte er ihn an der Schulter, riss ihn herum und stieß ihn so grob gegen die Wand, dass Tsino reflexartig die Arme hochriss, um sich abzufangen. Mit den Handflächen flach gegen das Holz gedrückt blieb er dann lieber auch so stehen, um die versammelten Schatten nicht noch zu provozieren. Reldnäh löste ihm wortlos die Hacke aus der Rückenhalterung und liess sie neben seinen Füßen zu Boden fallen. Ebenso verfuhr er mit dem Messer aus Tsinos Gürtelschlaufe. Als er es fallen lies, bohrte es sich mit der Schneide nach unten in den Boden und blieb so stecken.

    Tsino, der überhaupt nicht verstand, was gerade vor sich ging, hielt sich für besser beraten so ruhig wie möglich stehen zu bleiben, auch wenn ihm das Herz unkontrolliert gegen die Rippen hämmerte. Dass er immer wieder leise keuchte lag mittlerweile nicht mehr daran, dass man ihn gerade aus einer anstrengenden Minenschicht herausgezogen hatte.

    Reldnäh begann ihm mit flachen Händen den Oberkörper abzuklopfen, das Hemd sogar bis zu den Ärmeln hinunter. Tsino schauderte, wagte aber nicht einmal die Handflächen von der Wand zu lösen. Der Minenleiter zählte unbeeindruckt am Boden das Erz.

    Reldnäh trat noch dichter an ihn heran, griff um ihn herum und löste die Gürtelschnalle. Tsino spürte wie das Gewicht seiner Beutel, die am Gürtel festgebunden waren, von ihm abfiel. Er lehnte nun auch die Stirn gegen die Holzwand. Die Gedanken in seinem Kopf kreisten so sehr, dass ihm schwindlig wurde.

    Den Gürtel mitsamt seinen Besitztümern warf Reldnäh zu Simon hinüber. Etwas schlecht gezielt landete die Habe auf einem Bett. Nacheinander nahm Simon die Beutel in die Hand und sah sich den Inhalt an.

    Reldnäh bückte sich, um jetzt auch nacheinander Tsinos Hosenbeine abzutasten. Tsino schloss die Augen und versuchte nicht darauf zu achten, wie die flachen Hände im Rhythmus von Herzschlägen das Leder seiner staubigen Buddlerhose abklopften.

    „Ha...“, Reldnäh schnappte unterdrückt nach Luft, „Ha...“

    Alarmiert riss Simon den Kopf hoch. Seine Hände waren mitten in der Untersuchung von Tsinos Erzbeuteln erstarrt.

    „Ha...“, entfuhr das abgehackte Geräusch Reldnäh noch einmal, der die Hand verkrampft an Tsinos Hose presste.

    „Was ist!?“, die sonst so ölige Stimme Nemos überschlug sich fast vor Aufregung und Tsino meinte eine unverhohlene Spur von Triumph darin zu hören, „Was hast du gefunden?“

    „Ha... HATSCHI!“ Reldnähs Hand verkrampfte sich bei dem lautstarken Niesen schmerzhaft um Tsinos Wade, der ein leises Wimmern nicht unterdrücken konnte.

    Alle in der Hütte stutzten, als ihnen klar wurde, dass das Luft einziehen kein Ausdruck einer Erkenntnis war, sondern ein einfaches Niesen. Reldnäh schniefte und lockerte endlich den Griff um Tsinos Bein, als er halblaut fluchte: „Verdammter Minenstaub...“ Enttäuscht sank Nemo am Boden kniend wieder in sich zusammen. Simon schien beruhigt und setzte seine Arbeit fort. Auch Reldnäh nahm seine Tätigkeit erneut auf und begann wieder Tsino abzuklopfen und tat es, als habe es nie einen Zwischenfall mit einem lauten Niesen gegeben.

    Obwohl seine klopfenden Hände vorhersehbar immer tiefer krochen, zuckte Tsino trotzdem zusammen, als seine Hosenbeine angehoben wurden und Reldnäh einmal in jeden Schuh griff.

    „Nichts.“, sagte in dem Moment Simon.

    Tsino schlug die Augen auf.

    „Nichts.“, machte Reldnäh und liess endlich von Tsino ab. Er richtete sich auf und sah zu Nemo hinüber: „Und?“ Auch Tsino wagte einen vorsichtigen Blick zu dem Minenleiter hinüber. Rechtzeitig genug, um zu sehen wie dieser den Kopf mit den ölig glänzenden Haaren enttäuscht schüttelte.

    „Zu wenig. Ich kann mir das nicht erklären... Das passiert sonst nur, wenn ein Schürfer unterschlägt!“

    Tsino wagte kaum aufzuatmen. ‚Bin ich jetzt ausser Verdacht?’

    Reldnäh trat auf den Minenleiter zu und sagte unwirsch: „Dann sag ich dir jetzt mal eines... Bevor du das nächste Mal willkürlich einen Buddler anklagst, denkst du zweimal drüber nach, bevor du mit einem 'der Schürfer in der Mine unterschlägt mir Erzklumpen' zu mir kommst. Tsino unterschlägt nicht.“ Reldnäh klang angespannt, als er sprach. Mit jedem Satz wurde er ein Stück lauter: „Das hätte ich dir gleich sagen können, als du von allen Buddlern in der Schicht ausgerechnet Tsino hier herein gebracht hast. Als du von einem ‚Schürfer’ geredet hast, dachte ich schon an einen der Jungs aus dem Neuen.“ Die Schimpftirade wurde von einem abfälligen Schnauben stilvoll abgeschlossen.

    Tsino wandte sich nur langsam und vorsichtig um. Seine Hände glitten von der Hüttenwand, während die Schatten stritten.

    „Normalerweise machen das auch nur Schürfer!“ Nemo, der sich hörbar in seinem Stolz angegriffen fühlte, sprang jetzt mit der Geschmeidigkeit eines kampfbereiten Schatten auf die Füße, während er Reldnäh entgegen pfefferte: „Dann sag du mir, wo das Erz abgeblieben ist: Es. Fehlen. Klumpen!“

    Langsam bückte sich Tsino nach seiner Hacke und nahm sie ebenso langsam auf den Rücken.

    „Mir. Egal.“, gab Reldnäh ebenso abgehakt zurück. Egal ob Überreden, oder Streiten: Mit Worten umgehen konnte Reldnäh gut, was nicht zuletzt einer der Gründe war, warum er den Posten des Außenwelthändlers inne hatte. „Du bist Minenaufseher. Das war der Job, den du machen wolltest. Es ist dein Problem.“

    Tsino suchte Simons Blick, der immer noch an der Tür stand und ihn grimmig musterte. Tsinos Gurt mit seinen Beuteln lag wieder sauber verschnürt auf dem Bett. Tsino deutete mit einem Finger darauf und blickte fragend zu Simon hinüber. Der nickte langsam und gab endlich den Türrahmen frei.

    „Schöne Schatten seid ihr mir.“, giftete gerade Nemo zurück, „Anstatt einen von euch zu unterstützen auch noch Anfeindungen machen.“ Er funkelte zu Tsino hinüber, als ob es dessen Schuld sei. Der hatte seine Habseligkeiten inklusive dem Messer mittlerweile wieder angelegt und senkte den Blick auf den Boden, um ihn dort lange auf dem Sack mit seiner Ausbeute ruhen zu lassen. Schließlich sah er Nemo viel sagend an. Der verstand den Wink und verstand es ebenso gut seinem verletzten Stolz in seinem Ton Ausdruck zu geben, als er Tsino ankeifte: „Nimm ihn!“

    Tsino schlurfte zu ihm hinüber und kauerte sich auf den Boden, um die zerstreute Menge an gehackten Erzklumpen wieder in den Sack zu sortieren. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Noch immer aufgebracht trat Nemo einen der Brocken unsanft gegen Tsinos Hand. „Du hackst jetzt noch zweihundert Klumpen bis zum Schichtende! Danach kannst du mit den anderen Dreckfressern Feierabend machen.“

    Tsino hielt es für besser nicht zu antworten, um nicht noch unnötig Holz ins Feuer nachzulegen. Er legte die letzten Brocken in den Sack und zog ihn zu. Kaum dass er das Gewicht im knien auf seine Schulter gehievt hatte, packte ihn Reldnäh am Arm und zog ihn unnötig grob auf die Beine. Auch er schien noch immer ärgerlich über den Vorfall. Den folgenden Stoß in seinen Rücken nahm Tsino zum Anlass mit gesenkten Kopf aus der Hütte zu stolpern. Reldnäh und Simon kamen ihm hinterher. Nemo war längst nicht mehr zu sehen.

    „Der Kerl ist ein Idiot.“, schnaubte Reldnäh. „Das ist mal wieder der beste Weg, um die treuesten Buddler ins Neue Lager zu verscheuchen.“

    „Sag mal Tsino...“, die Stimme Simons klang, als habe er einen zu viel geraucht, „Wirst du krank?“

    Tsino hörte ihm nur zu und antwortete nicht, während er mit dem Sack auf der Schulter in Richtung Stollen trottete. Simon setzte nach: „Gatorp war krank. Wahrscheinlich hat er dich angesteckt. Ihr seid ja sonst so unzertrennlich.“

    Auch wenn sich manches Mal das Vertrauen in Schatten lohnte: Von dem Schatz und über Teto wollte Tsino lieber nicht reden. Wo hätte er auch anfangen sollen? Damit, wie zwei Buddler einen scheinbar herrenlosen Schatz bargen? Tsino zögerte lange mit der Antwort, ehe er leise meinte: „Ich habe Alpträume.“

    Simon kam nicht mehr dazu noch einmal nachzuhaken, denn Reldnäh warf unwirsch ein: „Du weist, dass du ins Lazarett gehen sollst, wenn du krank wirst. Verseuchte Buddler können wir hier nicht gebrauchen.“

    Damit war das Thema für ihn bereits erledigt, doch Simon sah nicht überzeugt aus. Sie eskortierten ihn zur Mine zurück, wo sie ihn stehen liessen, sobald er sich an eine Erzader gestellt hatte. Simon nahm Reldnäh bei Seite, um leise auf ihn einzureden, wobei er immer wieder besorgt zu Tsino zurück sah. Schließlich gingen die beiden Schatten noch ein Stück weiter weg.

    Kaum waren sie abgezogen, meldete sich zwischen den Hackenschlägen schon der erste Buddler bei ihm: „Mensch, Tsino, was war denn los?“

    So eine Aufregung gab es nur selten und wenn, dann war es sofort die Unterhaltung für die gesamte Minenschicht. Tsino war es unangenehm selbst der Mittelpunkt dieser ungewollten Aufmerksamkeit zu sein. „Nichts.“, versuchte er die Leute abzuwimmeln nur um zu realisieren, dass er es nur noch schlimmer machte. Danach waren sie erst recht der Meinung, dass etwas los war und er etwas verheimlichte.

  • Danke an Uriel, der im Grunde dieses Kapitel geschrieben hat.

    Orden

    Nach der Minenschicht wollte Tsino eigentlich Gatorp aufsuchen. Durch die Annehmlichkeiten des Luxus, die der Schatz ihnen beschert hatte, heilte auch Gatorps Erklältung und Fieber langsam aus. Doch Tsino kam im Lager nicht weit: In der Nähe seines Ziels bog er um eine Ecke und lief unverhofft in zwei scharlachrote Gestalten hinein, die dort auf ihn gelauert haben mussten.

    „Mitkommen, Freundchen.“ Reldnäh hielt ihn mit unnachgiebigen Griff am Oberarm gepackt. Simon hakte sich auf Tsinos anderer Seite ein und gemeinsam schleppten sie ihn davon.

    „Was tut ihr!?“, Tsino wurde unabsichtlich laut. Hier waren zwei Schatten, die ihn aus dem Nichts an den Armen packten und mit sich zogen. Er versuchte zu bremsen, doch sie zogen ihn zu allem Überfluß rückwärts mit sich und so gelang es ihm nicht einmal lange genug mit den Füßen Bodenkontakt zu erhalten, um auch nur vernünftig gehen zu können – geschweige denn die Fersen in den Boden zu rammen, um effektiv Widerstand leisten zu können.

    „Wo bringt ihr mich hin?“ Er warf sich gegen ihren Griff und versuchte sie auszutricksen, indem er die Füße anzog, wodurch er wie ein Stein zu Boden sackte. Doch sie gaben ihm nur einen kräftigen Ruck und trugen ihn sogar ein Stück weit durch die Luft, bis Tsino wieder anfing von alleine nach dem Boden zu strampeln.

    „Wirst du gleich sehen.“, meinte Reldnäh nur. Simon sagte: „Wir haben dir bereits in der Mine gesagt, dass du etwas machen sollst, wenn du krank wirst.“ Sie hatten ihn schon um die Hausecke gebracht und zerrten ihn nun an der Längsseite entlang, wo zwei Hütten unter einem von mehreren Pfosten getragenen Vordach standen. ‚Vielleicht, wenn ich mich an einem der Pfosten festhalte.’ Tsino wand sich verzweifelt, um die Arme frei zu bekommen. Doch es war aussichtslos: Sie hielten ihn viel zu gut fest und zogen ihn vor einem Hütteneingang über das Eisengitter, wo sie sich dem Willen der Heiler folgend die Füße abtraten, ehe sie ihn der Länge nach in den Raum warfen.

    „Er ist hier.“, beschied Simon.

    Tsino schlug hart auf den Steinfließen auf und fand sein Gesicht wenige Handbreit von schwarz lackierten Stiefelspitzen entfernt, die unter einer ausladenden, rot gefärbten Stoffbahn fast gänzlich verschwanden. Benommen starrte er an einer verzierten, roten Robe entlang nach oben, wo er in das milde lächelnde Gesicht eines Magiers sah. Der Magier war mit seinen geschätzten 56 Jahren nicht mehr jung. „Guten Tag... Meister.“, stammelte Tsino und hoffte die korrekte Anrede verwendet zu haben. Der Magier reagierte nicht auf ihn, sondern sah über ihn hinweg zu Reldnäh und Simon, die er mit ruhiger Stimme ansprach: „Befandet ihr es wirklich für nötig ihn mit Gewalt hier her zu schleppen?“

    Reldnäh schnaubte nur. Von seinem sonstigen Lächeln war keine Spur, stattdessen wirkte er angespannt, als er entgegnete: „Wenn der Kerl wirklich besessen ist, wie Simon meint, dann wäre er uns kaum freiwillig gefolgt. Außerdem ging es so schneller.“

    „Besessen?“, schaltete sich Tsino überrumpelt dazwischen. Umständlich rappelte er sich vom Fußboden auf und ereiferte sich, noch ehe er gerade stand: „Ich bin nicht besessen!“

    Simon blieb ruhig, als er dagegen hielt: „Deine Leistung in der Mine nimmt ab. Du hast Alpträume. Andauernd eckst du irgendwo an. Das ist nicht mehr normal, Tsino. Deswegen haben wir uns an den Orden gewandt. Wir haben bereits mit dem Meister gesprochen und er erklärte sich bereit uns in dieser Sache zu helfen.“

    Tsino wandte sich wie betäubt dem Magier zu, bei dem es sich zweifellos um den angesprochenen Meister handeln musste.

    Dieser musterte ihn nur mit nahezu ausdruckslosen Gesicht. Als haben die letzten Teile der Unterhaltung nicht statt gefunden, fragte er ihn: „Ich hoffe, du hast nichts alkoholisches zu dir genommen, Buddler?“ der Magier schmunzelte leicht, als er sich mit Tsino beschäftigte. Dieser antwortete dumpf: „Schon die ganze Woche nicht mehr.“

    Magier: „Das trifft sich gut. Am besten, wir gehen in den oberen Stock. Dort sollte der beste Ort für diese Prozedur sein.“

    Damit wandte er sich in einer so fließenden Bewegung um, dass sie seinem Alter Spott trug, wobei seine Robe daramtisch um ihn flatterte. Schon schritt er mit erhabener Eleganz auf die Steintreppe zu, die ins obere Stockwerk führte.

    „Ich folge.“, murmelte Tsino und setzte sich deutlich weniger elegant, eher widerwillig in Bewegung. ‚Wenn ich es nicht freiwillig tue, erledigen Reldnäh und Simon das.’, fügte er in Gedanken hinzu und tatsächlich folgten ihm die beiden wie ein Schatten.

    Tsino wunderte sich noch, wie der in die Jahre gekommene Magier die Steinstufen so elegant meistern konnte, wobei ihm eine Robe von der Hüfte bis zu den Knöcheln wallte und ihn eigentlich bei jedem Schritt berhindern müsste, während Tsino in seinen eigentlich praktischen Minenarbeiterhosen mit steifen Knien bei jeder zweiten Stufe stolperte.

    Tsino war noch nie in dem oberen Stockwerk, wo sonst nur wichtige Personen wie Lagerangehörige behandelt wurden und neben den Heilern nur noch die Putzhilfen Zutritt hatten. Obwohl er sonst immer eine Neugierde auf diesen verbotenen Bereich verspürt hatte, würde er jetzt liebend gerne einen Teil seines Schatzes eintauschen, nur um nicht hier sein zu müssen.

    Wie im unteren Bereich gab es auch hier Betten, doch mit einem komfortablen Abstand zwischen den Lagern. An den Wänden standen Tische vollgestellt mit Flaschen, Tiegeln abgedeckt oder offen, Schriftstücken, Mörser und Stößel, Kräuter und als sei auf den Tischen nicht genug Fläche vorhanden, gab es noch unzählbar viele Regalbretter an den Wänden im Raum.

    Der Magier schritt voraus zu einem der Betten, neben dem ein Hocker bereit stand, auf den er sich sinken liess. „Setz dich.“, sprach er in milden Ton zu Tsino und nickte dabei auf das Bett. Jedes Mal, wenn er von dem Magier so angesprochen wurde, kam sich Tsino vor wie ein kleines Kind, obwohl er ein ausgewachsener Mann war. Dennoch tat er wie geheissen. Reldnäh und Simon rückten nach und blickten auf den sitzenden Tsino hinab, der deutlich nervös zurücksah.

    Der Magier nahm die verschränkten Hände aus den weiten Ärmeln seiner Magierrobe, um damit eine beschwichtigende Geste in Richtung Tsino zu machen: „Du brauchst keine Bedenken zu haben, Buddler. Du wirst von dieser Prozedur nur wenig mitbekommen.“

    Tsino kribbelte es im Nacken. ‚Prozedur? Was für eine Prozedur denn?’

    Der Magier fuhr fort: „Was die Arbeit ungemein erleichtern würde, wäre wenn du dich ein wenig entspannen würdest und von all dem Trubel, über den du eben nachdenkst, ablässt. Du solltest dich einfach ein wenig entspannen und deinem Geist Ruhe geben.“

    Tsino nickte. ‚Was bleibt mir anderes übrig?’ Er veränderte seine Sitzposition in etwas, von dem er hoffte dass es unter den Augen des Magiers als „entspannt“ durchging. Dennoch blieben seine Finger in unsteter Bewegung und gaben einen ungewollten Hinweis darauf, dass sich seine Gedankenwelt noch nicht so schnell beruhigt hatte.

    Dem Magier schien diese Regung aufzufallen, denn er hob die Hände und machte etwas vor: Er hob leicht die Arme und atmete dabei deutlich wahrnehmbar ein. Nach einer Weile senkte er die Arme und atmete ebenso hörbar wieder aus. Während er es wiederholte, sprach er dabei zu Tsino: „Einatmen... Ausatmen... Einatmen... Ausatmen...“

    Erneut sah sich Tsino keiner Wahl gegenüber gestellt und holte durch den Mund geräuschvoll Luft, nur um kurz darauf wieder auszuatmen. Der Magier behielt seine Bewegung mit den Händen bei, die in Tsinos Sichtbereich auf und ab stiegen. Eher unbewußt nahm er den Rhythmus für sein eigenes Atmen auf und merkte, dass der Trubel in seinem Kopf etwas nachliess, so lange er durch die Atemübung davon abgelenkt wurde.

    „Einatmen...“

    Tsino schloss die Augen und füllte die Lunge mit Luft, bis die Rippen sich nicht weiter dehnen wollten.

    „Ausatmen...“

    Er entlies die Luft wieder und kam sich dabei vor, als schrumpfe er im Sitzen ein, während sich seine Haltung etwas entspannte.

    Neben sich hörte er den Magier sprechen: „Und versuch dabei an nichts Bewegendes zu denken. Konzentriere dich einzig und allein auf den Ton der aus- und einströmenden Luft.“

    Tsino verfolgte sein eigenes Atmen. Wie sich seine Lungen füllten, die Luft kurz hielten und dann wieder ausströmen liessen. Wie sich dieser Kreislauf wiederholte und seine Gedanken endlich ebenso erwünscht wie unerwartet zur Ruhe kamen.

    Der Magier sprach mit ruhiger und besänftigender Stimme: „Entspanne deine Muskeln. Verliere die Anspannung. Hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst.“ Es war, als gehorche Tsinos Körper den Anweisungen des Magiers und im Sitzen sackte er in seiner Position zusammen.

    Neben ihm gingen Reldnäh und Simon in eine entspanntere Haltung über.

    Nur noch die Stimme des Magiers drang in Tsinos Bewußtsein: „Du bist hier sicher behütet. Gib dich der Ruhe hin und entspanne deinen Geist, deinen Körper, deine Seele.“

    Tsino hörte das gleichmäßige Atmen und konnte nicht wirklich sagen, ob es sein eigener Atem war oder der des Magiers, der den Rhythmus vorgab.

    „Fühl dich geborgen, als wenn eine leichte Sommerbrise in dein Gesicht weht und dich entspannen lässt.“

    Es war nicht so, als fühle Tsino sich gut. Im Gegenteil fühlte er sich noch immer, als laste ihm ein drückendes Gewicht auf den Schultern. Seine Muskeln prickelten noch von der letzten Minenschicht. Doch er war entspannt und hing nur noch wie ein Sack aus Fleisch und Knochen auf dem Bett. Er spürte nicht einmal mehr, wie er nach hinten wegsackte und der Länge nach ausgestreckt auf dem Bett liegen blieb.

    Der Magier legte seine eigenen Hände in seinem Schoss ab.

    Plötzlich wurde es still im Raum und kein störendes Geräusch vermochte diese Stille zu brechen.

    Der Magier atmete noch einmal langatmig aus und löste seinen Geist aus jenem Körper, welchen er auf dem Hocker neben dem Buddler platziert hatte.

    Reldnäh und Simon konzentrierten ihre Sinne auf das, was da im Raum vor sich ging, doch auch sie vermochten den Magier nicht zu spüren, dessen Geist sich auf Tsino zubewegte, während der Magier die Hand nach ihm ausstreckte. Behutsam formte er ein wenig magische Kraft in der Handfläche und lies sie in den Körper des Buddlers strömen.

    Tsino lag regungslos auf dem Bett und konnte doch eine Strömung von Wärme wahrnehmen, die sich von seiner Stirn über seinen ganzen Kopf ausbreitete, über den Hals, über die Arme und den Oberkörper floß, bis zu den Beinen und schlussendlich bis hinein in die Zehen. Diese Strömung war eine einmalige Wellenbewegung, die da durch den Körper ging.

    Der Magier blieb noch einen Moment ruhig sitzen, in dem er seine Eindrücke auswertete. Er konnte keine Anzeichen von einem Fluch entdecken, also...

    Der Geist des Magiers setzte dann zu einem beherzten Sprung an und drang über die Herzseite des Buddlers in dessen Körper ein. Eine weitere erwärmende Welle verbreitete sich diesmal von dort aus in Tsinos gesamten Körper.

    Diese Welle der Wäre kam schliesslich zum Erliegen.

    Des Magiers Geist bewegte sich durch den ganzen Körper. Tsino konnte diese Bewegung spüren, die sich durch ein leichtes Kribbeln bemerkbar machte. Die Reise ging vom Herzen über die Beine, hoch zur Lunge, zu den Armen und schließlich bis in den Kopf. Der Magier konnte nun auch ausschließen, dass ein Dämon Besitz von diesem Buddler ergriffen hatte und drang nun in dessen Geist ein.

    Ein Strudel aus Erinnerungen erfasste dabei den Geist des Magiers. Eine Unmenge dessen, wessen er nicht mächtig war zu analysieren, bis er im Zentrum angelangt war und dort die Hand auflegend zu Boden kniete. Sein Geist schloß dabei die Augen, um die Erinnerung des Buddlers nicht zu sehen und konzentrierte sich einzig und allein auf den möglichen Befall seines Geistes.

    Er versuchte eine Konzentration des Bösen zu bemerken, die von einer Besessenheit herrühren konnte. Doch dem Geist des Buddlers fehlte eine solche Konzentration des Bösen. Er war nicht besessen.

    Der Geist des Magiers erhob sich wieder aus der Position und verließ den Geist des Buddlers über jedwegen Weg, in welchem er schlussendlich dort angkommen war. Erneut konnte Tsino diese Wärme spüren. Ebenso die Welle der Wärme, die sich ausbreitete, nachdem der Geist des Magiers den Körper des Buddlers gänzlich verlassen hatte.

    Mit einem Aufatmen drückte sich Tsino vom Bett hoch. Er blinzelte und sah fragend den Magier an, der ihn ansprach: „Du brauchst unbesorgt zu sein. Von dir hat nichts Böses Besitz ergriffen und du bis weiterhin Herr deines Handelns.“ Erleichtert atmete Tsino auf.

    Der Magier drückte sich hoch. „Nun.“, sagte er und sah dabei vielsagend zu Reldnäh, „Ich denke meine Hilfe wird hier nicht mehr gebraucht.“

    Respektvoll senkten die Schatten die Köpfe. Reldnäh zog einen prall gefüllten Erzbeutel hervor und reicht ihm den Magier. „Vielen Dank für Eure Zeit, Meister.“

    Der Magier nahm den Beutel mit einem Nicken an und schob ihn zusammen mit seinen Händen zurück in die weiten Ärmel seiner Roben. „Innos mit euch, meine Kinder.“, sagte er zum Abschied und schritt damit zurück zu der Treppe, die hinaus führte.

    Tsino richtete sich schwerfällig auf. Mit der Erinnerung an Wärme im Körper war ihm mehr denn je nach schlafen. „Komm.“, sagte Simon und zog ihn am Arm in die Senkrechte, um ihm dann einen sanften Stoß in Richtung Treppe zu geben. „Du siehst auch aus, als ob du gleich im Stehen einschläfst. Mach, dass du raus kommst.“ Er sagte es sanftmütig und folgte bereits seinem eigenen Ratschlag, indem er die Treppe hinunter stieg. Reldnäh eskotierte Tsino, der sich knapp von den beiden Schatten verabschiedete und entgegen seines ursprünglichen Planes ohne einen Besuch bei Gatorp zurück zu seinem Schlafplatz wankte.

    Dort liess er sich gleich hinfallen und schloss die Augen. Das eine Mal schlief er traumlos.

  • Suche

    Eines Abends saßen Tsino und Gatorp zusammen und besprachen ihre Lage bei einem Paladiner.

    Tsino ergab sich in jenem Moment seiner Skepsis: „Und alles haben wir nur dem Schatz zu verdanken. Ja, wenn du mich fragst, war er verflucht.“

    Mit leicht angehobenen Brauen echote Gatorp: „Verflucht?“

    Tsino ereiferte sich weiter: „Denk doch mal nach... Alles, was uns an Missgeschicken passiert ist. Das hat erst mit dem Schatz begonnen. Irgendetwas ist faul damit.“

    Gatorp erwiderte eher flach: „Was willst du machen? Das Ding wieder eingraben?“

    Tsino entgegnete müde: „Das nicht. Aber: Wir werden erst wieder glücklich, wenn wir das Rätsel um die Leiche gelöst haben, die bei dem Schatz lag.

    Mir erscheint er immer wieder im Traum...“ Tsino rieb sich das Gesicht. Geradezu als hoffe er sich damit die Müdigkeit und die Alpträume herunterreiben zu können. Wie zu erwarten änderte es nichts an der Situation, nur dass ihm jetzt zusätzlich die Wangen brannten.

    Gatorp musterte ihn einige Momente nachdenklich, während der er sich den dichten Bart kraulte. Schließlich fragte er vorsichtig: „Ist das etwa der Grund, warum dich der Orden im Lazarett besucht hat?“

    Tsino nickte schwach. Sein Kopf fühlte sich dabei vor Müdigkeit so an, als sei er gerade einen Berg hinuntergerollt und wieder hinauf geschwungen. Müde blinzelte er.

    Gatorp besah sich seinen Zustand. Nach einer längeren Pause setzte er an: „Lass uns scharf nachdenken...“ Gatorp versuchte dann den übermüdeten Tsino zu kompensieren, der es normalerweise war, der die Dinge logisch sortierte und dann brauchbare Pläne aufstellte: „Wir suchen Teto.“

    Tsino machte: „Warum?“ Er wusste selbst, dass es nicht hilfreich war. Doch im Augenblick war sein Kopf von einem Nebel, dick wie Erbsensuppe, beherrscht und liess es nicht zu, dass sich Details aus seinem Erinnerungsvermögen schälten.

    Gatorp blieb hartnäckig: „Der soll uns das alles erklären.“

    Tsino gab sich trotz seiner Müdigkeit alle Mühe das Gespräch mit Teto revue passieren zu lassen, kam mit seinen vernebelten Gedanken aber auf keinen grünen Zweig. Schließlich murmelte er: „Er ist uns bisher nur ein einziges Mal begegnet und seither nicht wieder aufgetaucht. Was willst du machen? So lange am Grab warten, bis er erneut auftaucht? Nein... Wir können nicht darauf hoffen, ihm auf der Straße zu begegnen. Wir haben ihn nie zuvor im Alten Lager gesehen, daher glaube ich auch nicht daran, dass er uns dort jemals wieder begegnen wird. Wahrscheinlich ist er nicht einmal ein Buddler.“

    „Wenn er uns absichtlich meidet, dann haben wir schon verloren.“, ergänzte Gatorp nur um weiter laut nachzudenken: „Also brauchen wir einen anderen Hinweis, dem wir nachgehen können. Nur... wie könnte der aussehen?“

    Tsino marterte sich das Hirn. Er strich sich noch einmal mit der Hand durch das Gesicht und meinte dann lahm: „Teto erwähnte doch einen Namen...“ Er strengte sich an, doch ihm wollte der Name nicht einfallen.

    „Tide Nap.“, erinnerte sich dafür Gatorp. Er hob den Kopf und starrte Tsino direkt an, als er fragte: „Wenn wir ihn finden... Meinst du, wir finden dann auch eine Lösung für unser Problem?“

    Tsino antwortete mit nur noch mehr Fragen: „Das stellt uns vor noch mehr Probleme: Wer ist überhaupt Tide Nap? Wie sieht er denn aus? Wo und wie können wir ihn finden?“ Gatorp richtete sich auf und fuhr sich nachdenklich den Bart, wie er es meistens tat, wenn er über irgendein Problem nachdachte. „Langsam.“, mahnte er laut, „Und alles der Reihe nach. Was wollen wir überhaupt?“

    Aus Tsino sprudelten die Worte hervor, als sei ein Damm gebrochen: „Ich will diese Alpträume loswerden, um endlich wieder durchschlafen zu können. Bin ich erst einmal ausgeruht, gibt es in den Minenschichten auch weniger Ärger. Ich will wissen, was es mit der Leiche auf sich hat. Ich muss einfach wissen, warum Teto uns erst auf seinen ermordeten Zwillingsbruder aufmerksam macht und dann auf nimmerwiedersehen verschwindet, ohne seinen Teil des Schatzes zu verlangen.“

    „Langsam, langsam. Langsam!“, machte Gatorp erneut, doch dann wurde er sehr still. Tsino konnte sehen, wie sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck annahm, doch da er dabei wie in seinen eigenen Gedankengängen gefangen vor sich hin starrte, hatte Tsino auch keinen Hinweis, was ihm durch den Kopf gehen könnte. Er musste sich noch eine ganze Weile gedulden, denn erst nach einer längeren Pause gab Gatorp mit rauher Stimme zu bedenken: „Was ist... Wenn es gar nicht Tetos Zwillingsbruder ist?“

    Tsino starrte ihn müde und begriffstutzig an: „Was meinst du damit?“

    Gatorp sagte mit einem Gesichtsausdruck, als gefiele ihm der eigene Gedankengang nicht: „Was ist, wenn es Teto selbst ist?“

    Tsino versuchte den Gedanken herunter zu schlucken, brachte aber nur ein trockenes Geräusch zu stande. Mit einer Stimme, die so rauh klang wie sonst nur die von Gatorp, meinte er: „Daran will ich gar nicht denken.“ Genau genommen weigerte sich jede Faser seines logischen Denkvermögens diesem Gedanken auch nur eine Chance zu geben. Alpträume hin oder her.

    „Es... ist nicht... Teto. Verstehst du?“, machte Tsino mit etwas zu viel Nachdruck, „Es ist sein Zwillingsbruder. Sie haben den Schatz vergraben... und aus irgendeinem Grund...“ Er schüttelte den Kopf und brach ab. Sein Kopf fühlte sich an wie in einer Schraubzwinge und wollte keinen klaren Gedanken mehr ausgeben.

    Gatorp stützte die Ellenbogen auf und stemmte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. „Wer kann uns helfen? Wer kennt Teto und kann uns erklären, warum die Leiche seines Zwillingsbruders mit dem Schatz vergraben war?“

    Es folgte eine Pause, in die Tsino einen Gedanken flüsterte, der in seinem Kopf herum spukte: „Wir müssen Tide Nap finden.“ Auch dieser Gedanke war nicht hilfreich. So lange die Rede von „müssen“ war, war er nicht Herr seines Handelns.

    Aber jetzt war der Moment gekommen das Heft selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht mehr treiben zu lassen. Tsino wollte kein Gejagter mehr seiner eigenen Alpträume sein. Er verschränkte die Finger, pustete aus und presste sie sich an die Stirn.

    „Wie finden wir Tide Nap?“, frage er laut, nur um dann hinterher zu setzen: „Was wissen wir über ihn?“

    Angespannt hob Tsino den Kopf und betrachtet Hilfe suchend Gatorp, als könne dieser vielleicht die Lösung aus dem Ärmel ziehen und präsentieren.

    „Nur das, was Teto uns erzählt hat...“, war die lahme Antwort von Gatorp. Er vermochte nicht die gesuchte Antwort oder wenigstens irgendeine Art von Erklärung aus dem Ärmel zu schütteln, doch er gab sich redliche Mühe, indem er weiter rätselte: „Was hat Teto noch gleich von Tide erzählt? Er sah aus wie ein...“

    Tsino versteifte sich. Das waren die Informationen, die er gesucht hatte. Es war enorm wenig, mit dem er da arbeiten konnte und es machte ihn mutlos. Sofort kämpfte er gegen dieses lähmende Gefühl an, indem er sich selbst wieder aufzubauen versuchte.

    ‚Wann standen wir schon einmal mit so wenig in der Hand da?’, stellte er sich die hoffnungslose Frage. Darauf wollte ihm in Gedanken nichts einfallen, also formulierte er sie überspitzt und stellte sie einfach laut: „Wann standen wir schon einmal mit so gar nichts in der Hand da?“

    „Das ist einfach.“, diesmal kam die Antwort Gatorps fast sofort: „Wir wurden nur mit unserem Leben und den Gefängnislumpen am Leib in die Kolonie geworfen.“ Er lächelte schief, als er fortfuhr: „Heute nennen wir eine Hacke unser eigen, du eine hölzerne Trainingswaffe, ich ein scharfes Schwert, wir haben schon lange einen Platz gefunden, an dem essbare Pilze wachsen, wir konnten uns eine geräumige Hütte anmieten und mittlerweile kennen wir jede Menge Leute, mit denen wir Informationen und Gefälligkeiten austauschen können.“

    Tsino fühlte sich bereits etwas aufgebaut und fügte hinzu: „Verglichen mit dem Moment in dem du nass, frierend und hungrig in der Strafkolonie angekommen bist, kannst du jetzt stolz auf deine Errungenschaften sein.“

    Er lies sich von dem Gefühl der Hoffnung den Rücken stärken, ehe er sich wieder seinen eigentlichen Problemen zuwandte:

    „Ich weis zwar nur wenig über Tide Nap... Aber ich finde ihn!“

  • zu Protokoll

    „Nach allem, was wir über Tide Nap wissen, könnte er ein Buddler sein.“, fing Tsino erneut an, „Und wo findet man Buddler für gewöhnlich?“

    Die einstimmige Antwort lies nicht lange auf sich warten: „In der Mine!“

    „Wir könnten in die Mine gehen und alle Anwesenden fragen, ob sie Tide Nap sind, oder ihn gesehen haben.“, schlug Gatorp mit einer Stimme vor, der man eine leichte Aufregung anmerkte. Endlich fühlte es sich so an, als haben sie einen Strohhalm gefunden, nach dem sie greifen konnten.

    Tsino widersprach ihm mit Kopfschütteln: „Und wenn einer zu dem Zeitpunkt in einer der Ruhehütten ist, um zu schlafen, oder am Fluß, um sich zu waschen?“

    „Dann hätten wir ihn fast verpasst.“ Gatorp kraulte den rotblonden Bart an seinem Kinn, als er nachdachte. Tsino meinte müde: „Wir brauchen eine Möglichkeit festzustellen, wer in den Minenschichten war...“

    Gatorp zeigte einen Gesichtausdruck, als ginge ihm bei der Formulierung ein Licht auf: „Die Vorarbeiter.“

    „Vergiss es.“, meinte Tsino begriffstutzig. Er schüttelte den Kopf einerseits um zu widersprechen, andererseits, um die Müdigkeit abzuschütteln. „Die kennen wir alle mit Rang und Namen und keiner von denen heißt Tide Nap.“

    „Das meinte ich nicht.“, meinte Gatorp und fuhr gleich fort, ohne sich unterbrechen zu lassen: „Die Vorarbeiter führen Protokoll über jede geschlagene Schicht. Sie schreiben sogar die Namen der Anwesenden auf.“

    „Du meinst...“ in Tsinos Augen leuchtete es auf, als er Gatorps Gedankengang aufnahm, weiter dachte und aussprach: „Wenn wir die Protokolle einsehen dürften...“

    Gatorp beendete den Satz für ihn: „...dann finden wir Tide Nap.“

    Grinsend fügt Gatorp hinzu: „Das liefert uns sogar eine Beschreibung von ihm auf dem Silbertablett.“

    „Aber wie kommen wir jetzt an diese Protokolle?“, rätselte Tsino laut, der sich in seinem angeschlagenen Zustand daran gewöhnte Gatorp das Denken zu überlassen, „Kennst du vielleicht einen der Vorarbeiter so gut, dass er uns einen Blick in die Protokolle werfen lässt?“

    Gatorp antwortete: „Ich kenne Retiebrarov recht gut.“

    Tsino fragte weiter: „Gibt es irgendein Getränk, das er besonders mag?“

    Gatorp brummte nachdenklich, ehe er zu Antwort gab: „Nun ja... Bier eben. Deswegen hat er davon auch immer einen Vorrat. Ich glaube der hat mindestens einen Kasten in der Mine stehen und ein Regal voll in seiner Hütte.“

    „Sollen wir ihm trotzdem eines vorbei bringen?“ Tsino stellte den Vorschlag zwar als Frage, doch für ihn stand längst fest, was sie tun würden und klang entsprechend zuversichtlich. Dennoch blieb Gatorp zurückhaltend, als er sagte: „Versuchen können wir es ja. Aber ich warne dich: Er ist nicht so der gesellschaftliche Typ.“


    Sie versuchten ihr Glück. So lange es nicht gerade zur Mine ging, war dieser Vorarbeiter schwer zu finden, wie sich heraus stellte. Eher zufällig trafen sie ihn wie er in brütender Mittagshitze sinnlos im Lager herum gammelte. Er saß auf den Bänken oberhalb der Arena.

    „Oh, hi Retty.“, grüßte Tsino ihn bei dem Spitznamen, mit dem man ihm allgemein im Lager rief und gebärdete sich, als seien sie nur zufällig auf ihn getroffen und nicht, als ob sie ihn seit geschlagenen Stunden im Lager suchten. Locker hob er eine Hand zum Gruß und kam mit Gatorp zu ihm hinüber. „Was machst denn du hier?“

    Mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln wartete Tsino auf eine Antwort, doch es kam keine. Schon schmolz ihm der Gesichtsausdruck und er fragte sich, was los sei, als der Angesprochene endlich mit einem Brummen aufblickte. „Hrm?“

    „Was du hier machst?“, fragte Tsino noch einmal und zauberte sich schnell wieder das Lächeln ins Gesicht.

    „Ich warte...“, setzte Retiebrarov an.

    „Oh, wirklich?“, machte Tsino und fuhr um ein entspanntes Gespräch bemüht fort: „Auf wen wartest du de-“

    „...auf den Minenkonvoi.“

    Es war in dem Moment, in dem Retiebrarov Tsino ins Wort fiel, als dieser realisierte, dass der andere keineswegs genervt, kurz angebunden oder wortkarg war. Er war einfach nur auf seine eigene Weise langsam. Während dieser Erkenntnis blieb Tsinos Mund offen stehen.

    Gatorp amüsierte sich im Stillen. Rasch fing Tsino sein heruntergefallenes Lächeln wieder auf, mit dem er Retiebrarov kurz anglühte, ehe er sich leise flüsternd an Gatorp wandte: „Was ist denn mit dem los?“

    Gatorp flüsterte ebenso leise zurück: „Ich habe dir gesagt, dass er nicht so der gesellschaftliche Typ ist.“

    „Ja... aber was soll das heißen?“

    Erneut wurde Tsino durch ein gebrummtes Geräusch von Retiebrarov unterbrochen. „Was ist?“, fragte der Vorarbeiter lahm und sah zu ihnen herüber. Rasch klebte sich Tsino ein Lächeln voll Sonnenschein ins Gesicht und wandte sich Retiebrarov wieder zu: „Nichts. Wir haben gerade nur beratschlagt, ob du ein Bier brauchst? Du siehst bei dem trockenen Wetter heute ganz schön durstig aus! Paladiner ist dir doch hoffentlich recht?“

    Damit war Tsino anscheinend erneut zu schnell für Retiebrarov, denn dieser starrte ihn mehrere Sekunden lang an, ehe er zurück gab: „Ja... ist heiß heute.“

    Ratlos warf Tsino einen Blick zu Gatorp. Der holte souverän das frisch gezapfte Paladiner hinter dem Rücken hervor und streckte es in einer Bewegung zu Retiebrarov aus, als wolle er es zu diesem hinüber werfen. Allerdings beliess er es bei der Geste, behielt den Humpen doch in der Hand und ging auf Retiebrarov zu.

    Normalerweise zuckten die Leute bei diesem Scherz in der Annahme zusammen, dass sie gleich etwas fangen mussten, doch bei Retiebrarov blieb der Reflex aus. Dieser beäugte erst das Bier einige Sekunden und streckte dann erst die Hände langsam danach aus.

    Tsino begann sich langsam das Hirn zu martern, was mit dem Mann eigentlich los war. Er folgte Gatorp, der sich auf Retiebrarovs eine Seite setzte und ihm dabei das Bier wortwörtlich in die aufnahmebereiten, offenen Hände drückte. Los lies er erst, als er sich sicher war, dass der andere fest genug zupackte, um den vollen Humpen nicht gleich wieder fallen zu lassen. Tsino liess sich auf Retiebrarovs anderer Seite sinken, so dass sie ihn nun in der Zange zwischen sich hatten. Teil des Plans.

    Tsino war noch nie in die Verlegenheit gekommen sich in einer von Retiebrarovs Schichten eine Hacke lehen zu müssen, daher konnte er auch nicht sagen, wie es dort ablief. Mittlerweile rätselte er darüber, ob Retiebrarov eine Behinderung hatte oder ob er sich absichtlich verstellte.

    Entgegen ihrer üblichen Taktik, bei denen in Gesprächen meistens Tsino die Vorhut bildete und in die Defensive des Gegenübers preschte, damit Gatorp in der Zeit des Scharmützels zu ein paar wohl platzierten Hammerschlägen ausholen konnte, die das Wortgefecht meist zu ihren Gunsten entschieden, verlegte sich Tsino diesmal spontan auf das Beobachten und überliess Gatorp das Reden.

    Der schien mit dem Minenarbeiter gut zu können und plauderte über zwei bis drei Belanglosigkeiten, während der andere mit Augen und Mund das Bier untersuchte. „Das war ordentlich, was Shadow im letzten Arenakampf hingelegt hatte.“, war das erste Thema, das Gatorp Retiebrarov gegenüber anschnitt, „Einfach so einen frischen Rekruten herauszufordern. Als ich hätte mich das ja nicht getraut. Der Rekrut war zwar Frischfleisch, aber das ganze Lager wusste, dass er schon seit zwei Monaten Dauertraining bei einem der Stahlplattengardisten nahm.“

    Retiebrarov ließ nicht erkennen, ob er Gatorp überhaupt zuhörte, oder nicht doch mehr Interesse am Bier nahm. Das hob er in einer langsamen Bewegung an und schlürfte etwas an der Schaumkrone, ehe er es ohne besondere Regung wieder absetzte. Es geschah mit der Langsamkeit eines Genießers, doch für einen Genießer war Retiebrarovs Gesicht viel zu ausdruckslos.

    „Das war ganz schön ordentlich, was dieser Buddler letztens in der Mine vorgelegt hatte.“, machte Gatorp weiter. Offensichtlich brauchte es alltägliche Themen, um warm werden zu können. „Das Loch, das er in die Wand gehackt hat, habe ich mir später noch einmal angesehen. Bin gegen Schichtende hin um zu sehen, ob es noch etwas zu holen gibt, nachdem der da drauf getrümmert hatte. Blanko. Ein paar blaue Flecken gab es noch. Aber ansonsten hat der alles rausgehauen aus dem Felsen, was jemals drin war.“

    Tsino fiel bei seinen Beobachtungen auf, dass Gatorp mit besonderem Nachdruck zu Retiebrarov sprach und seine Aussagen nie mit einer Frage - und sei es auch nur eine rhetorische - abschloß. ‚Ob Retty einfach denkfaul ist?’, fragte sich Tsino. Hin und wieder kam vom Vorarbeiter ein Brummen. Er schien also gedanklich irgendwie beizuwohnen – wenn auch in seinem eigenen Tempo.

    „Du sag mal, Retty...“, setzte Gatorp jetzt an und wartete so lange, bis sich Retiebrarovs Kopf in seine Richtung bewegte, um ihn unter schweren Lidern anzusehen. „Ich bin auf der Suche nach einem alten Freund, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Der kommt bestimmt regelmäßig zur Minenschicht.“ Er lies einen Augenblick vergehen, den Tsino für eine viel zu auffällige Pause hielt, ehe er den Hammer folgen lies: „Kannst du für mich mal in den Minenprotokollen nachlesen, ob sein Name da auftaucht?“

    Tsino war bis unter die Haarspitzen gespannt, wie Retiebrarovs Reaktion ausfiele. Ob er ihnen gleich die Hölle dafür heiß machen, würde, da sie Unterlagen einsehen wollten, die sie nichts angingen? Oder würde er sie einfach nur lachend abblitzen lassen? Außerdem gingen sie das Risiko ein, dass der Vorarbeiter sie ohne Umschweife beim Minenverwalter anzeigte. Dann wäre ihnen Ärger garantiert.

    Es vergingen einige Sekunden, ehe Retiebrarov lahm meinte: „Die Protokolle liegen in der Burg.“

    „Was?“, schoss es aus Tsino hervor, „Was machen die denn da?“

    Gatorp machte eine beschwichtigende Geste in seine Richtung, doch Retiebrarov wandte Tsino mit der Geschwindigkeit einer Schnecke auf Reisen den Kopf zu: „Die Protokolle werden in der Mine geschrieben...“, setzte er so langsam an, dass Tsino zuerst meinte er liesse den Satz absichtlich offen und deswegen seinerseits zu reden begann: „Das weis ich. Immerhin sehe ich in jeder Schicht wie-“

    „...vom Minentleiter geprüft...“, sprach Retiebrarov weiter und Tsino realisierte erst dadurch, dass er ihm erneut ins Wort gefallen war. Ungeduldig wartete er ab, bis auch der Rest des Satzes folgte.

    „...und dann an den zuständigen Gardisten weiter geleitet.“ Tsino sah Gatorp mit einem Blick an, der wortlos „Und jetzt?“ ausdrückte. Als auch von dieser Seite keine Reaktion kam, fragte er an Retiebrarov gewandt: „Aber ihr behaltet doch bestimmt Kopien?“

    Der genehmigte sich einen tiefen Schluck von seinem Bier, der unendlich lange zu dauern schien. „Mh... Ja.“, meinte der schließlich.

    Tsino ließ die Hand auffordernd in der Luft rotieren, bis ihn Gatorp warnend ansah. Daraufhin lies er die Hand wieder sinken und fasste noch einmal nach, als nichts mehr kam: „Zeigst du uns die?“

    Er konnte sein Glück kaum fassen, als Retiebrarov mit einem zustimmend gebrummten „Mhm.“ antwortete. Gespannt blieb er sitzen, doch Retiebrarov hatte die Ruhe weg und rührte sich nicht einmal mehr, um einen Schluck von dem Bier zu nehmen. Es kam ihm vor wie eine verstrichene Ewigkeit, ehe sich Tsino genötigt fühlte nachzusetzen: „...Jetzt?“

    Es blieb ihm genügend Zeit seine eigenen Herzschläge zu zählen, ehe Retiebrarov „Morgen“ antwortete.

    „Morgen?“, wiederholte Tsino, „Warum denn erst morgen?“ Schon dachte er Retiebrarov verärgert zu haben, weil dieser nicht mehr antwortete, doch schließlich kam von ihm lahm: „Weil ich morgen Schicht habe.“

    Der Grund leuchtete Tsino ein, obwohl er am liebsten laut und frustriert aufgestöhnt hätte. „Schon verstanden. Wir sehen uns dann morgen zur Schicht, Retty. Mach's gut!“ Er sprang auf und konnte es kaum erwarten zu gehen. Das Gespräch mit Retiebrarov verwirrte ihn einfach zu sehr. Vielleicht war er auch damit zu schnell gewesen. Dennoch kam Gatorp ihm nach wenigen Schritten hinterher.

    „Was ist denn bloß mit dem los?“, machte Tsino seiner Verwirrung laut Luft.

    „Das macht der Alkohol.“, gab Gatorp zurück.

    „Der Alkohol?“

    „Ja... Siehst du, Retty hat schon so viel getrunken.. Ohne seinen Alkohol ist er... ein wenig merkwürdig.“

    „Du meinst, weil es drei Sekunden dauert, bis er antwortet?“

    „Genau und im nüchternen Zustand zittern ihm die Hände.“

    Doch das hielt sie nicht ab anderntags zum Minenkonvoi mit in die Mine zu gehen. Während die Leihhacken ausgegeben wurden, trödelten sie herum. Tsino hatte sich mit einem weiteren Bier bewaffnet. Nachdem die letzte Hacke verteilt war, nahm sich auch Retiebrarov eine Hacke auf die Schulter und wollte eben den anderen Arbeitern zu den Adern folgen. Doch als er um den Stand herum ging, erwarteten ihn dort bereits Gatorp und Tsino.

    Der eine mit einem Bier, der andere mit einem leutseligen Lächeln. „Hi, Retty. Wir haben dir wie versprochen Bier mitgebracht. Können wir...“

    „Was macht ihr denn noch hier oben?“ Reldnähs Stimme kam wie aus dem Nichts. Schuldbewußt sah Tsino zu Gatorp, der Reldnäh betont gelassen mit einem Nicken grüßte. „Wir wollten gerade Hacken gehen.“, gab Retiebrarov langsam den letzten Gedanken zum Besten, der sich in seinem Hirn festgesetzt hatte. Glücklicherweise stammte der noch aus dem Moment vor Gatorps und Tsinos Überfall und rettete ihnen jetzt unerwartet den Kragen.

    Reldnähs aufmerksamer Blick musterte sie alle drei der Reihe nach, während ein Lächeln seine Miene entschärfte. „Dann auf jetzt.“ Reldnähs Stimme klang nicht unfreundlich, dennoch fühlte sich Tsino unwohl. Es war einer jener Blicke mit denen er immer zu viel sah. Rasch wandte er sich ab und zu viert – den Schatten auf den Fersen – gingen sie zu den Adern hinunter.

    Beim Hacken vermied Tsino es sich umzudrehen, doch er hätte schwören können, dass ihn Reldnähs schneidender Blick weiterhin beobachtete. Zumindest kitzelte ihm den ganzen Vormittag über etwas unangenehm im Nacken.

    Kurz vor der Pause löste sich Retiebrarov, der Dienst habende Vorarbeiter, aus der Buddlerschicht und marschierte zum Stand hinauf. Tsino löste sich ebenfalls und schlich sich möglichst unauffällig davon. Das Bier an seinem Gürtel war mittlerweile nicht mehr sonderlich gut durchgekühlt.

    Doch noch ehe er den Stand erreichte, trat ihm Reldnäh in den Weg. „Wo wollen wir denn hin?“, hielt ihn Reldnäh auf. ‚Das war ja klar, dass er mich nicht aus den Augen gelassen hat.’ Tsino sah schuldbewußt zu Reldnäh.

    Im ersten Moment entschied er sich für die Wahrheit: „Zu Retty.“

    Ehe er eine faustdicke Lüge hinterher setzte: „Um ihm bei den Rationen zu helfen.“

    Reldnäh lächelte freundlich und musterte ihn gleichzeitig schneidend. Tsino fragt sich ernsthaft, ob er Gedanken lesen konnte, oder ob er sich den wissenden Zug in seiner Miene nur einbildete.

    Unter dem Blick nachgebend murmelte Tsino kaum verständlich: „Ich gehe wieder zurück zu...“

    „Na dann ab zu Retty mit dir.“, meinte Reldnäh plötzlich, ihm ins Wort fallend.

    Tsino machte erleichtert auf dem Absatz kehrt und rannte fast zum Stand hinauf.

    Das Bier bot er Retiebrarov am Stand an, der gerade dabei war Brote für die Rationen zu halbieren und großzügig mit Fett zu beschmieren, ehe er sie mit Wurst, Käse und Zwiebelringen belegte. Es zeigte sich, dass Retiebrarov in Gesprächen zwar langsam, sein Gedächtnis aber besser als das des durchschnittlichen Buddlers war, denn als er das Bier sah verstrichen die üblichen drei Sekunden, ehe sich Retiebrarovs Reaktion anbahnte. Diesmal indem er sagte: „Du hast mir bereits gestern ein Bier vorbei gebracht.“ Tsino trat von einem Fuß auf den anderen, unschlüssig, was er darauf antworten sollte. Das gab Retiebrarov genug Gelegenheit seinen Satz zu beenden: „Zusammen mit Gatorp.“

    „Ja...“, machte Tsino gedehnt. Er fasste sich ein Herz und versuchte es gerade heraus: „Zeigst du mir die Protokolle?“ Er wartete Retiebrarovs Reaktion ab, die erneut um ein paar Sekunden verzögert kam. Diesmal nickte er zu einem Tisch. Tsino sah dorthin und erst jetzt fiel ihm der dicke Papierstapel dort auf. „Sind das die Protokolle?“ Ihm sanken die Schultern. „Wie soll ich so viel Papier auf einmal abarbeiten? Das dauert ja ewig.“ Zu spät realisierte er, dass er mit dieser Fülle an Aussagen einmal mehr zu schnell für Retiebrarov war.

    Während der Vorarbeiter noch dabei war gedanklich die gehörten Sätze zu sortieren, machte sich Tsino daran den Stapel durchzusehen. Die ersten paar Seiten war er fasziniert von dem, was er da las. „Ja, das sind die Protokolle.“, kam in seinem Rücken die Antwort von Retiebrarov.

    Tsino achtete nicht auf ihn und untersuchte, was er da nun eigentlich vor sich hatte. Jedes Protokoll bestand aus einem Blatt. Nur selten wurden die Minenschichten so umfangreich besucht, dass auch die Rückseite beschrieben wurde, oder gar ein weiteres Blatt beschrieben werden musste. Auf jedem Blatt erkannte er in der oberen rechten Ecke ein Datum.

    Ein Titel fehlte auf den Blättern. Es war einfach zu selbsterklärend, dass es sich um das Protokoll einer Minenschicht handelte. Dafür war immer irgendwo auf dem Protokoll der Name des zuständigen Vorarbeiters eingetragen und sei es nur als Unterschrift.

    Das Blatt selbst teilte sich in fünf Spalten auf. Tsinos Zahnrädchen im Oberstübchen ratterten, während er versuchte den Sinn der geschriebenen Worte und Zahlen zu verstehen. „Sind schon viele Protokolle.“, stimmte Retiebrarov in der Nähe zu. Auch er war wohl noch im Kopf schwer beschäftigt.

    Tsino konzentrierte sich auf die Spalten. Die erste war der Name, die zweite Spalte war im aktuellen Protokoll im Augenblick leer und trug eine unleserliche Überschrift. Alle anderen Protokolle hatten dort eine dreistellige Zahl eingetragen. Da ging Tsino auf, dass es sich hierbei um die Menge der erschürften Klumpen handeln musste. Aus reiner Neugier überflog er die Spalte auf einem Protokoll.

    ‚365, 783, 219, 616... Das liest sich, als hätten die Vorarbeiter bis auf den letzten Erzklumpen durchgezählt.’ Und am Fuß der Spalte stand eine vielfach größere Zahl, die Tsino für die Summe hielt. ‚Darum brauchen die Vorarbeiter immer so lange, um nach der Schicht aus der Mine zu kommen. Und ich dachte immer, das sei, weil sie die Rationen und die Hacken aufräumen müssen.’

    Die dritte Spalte war wieder offensichtlicher. Es war die breiteste Spalte und mit viel handschriftlichen Text gefüllt. Es handelte sich um die Beschreibungen der Personen. Spaßeshalber las Tsino ein paar Zeilen auf einem zufälligen Blatt durch und lachte ungewollt auf.

    „Hmr?“, brummte Retiebrarov. Tsino klärte ihn auf, indem er vom Blatt vorlas: „Blond, 1,76 groß, Beutel am Gürtel...“ Tsino sah zu Retiebrarov und schnippte mit den Fingern gegen das betreffende Protokoll. „Wer schreibt denn bitteschön 'Beutel am Gürtel’? Es ist normal, dass die Leute so etwas am Gürtel haben.“ So schnell wie Tsino sprach, kam von Retiebrarov keine Reaktion. Deswegen kümmerte Tsino sich nicht weiter um den Vorarbeiter, der nach wie vor die Rationen vorbereitete und überflog das Blatt bis zum Ende der Seite, wo er die Unterschrift des Vorarbeiters, der für dieses Protokollblatt verantwortlich war, entzifferte. ‚Natürlich.’ Als er den Namen dort las, rollte er mit den Augen und fügte in Gedanken hinzu: ‚Arschkriecher.’

    Er studierte weiter die Protokolle. Die letzte Spalte war nicht selbsterklärend, doch durch seine unzähligen Minenschichten wusste er, was die schmale Spalte bedeutete. Es war der Vermerk, ob eine Leihhacke an diese Person ausgegeben worden war. Natürlich war sie zumeist leer. Nur in Ausnahmefällen waren dort zwei Symbole eingetragen. ‚Zwei Symbole... Warum zwei Symbole?’ Er musste eine Weile rätseln, ehe es ihm aufging: Das erste Symbol zeigte, ob eine Leihhake ausgegeben worden war. Das zweite Symbol zeigte an, ob sie auch zurück gegeben worden war. Die Mine kämpfte mit gestohlenen Werkzeugen. Auf den meisten Blättern war diese Spalte ohne Überschrift. Auf ein paar anderen Blättern war mit zwei Strichen ein Symbol angedeutet, das sich mühelos als Hacke interpretieren liess.

    Während er in dem Stapel blätterte fiel ihm etwas an dem Datum auf, das immer in derselben Ecke der Blätter eingetragen war: Interessanterweise stimmte die Schreibweise der Zahlen nur selten mit der Handschrift der Protokolle überein.

    „Du Retty...“ Tsino sah nicht auf und wartete so lange ab, bis von Retiebrarov ein gebrummtes „Hm?“ kam. Das Signal, dass er auf Empfang stand.

    „Warum ist das Datum in einer anderen Handschrift geschrieben wie der Rest des Protokolls?“ Tsino hatte die etwas verschachtelte Frage flüßig herunter gesprochen. Wahrscheinlich dauerte es deswegen noch länger wie gewöhnlich, bis Retiebrarov den Satz auseinander gebaut, in seinen Einzelteilen verstanden und schließlich zum gemeinten Sinn wieder zusammen gesetzt hatte.

    Schließlich kam die träge Antwort: „Die meisten Minenarbeiter vergessen das.“ Tsino nahm das oberste Blatt wieder zur Hand und starrte darauf. „Dann muss der Minenaufseher es nachtragen.“, fügte Retiebrarov hinzu. Es war mal wieder in dem Moment, in dem Retiebrarov weiter sprach als Tsino realisierte, dass er nur einen Satz angefangen aber nicht zu Ende gesprochen hatte. Noch während er sich darüber wunderte, fiel auch der Rest des Satzes: „Wenn er die Protokolle prüft.“

    Tsino hatte nun das Gefühl, dass Retiebrarov endlich zu Ende gesprochen hatte. Sicherheitshalber wartete er etwas ab. In der Zwischenzeit verglich Tsino das oberste Blatt, dass Retiebrarov in der heutigen Minenschicht geschrieben hatte, mit einem zufälligen Blatt im Stapel. Die Handschrift zwischen Eintragungen und Datum unterschied sich von Blatt zu Blatt. Das Datum war nur auf dem obersten Blatt identisch mit der Handschrift des restlichen Protokolls und durchgängig auf allen anderen Protokollen in dieser Handschrift.

    Von Retiebrarov kam nichts mehr zurück, weswegen Tsino sich endlich traute wieder etwas zu sagen: „Aber du nicht.“, merkte er an. Diesmal nickte Retiebrarov zur Antwort langsam. Er schob sich zu einer Pfanne und briet Fleisch durch.

    Bei der Suche in dem Stapel Blätter war es Tsino zufällig aufgefallen und es hatte für seine eigentliche Suche keine Relevanz. Dennoch war er fasziniert davon, dass jemand ein so gutes Gedächtnis hatte, dass er sich stets des aktuellen Datums bewußt war und nie vergaß es in den Protokollen einzutragen. Dazu noch jemand, der ein so starkes Alkoholproblem hatte.

    Nachdem er nun endlich den Aufbau der Protokolle verstanden hatte, lies Tsino seine Augen über die Namensspalte huschen. Hatte er ein Blatt durch, legte er es umgedreht neben den Stapel und ging das nächste durch. Auf die Weise schrumpfte der durchzuarbeitende Stapel an Protokollen vor ihm langsam.

    Oft genug las er seinen und Gatorps Namen. Gatorp war in seinen ersten Schichten noch als „Rotschopf“ oder „Rotbart“ eingetragen. Tsino konnte auch sagen warum: Kannten die Vorarbeiter die Namen der Neuen nicht, dann erfanden sie schnell aussagekräftige Spitznamen. Tsino war von der ersten Schicht an mit korrekten Namen eingetragen, da sein Allerweltsaussehen keine allzu lustigen Spitznamen zulies.

    ‚Tide Nap... Tide Nap... Tide Nap...’, wiederholte er im Kopf wie ein Mantra. Er konzentrierte sich auch auf ‚Teto’, falls wider erwarten dieser Name auftauchen sollte. Doch so sehr er auch auf die Blätter starrte, der gesuchte Name wollte ihm nicht entgegen springen. Dafür sprang sein Blick immer wieder ungewollt in die Zeile mit den Leihhacken.

    Erst dadurch fiel ihm auf, wie viele Hacken mit der Zeit eigentlich verschwunden waren. Sehr erstaunt stellte er beim Benutzen fest, wie die Protokolle funktionierten. Während er sie nur überflog stachen ihm die Unregelmäßigkeiten sofort ins Auge. ‚So arbeitet also ein Minenaufseher...’ Ging es ihm durch den Kopf und er erkannte, wie wichtig es dadurch war, dass alle Protokolle gleich aufgebaut waren.

    Erneut blieb sein Blick an einer Auffälligkeit hängen und er pfiff leise, lang gezogen, vor allem aber anerkennend durch die Zähne.

    „Hrm?“, machte Retiebrarov verspätet an der Pfanne.

    „Hier hat ein Buddler in einer Minenschicht 1388 Klumpen erschürft.“

    „Mhm.“

    „Wie hieß er?“, fragte sich Tsino, nur um sich die Frage mit einem Blick auf den Namen neben der Zahl selbst zu beantworten: „Hennecke. Seine Mitbuddler haben es ihm wahrscheinlich nicht gedankt.“ Für sich dachte Tsino: ‚Wäre ich an der Stelle des Minenvorarbeiters, ich hätte dem Buddler ein Bier ausgegeben. Aber mindestens ein Paladiner.’

    Nach drei Sekunden meldete sich Retiebrarov zu Wort: „Der hat zur Belohnung ein Bier bekommen...“ Fassungslos sah Tsino zu Retiebrarov hinüber.

    „...ein Paladiner.“

  • wie der Zufall spielt

    „Das war ein absoluter Reinfall.“, seufzte Gatorp, als sie sich lange nach der Minenschicht über den Vorfall austauschten.

    „Ja.“, stimmte Tsino ihm zu, „Es kommt noch schlimmer: Dadurch, dass er nicht in den Protokollen auftaucht, kann es sein, dass er sich gar nicht als 'Tide Nap' vorstellt. Vielleicht kennt ihn nur Teto unter dem Namen und keiner sonst in der Kolonie.“

    „Du meinst, weil es sein Deckname ist, der ebenso geheim wie das Schatzversteck ist?“

    „Oder es ist umgekehrt sein wahrer Name und er stellt sich allen anderen Leuten mit einem Decknamen vor. Dann können wir seinen Namen sogar dutzendfach in den Protokollen gelesen und einfach nicht erkannt haben.“

    So langsam fühlte Tsino sich hoffnungslos.

    „Wenn es so wäre, müssten wir fast durch den Außenring rennen und laut 'Tide, Tide' rufen, bis der 'Hier' schreit. Es kann nur noch eine Möglichkeit geben, warum er in den Protokollen nicht auftaucht.“

    Tsino sah Gatorp hoffnungslos an: „Du meinst... tot?“

    Gatorp schüttelte den Kopf „Nicht mehr da.“

    „Tot.“

    „Na gut, zwei Möglichkeiten, warum er nicht mehr da ist: Tot oder umgezogen. Aber auf jeden Fall nicht mehr da.“

    Tsino brauchte einige Momente, bis ihm dämmerte, dass die Welt nicht unbedingt so schwarz sein musste, wie sie sich in seinem Kopf ausmalte. „Du meinst... Er könnte einfach in einem anderen Lager sein?“ Gatorp nickte.

    Tsino seufzte erleichtert und fragte erneut: „Wo fangen wir an mit suchen?“

    Diesmal hatte Gatorp eine Antwort parat: „Ich schlage vor, wir informieren uns mal über den Weg in den Sumpf. Falls sich Tide wie so mancher Esoteriker in die Bruderschaft zurückgezogen hat. Lass uns Rationen und ein paar Geschenke kaufen. Ich gehe heute in die Mine und schlage eine inoffizielle Schicht. Du fragst dich so lange durch das Lager durch und versuchst irgendetwas zu finden, das als Mitbringsel taugt.

    Danach machen wir die Spinner am Arsch der Welt gesprächig.“

    Tsino gab ihm einen anerkennenden Klaps gegen die Schulter. „So machen wir es.“ Sie suchten ihre Hütte auf, wo Gatorp seine Hacke und Rationen aufnahm und Tsino abgezählte Mengen an Erz in Beutel füllte, die er sich an den Gürtel hängte. Danach machte sich jeder auf den Weg seine Aufgabe zu erledigen.


    Auf der Suche nach Geschenken hielt Tsino Reldnähs Laden für eine gute Anlaufstelle. Ganz normal grüßte er die Leute, die ihm auf dem Weg dorthin begegneten und war wie jedes Mal erstaunt, was für seltsame Blicke sie ihm zuwarfen, wenn sie dachten er bemerke es nicht. ‚Daran werde ich mich nie gewöhnen.’

    Den Laden erreichte er ohne weitere Zwischenfälle und grüßte Reldnäh, der hinter seinem Tresen – ein zwischen einem Faß und zwei gestapelten Kisten aufgebocktes Brett – stand. Mit leutseeligen Lächeln erwiderte Reldnäh den Gruß. Auf die Entfernung wirkten seine Augen gar nicht so hart, wie Tsino sie in letzter Zeit zu sehen bekommen hatte.

    „Suchst du etwas Bestimmtes?“, fragte er, als Tsino begann sich im Laden umzusehen. Tsino wandte sich ihm mit einem versuchten Lächeln zu, als er antwortete: „Ja, ein paar Kleinigkeiten. Ein paar von den Glasflaschen vielleicht und ein, zwei Pfeifen. Oh und hast du noch Seife?"

    „Wie viel?“, fragte Reldnäh mit perfekt gerade gehaltenen Lächeln im Gesicht zurück.

    Tsino machte sich nicht die Mühe lange zu überlegen, ehe er spontan sagte: „Hast du noch ein halbes Dutzend auf Lager?“

    Zu seiner eigenen Überraschung sah er, dass Reldnähs Lächeln eisig wurde. Wie ein Dolch bohrte sich der harte Blick daraus hervor. „Tsino... Dir und Gatorp habe ich erst letzten Monat einen Vorrat Seifen und Kerzen verkauft. Normalerweise kommen Buddler nicht auf die Idee sich mit Seife einzudecken, geschweige denn sich überhaupt zu waschen. Noch nicht einmal die Gerber und die haben es, weis Adanos, nötig. Ich kann mir nur vorstellen, wohin das Zeug geht...“

    Reldnähs Blick durchborte Tsino mit einem Vorwurf, der diesem den Mund aufklappen lies. Gedanklich sah er sich schon mit Hehlerverdacht konfrontiert. Noch ehe er sich beherrschen konnte, schlug seine aus Schlafmangel gereizte Art durch. Er klappte den Mund wieder zu, wandte sich ebenso abrupt zur Tür und stapfte wortlos hinaus, noch ehe sich ein vernünftiges Gespräch entwickeln konnte.

    Tsino schnaubte frustriert. Während er sich hier herum ärgerte, machte Gatorp vermutlich die Zeit seines Lebens durch.


    Gatorp stand mit dem Rücken an den Baumstamm gepresst. Der Mann vor ihm hatte einen Sack mit ausgeschnittenen Augenlöchern über den Kopf gezogen und war so nahe,

    dass Gatorp durch die Löcher sein eigenes, erschrocken drein blickendes Spiegelbild in den Augen des Banditen sehen konnte.

    „Dein Erz!“, knurrte unter dem Sack eine unfreundliche Stimme. Gatorp öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort hervor. Das Sackgesicht presste ihm mit beiden Händen die Schultern so fest gegen die rauhe Borke, dass Gatorp den Griff seiner Spitzhake auf seinen Wirbelsäulenknochen knirschen spürte.

    Einer der Helfer des Sackgesichtes kam eilfertig herbei gesprungen. Mit flinken Fingern untersuchte er die Gegenstände an Gatorps Gürtel und zog die Beutel auf. Ein Beutel mit Erz – eingeschoben. Eine Wasserflasche? Uninteressant. Die kleine Krautpackung – ebenfalls weg. Ein Rationsbeutel? Nachdem darin Außenweltwaren zum Vorschein kamen, wurde auch der genommen. Gatorp fürchtete bereits um das Messer, das er am Gürtel trug, als unweit eine Stimme rief: „Tide! Garde!“

    Sofort wurden der Mann, der Gatorp gegen den Stamm presste und sein Gehilfe, der die Beutel in der Hand hielt, hellhörig. Gatorp riss aus einem anderen Grund die Augen auf. Hatte man den Mann vor ihm gerade wirklich Tide gerufen?

    Der stiess Gatorp mit einem Mal zu Boden, machte kehrt und rannte, seinen Helfer hart an den Hacken. Gatorp hob das Gesicht aus dem Dreck und starrte ihm hinterher in dem verzweifelten Versuch sich so viel von dessen Gestalt einzuprägen wie möglich. Von hinten betrachtet war von ihm nicht viel zu erkennen, zumal er einen Sack auf dem Kopf hatte. Die Schultern waren breit... oder sollte man sie besser als stämmig beschreiben? Gatorp drückte sich auf die Ellenbogen hoch in der Hoffnung besser sehen zu können, doch da hatte der Wald bereits die Leute verschluckt.

    Gatorp blieb wie betäubt zurück. Tide... war also ein Bandit.

  • Überfall

    „Da bleibt uns nur noch eines... Wir lassen uns überfallen.“

    Auf die Worte hin entstand eine ungläubige Pause in der Tsino den schockiertesten Gesichtsausdrug Gatorps zu Gesicht bekam, den er je an seinem Freund beobachtet hatte. Nachdem dieser sich vom ersten Schock erholt hatte, sagte er mit einer Stimme rauh wie Schmirgelpapier: „Das ist die dämlichste Idee, die ich jemals gehört habe.

    Deine Alpträume zersieben dir das Hirn! Wie stellst du dir das vor?“

    Als sei die Frage ernst gemeint, ratterte Tsino herunter: „Wir gehen ab sofort einfach häufiger in die Mine. Wenn wir auf dem Weg sowieso überfallen werden, dann haben wir unser Ziel erreicht. Werden wir nicht überfallen, dann schleppen wir eben unsere Ausbeute nach Hause und werden dabei versehentlich reich.“

    Gatorp schüttelte lahm den Kopf hin und her. Nachdem von ihm nichts mehr kam, setzte Tsino nach: „Hast du eine bessere Idee, oder bist du dabei?“

  • Ahoi, Reisfeld!

    Das berüchtigte Reisfeld war in mehreren Ebenen angelegt. Mittig hindurch verlief der wohl schmutzigste Feldweg, den Tsino je gesehen hatte.

    Am oberen Ende standen zwei Gebäude: Eines sah aus wie ein großer Lagerschuppen und hatte einen dazu passenden Eingang – groß wie ein Scheunentor. Daneben lehnte sich eine deutlich kleinere Hütte an. Wo die beiden unterschiedlich großen Gebäude eine Ecke bildeten, spannte sich eine Überdachung über eine offene Feuerstelle. Bänke standen in einem rechteckigen Winkel an den Gebäudewänden, wo auch Werkzeug aufgehängt war.

    Sie gingen gerade den Feldweg hoch, als ihnen eine Szene dort ins Auge stach:

    Über einem in zerlumpte Kleidung gehüllten Mann am Boden stand aufrecht ragend ein geschmeidiger Bandit. Tsino entwich ein Aufschrei, als er auf Anhieb den Kerl erkannte, der ihm bei einem Überfall einen Apfel in den Mund gestopft hatte. Ohne Maske sah man die goldblonde Mähne, die ihm beim leisesten Lufthauch um den Kopf wehte.

    Durch Tsinos Schrei aufmerksam geworden, sah sich suchend der Bandit um und erblickte nahezu sofort Gatorp und Tsino, dem die Beine zu zittern anfingen. „Lass uns weglaufen.“, keuchte er leise. Die Aufregung, die ihn schon bei ihrer letzten Begegnung mit dem Banditen ergriffen hatte, packte ihn erneut.

    „Dazu ist es jetzt zu spät.“, stellte Gatorp nüchtern fest. Doch anstatt drohend auf sie zuzugehen, sie zu beschimpfen oder sich bereit zu machen sie an Ort und Stelle aufzuschlitzen, tat der schlanke Bandit etwas sehr merkwürdiges: Er streckte den Arm empor und grüßte sie mit einem Winken. Tsino sah strahlend weiße Zähne aufblitzen, als der Bandit ihnen bei seiner Geste zulächelte, zu dessen Füßen der liegende Mann gerade versuchte wegzurobben. Dabei bewegte er sich so ungeschickt, als sei er verletzt.

    Tsino und Gatorp tauschten Blicke. Letzterer erfasste das Offensichtliche: „Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu ihm hinüber zu gehen.“

    Dass sie so schnell erkannt und auffallen würden, damit hätten sie selbst im schlimmsten Fall nicht gerechnet. Tsino für seinen Teil gab sein Bestes nicht so zu trotten, als ob er eben eine Schlacht verloren hätte. Gatorp wirkte etwas angriffslustig, wie er mit weit ausholenden Schritten energisch einher stapfte. Vermutlich seine Art die Unsicherheit zu überspielen. Sie kamen bei dem Banditen an, kurz nachdem sich der Mann am Boden neben seinem Peiniger bis auf die Knie aufgerichtet hatte. Tsino erkannte mit Unbehagen einen Apfel in dessen Mund stecken.

    Als sie den Banditen erreichten, hob dieser gerade in einer eleganten Bewegung ein Bein, setzte dem Mann die Schuhsohle auf die Brust und schleuderte ihn in einer geschmeidigen Bewegung zurück zu Boden. Danach drehte er sich zu Tsino und Gatorp um und grüßte sie so herzlich, als habe er alte Bekannte beim Einkaufen auf dem Markt getroffen:

    „Hallo! Das sind ja die beiden Buddler. Wie geht es euch? Keine Pflanzenfasern mehr an den Hackenköpfen?“ Er liess in einem weiteren Lächeln seine strahlend weißen Zähne sehen, für die ihn so manch ein Adliger sicher eigenhändig umgebracht hätte.

    Tsino war etwas betreten und nuschelte einsilbige Antworten: „Gut. Neh. Ha, ha.“

    Gatorp schien ebenfalls nicht recht zu wissen, was er von der offenen Art zu halten hatte. Reserviert verschränkte er die Arme und spannte die Muskeln an. Sein Blick ging einmal zu dem Mann am Boden, der hilflos zu dem Banditen aufsah, doch der hatte im Augenblick nur Augen für die Neuankömmlinge:

    „Seid ihr die Unterdrückung durch das Alte Lager nun auch endlich leid geworden? Eure beste Entscheidung euch auf den Weg zur freien Mine zu machen, wo die stolzen Schürfer an unserem Ausbruchsplan arbeiten. Hier könnt ihr Eurem Leben beim Kampf um die Freiheit einen neuen Sinn geben. Willkommen im Neuen Lager!“ Seine blauen Augen strahlten sie irritierend freundlich an.

    Tsino wusste nach wie vor nicht, was er von der Begrüßung halten sollte, die einerseits von der übertriebenen Herzlichkeit des Banditen begleitet war, andererseits von dem Anblick seines schäbigen Opfers. Tsinos Blick glitt erneut zu dem schmutzigen Mann, der mittlerweile versuchte sich möglichst unauffällig rückwärts wegzuschieben. ‚Wie ein Käfer am Boden.’

    Diesmal schien auch dem Banditen ihre Blickrichtung aufzufallen. Mit ungetrübten Lächeln meinte er: „Wartet einen Augenblick...“ und zu dem Mann am Boden: „Dreckiger Reispflücker. Zurück an die Arbeit.“ Seine Stimme verlor kaum ihren freundlichen Ton, als er den Mann eindeutig herrisch anpfiff.

    Der liess sich das nicht zweimal sagen. Eilig sprang er auf und rannte fluchtartig durch den Matsch des Reisfeldes. Tsino beobachtete ihn dabei, wie er zwischen den Reispflanzen in einer Haltung zu Boden ging, als wolle er sich übergeben. Er würgte erst einmal den Apfel aus.

    „Reispflücker.“ In dem Tonfall, in dem es der geschmeidige Bandit sagte, hätte er auch „Fleischwanze.“ sagen können. Begleitet wurde der blassierte Tonfall von einem beiläufigen Heben der Schultern.

    „Wo ihr schon einmal hier seid...“ Sein freundliches Lächeln verlor sich nicht, aber an der Art wie sich seine Worte dehnten, vermutete Tsino eine unausgesprochene Drohung. „...könnt ihr doch sicher mal kurz am Feld aushelfen?“ Strahlend weiße Zähne blitzten ihnen entgegen. Ein Lächeln war selbst unter der magischen Barriere noch immer die eleganteste Art jemandem die Zähne zu zeigen.

  • Pause auf dem Reisfeld

    Mit dem Exempel des Mannes am Boden wagten sie gar nicht lange zu widersprechen. Nur kurze Zeit später standen sie murrend mit den anderen Arbeitern im Schlamm und pflückten die Reispflanzen am Feld. Dazu hatte man ihnen Körbe ausgeteilt. Dem Beispiel der anderen Pflücker folgend, hatten sie sich Körbe für die Arbeit unter die Arme geklemmt. Mit den freien Händen untersuchten sie die mannshoch gewachsenen Stiele der Pflanzen und brachen die Büschel mit den reifen Kernen ab, sofern sie welche fanden. Die Arbeit war alles andere als angenehm, da sie weit bis über die Knöchel im Wasser standen. Wasser, das für die Reispflanzen angenehm war, nicht für die Menschen.

    Nicht selten kroch ihnen eine Fleischwanze über die Füße. Die kleinen Tiere zählten zwar nicht zu der aggressiven Sorte, die einen Menschen anfiel, biss und frass, waren dennoch als Krankheitserreger auf ihre eigene Weise gefährlich. Im Schlamm wühlten die Tiere nach Abfällen und suhlten sich in der Feuchtigkeit, als hätten sie Innos' Paradies unter der Barriere gefunden.

    Tsino und Gatorp waren nicht allein auf dem Feld. Mindestens ein dutzend abgerissene, entkräftete Männer standen an verschiedenen Stellen des Feldes, striffen zwischen den Reispflanzen umher und suchten nach reifen Kornbüscheln. Andere wurden mit mehr oder weniger Gewalt dazu angehalten den schlammigen Boden mit Werkzeugen zu lockern, Unkraut zu jäten, zu säen, Setzlinge zu pflanzen oder kompostierte Erde auszustreuen. Alles, damit die Pflanzen gut gediehen. Dass die dem Neuen Lager wichtiger waren, als die Leute, die sie pflegten, wurde durch die Behandlung nur allzu deutlich: Wer beim Ernten eine Pflanze mit Wurzeln ausriss und sei es nur versehentlich, der wurde mit fünf Hieben bestraft. Das hatte ihnen einer der Vorarbeiter beim Austeilen der Körbe eingeschärft. Selbst gesehen hatten sie die Bestrafung noch nicht.

    In der Nähe von Gatorp und Tsino arbeitete ein einzelner Mann, der einen Verband um den Oberkörper trug. Zuerst dachte Tsino die braunen Schmieren darauf seien Reisfeldschlamm, doch auf die Nähe erkannte er darin getrockentes Blut. „Na?“, versuchte er ins Gespräch mit ihm zu kommen und nickte auf dessen blutverschmierten Verband „Du hast die Hiebe der Reisfeldwachen zu spüren bekommen?“ Der Mann mit dem nussbraunen Haar schüttelte verneinend den Kopf. „Garde.“, machte er knapp, ohne sich von den Reispflanzen abzuwenden. Er hatte bereits eine gute Anzahl Reisbüschel in seinem Korb.

    „Hä?“, machte Tsino ebenso knapp und durchstöberte eher alibimäßig die dicken Büschel einer brusthoch gewachsenen Pflanze. Es folgte eine längere Pause, in der Tsino sich versucht sah nachzusetzen: „Das ist aber nicht hier passiert?“

    „Nein“, gab der andere zurück und köpfte ein weiteres Büschel von einer Pflanze. Mittlerweile war er aufgetaut genug, um seine einsilbigen Antworten auszubauen: „Im Alten Lager.“

    Tsino wertete es als ein gutes Zeichen, dass sie mittlerweile bei drei Wörtern pro Antwort angelangt waren und machte weiter, während seine Hand die Pflanzenbüschel durchstöberte. „Wie ist das passiert? Hast du dein Schutzerz nicht bezahlt?“

    „Doch.“, kam die Antwort diesmal fast sofort zurück. Der Mann schälte mit der Hand ein paar kleine, fasrige Blätter bei Seite und musterte den Reifegrad der begehrten Kerne.

    „Aber du wurdest trotzdem in einem der Viertel niedergeschlagen?“, hakte Tsino weiter nach und wechselte die Pflanze, um beschäftigt auszusehen.

    „Richtig!“, gab der Mann zur Antwort. Tsino hasste dieses kehlige Geräusch, das viel zu viele Leute aus unerfindlichen Gründen in Gesprächen machten, wenn es auch nur zur Hälfte passend war und damit eine flüssige Unterhaltung schnell in Einsilbigkeit austrocknen liessen. Seine Hände liessen von dem Büschel ab, als ihm grün verfärbte Kerne wie eine Reihe fauler Zahnstummel entgegen blitzten. Er untersuchte den Rest der Pflanze.

    Gedanklich rollte er über die Einsilbigkeit des Gespräches die Augen. Da er aber sowieso so schnell nicht vom Feld weg kam, konnte er genauso gut versuchen mehr aus dem Fremden heraus zu kitzeln: „Du hast also dein Schutzerz für das Lager bezahlt und bist trotzdem zusammen geschlagen worden?“ Als die Antwort auf sich warten liess, begann Tsino doch mehr Interesse an den Pflanzen als an dem Mann zu entwickeln. Leicht provozierend setzte er nach: „Wundert mich ja, dass die Garde grundlos einen Buddler zusammen schlägt.“

    Diesmal zeigte sich ein harter Zug um den Mund des Mannes. „In meiner ersten Woche hatte ich zehn Erzbrocken und drei Gardisten, die Schutzerz verlangten.“

    „Ach so. Jetzt ergibt sich langsam ein Bild.“

    „Von meinen ersten drei Brocken habe ich mir eine Schale Suppe gekauft.“

    „Pilze?“

    „Welche sonst. Den ersten Gardisten habe ich abblitzen lassen, weil ich nicht genug Erz hatte. Da zog er ein Schwert und verpasste mir den hier.“ Mit der Hand strich er sich über den blutigen Verband. Erneut trocknete das Gespräch aus, sodass sich Tsino bemüßigt fühlte es wieder mit ein paar eigenen Worten zu wässern: „Du bist wohl nicht lange dort geblieben?“

    Der Mann nickte grimmig. „Darauf kannst du dich verlassen. Nachdem ich wieder stehen konnte, habe ich das Lazarett verlassen – und das Lager.“ Hasserfüllt musterte er die Pflanzen vor sich.

    Tsino sagte nichts mehr, sondern erntete ein Büschel Reis. Er hatte oft genug Auseinandersetzungen mitbekommen. Dass jemand zusammengeschlagen wurde, der kein Schutzerz bezahlt hatte, war eine so alltägliche Geschichte wie die Minenkonvois. Ein paar Mal hatte es ihn auch selbst erwischt. Doch er hatte sich nie so wirklich klar gemacht, was mit denen geschah, die daraufhin verschwanden. ‚Hier habe ich die Antwort gefunden ohne danach zu fragen.’

    Verstohlen blickte er sich am Reisfeld um. Er sah in abgekämpfte Gesichter mit Augenringen. Dazwischen ein paar besser genährte Gestalten. Manche pflückten stumm und allein für sich, andere vertrieben sich die Arbeitszeit mit Gesprächen und gelegentlichen Faxen. Die Reisbauern – erkennbar an ihren weisblauen Hemden mit den grünen Westen und Reisfeldschlammdunklen Hosen und Schuhen - passten auf, dass sie keine Blasen an den Händen bekamen und die Pflücker dafür umso mehr. Arbeitsscheuer waren nur die Banditen, die meist um die Feuerstelle der Reisfeldhütte herum saßen oder so unbeweglich wie die Salzsäulen am obersten Feld standen und die Reisfeldebenen überblickten, als seien sie gar nicht da. Die Schläger am Reisfeld sahen aus wie die Arbeiter, nur dass sie nicht arbeiteten, sondern sich eher aufführten wie Banditen und allesamt bewaffnet waren. ‚Ob sie alle hier solche Geschichten erlebt hatten?’ Tsino nahm sich vor nachzufragen.

    Er wechselte die Reispflanzen und arbeitete wieder näher an Gatorp. „Ich werde mich hier mal ein wenig umhören.“, beschied er ihm.

    „Wenn du mich fragst, solltest du lieber keine Aufmerksamkeit erregen und viel herumfragen ist auffällig.“, riet ihm Gatorp, „Aber ich werde dich nicht aufhalten, wenn du in dein Verderben rennen willst.“ Er verpasste Tsino wie das Symbol einer Erlaubnis einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Erst als Tsino über seine Schulter linste, bemerkte er, dass der mittlerweile frech grinsende Gatorp ihm einen Abdruck Reisfeldschlamm auf das Schulterblatt geklopft hatte.

    Tsino klemmte sich den Korb unter den Arm und wechselte die Straßenseite. Fast sofort folgten ihm mehrere Augenpaare von Bauern und Schlägern, doch so lange er eine Reispflanze ansteuerte, passierte ihm nichts. Mit der Hand untersuchte er die Büschel an der Pflanze auf reife Kerne und ging dieser Arbeit so lange stumm nach, bis sich das Interesse an ihm allmählich verlor. Ab da konnte er wieder freier zwischen den Pflanzen umherstreifen.

    Er fing mit den meisten Arbeitern ein Gespräch an, doch nicht alle waren gesprächig. Selbst diejenigen, die in kleinen Gruppen pflückten, erwiesen sich oftmals stumm wie tote Fische. Auch mehrfache Ansprachen, ein gerissener Witz oder besonders ironischer Kommentar konnte sie zu keiner Antwort und zu keiner Reaktion reizen. Tsino versuchte es ein paar Mal, ehe er es aufgab aus solchen Leuten ein Gespräch heraus kitzeln zu wollen.

    Ein paar bestehenden Unterhaltungen lauschte er, doch es wurde nur alltäglicher Tratsch ausgetauscht. Die verschiedenen Namen, die fielen, sagten ihm ebenso wenig wie die wohl allgemeinen Begebenheiten, auf die angespielt wurden, sodass das gesamte Thema für ihn klang wie eine Fremdsprache. Dennoch versuchte er zu entziffern, was er gehört hatte:

    Irgendjemand hatte einem anderen wohl eine Waffe geschenkt, was den Inhaber des Waffenladens zur Weißglut trieb, der dem Arenaleiter – Neirobi oder so ähnlich – aber nichts anhaben konnte, weil der regelmäßig Schnaps abtrat an drei Personen, deren Namen Tsino überhaupt nichts sagten. Oder vielleicht waren es nur der Nachname, der Vorname und der Spitzname ein und derselben Person. So weit zumindest reichte das, was sich Tsino aus den mitgehörten Stellen zusammenreimen konnte. Wie jetzt aber die Personen aus dem Kreis der Lazarettangestellten, deren Namen häufiger ins Gespräch gemischt wurden, mit ins Bild passten, überstieg Tsinos Verständnis bei weitem. Andere Gesprächsfetzen, die er mithörte, lauteten in etwa: „Ich ging letzte Woche leer aus, weil Fimmel die Kiste nicht aufgefüllt hat.“

    Fast fühlte er sich in seine ersten Tage in der Kolonie zurück versetzt, als die Leute so selbstverständlich über Worte wie Schutzerz, Außenwelt, Schatten und Konvoi sprachen, ohne dass er wissen konnte, wovon sie redeten. Wie es aussah, musste er im Neuen Lager noch einmal ganz neu lernen sich zurecht zu finden.

    Die Geschichten indess waren dieselben geblieben: Die Leute fühlten sich im Alten Lager ungerecht behandelt und waren auf der Suche nach Alternativen abgehauen und dabei früher oder später den Banditen in die Arme gelaufen. Nur ein kleiner Teil war gewaltsam hierher verschleppt worden. Der Großteil hatte sich auf der Suche nach einem anderen Leben freiwillig hier niedergelassen.

    Mit all den Informationen ergab sich bei Tsino eine Erkenntnis: ‚Die Grausamkeit der Garde ist das beste Argument der Bande.’

    Alle arrangierten sich eher schlecht als recht mit den Arbeitsbedingungen am Feld. Für keinen war die Bezahlung in Erzbrocken ausreichend genug, um den eigenen Lebensstandard auszubauen. Viele nagten am Hungertuch, weil der Verdienst nicht einmal ausreichte, um satt zu werden. Mit Neid blickte man auf die Schürferkollegen, die in der Mine arbeiteten und an einem Arbeitstag das doppelte und dreifache an Erz zu deutlich besseren Bedingungen erhalten konnten. Als Tsino die Rationen dort (Bier und Schinken) beschrieben wurden, kam es in der aufgeheizten Stimmung fast zu einem Aufstand, den erst ein Schläger mit viel Gebrülle und ein paar drohenden Gesten der Waffe im Keim ersticken musste.

    Kurz vor der Mittagszeit löste sich einer der Reisbauern aus der Menge und ging ins Reisfeldlager, nur um kurz darauf mit einem Sack über der Schulter wieder zu erscheinen. In einem Kessel, der unter freien Himmel neben der Hütte stand, wärmte er Wasser, bis dicke Dampfschwaden aufstiegen und kippte dann den Inhalt des Sacks – Reiskörner, wie sich herausstelle – in den Kessel. Eine geschlagene Stunde stand er da und rührte mit einem Kochlöffel, der ihm von den Schultern bis auf den Boden des Kessels reichte, darin herum. Die Arbeit sah anstrengend aus, obwohl sie einfach war. Die Muskeln an den Oberarmen des Bauern schwollen bei jeder Umdrehung des Kochlöffels im Kessel sichtbar an. Da er mitten im Dampf stand, dauerte es nicht lange, bis seine Kleidung verklebt war und ihm die Nässe in dicken Tropfen wieder herunter rann. Hin und wieder hielt er inne und wischte sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Tsino wurde schlecht bei dem Gedanken, was da alles mit in den ausladenden Kessel tropfen konnte.

    Tsino war zu dieser Zeit nahe genug an der obersten Ebene, um mitzubekommen, wie der Reisfeldbauer irgendwann einen Banditen ansprach: „Rationen sind fertig.“ Keine Reaktion. Tsino dachte schon der Bandit schliefe mit offenen Augen, ehe die Antwort doch noch kam: „Lass ausrufen.“ Gehorsam trat der Reisfeldbauer ans Feld, füllte sich die Lungen mit Luft und brüllte so laut, dass man es bestimmt bis ans andere Ende des Neuen Lagers hörte: „Pause! Alle hoch an die Reisfeldhütte!“ Er wiederholte den Ruf ein paar Mal, um auch wirklich alle Arbeiter aus ihrer Trance zu reißen. Danach wandte er sich um und ging zum Kessel zurück, neben dem ein Stapel Holzschüsseln und Löffel warteten. Tsino sah sich um und wartete auf Gatorp, um mit ihm an die Feuerstelle zu trotten. Unterwegs sah er sich um. Obwohl der Ruf des Reisfeldbauern umissverständlich gewesen war, sah er immer noch einzelne Personen auf dem Feld arbeiten.

    Ohne recht zu wissen, was nun kommen würde, folgten die beiden einfach den restlichen Arbeitern. Wer sich auskannte, war schnell zu erkennen, da er mit traumwandlerischer Sicherheit zum Kessel hinüber spazierte und sich dort anstellte. Die meisten hatten ihre Körbe mitgebracht und hüteten sie wie einen Beutel Erz. Andere zogen eigene Schüsseln und Löffel hervor, um sie sich auffüllen zu lassen. Der Reisbauer füllte jedem eine Schale mit Reis ab, drückte ihnen ein paar Flaschen Wasser in die Hand und schickte sie dann weiter. Gatorp und Tsino liessen sich mit den anderen Arbeitern an der Feuerstelle nieder. Tsino fühlte sich leicht unwohl, da sich mit den Arbeitern nun auch alle Reisfeldbauern, Schläger und ein Teil der Banditen auf dem beengten Platz scharten. Vor allem wegen letzteren hatte Tsino seine Bedenken.

    Als habe Innos seine Gedanken gelesen und sich spontan dazu entschlossen ihm einen rechten Haken zu verpassen, wurde einer der dreckverschmierten Reisfeldpflücker auf sie aufmerksam: „Ach sieh an, zwei Buddler.“ Sofort schwangen Köpfe zu ihnen herüber und Blicke wurden wie Steine in ihre Richtung geworfen. „Schon wieder.“, murrte ein zerlumpter Pflücker in seine Reisschüssel, fand aber nicht den Mut ihnen das laut ins Gesicht zu sagen. Gerade als sich Spannung in der Luft zu bilden begann, setzte sich ein weiterer Pflücker mit einer frischen Schüssel Reis unter das Vordach. Er hatte die bisherigen Worte nicht mitbekommen und fragte einfach, ohne darauf zu achten jemanden zu unterbrechen, in die Runde:

    „Hat eigentlich einer von euch in letzter Zeit Gusto gesehen? Der war sonst immer hier am Feld und hat den ganzen Tag gepflückt. Guter Junge.“ Einer der Schläger lachte, als er sich an den Namen erinnerte: „Den musste man immer gewaltsam an seine Pause erinnern. Guter Mann.“ Ein anderer der dreckverschmierten Arbeiter wusste zu berichten: „Den habe ich neulich mit einer Hacke den Minenweg hochlatschen sehen.“ „Ach, ist der piekfeine Pimpel jetzt unter die Minenarbeiter gegangen?“, das war derjenige, der das Thema aufgebracht hatte. „So ein Verräter!“, war daraufhin der Tenor.

    Tsino bekam einen Eindruck davon, dass die unterste Bevölkerungsschicht des Neuen Lagers in „wir hier“ und „die da“ gespalten war, ohne dass er ein Gefühl für die eine oder die andere Gruppe erhalten konnte.

    Nach der Pause ging es genauso eintönig weiter wie am Vormittag.

    Das Schichtende fand viel später wie bei einer Minenschicht statt, nämlich nach Einbruch der Dämmerung. Die Reisfeldschläger begingen ihre erste nützliche Tat an diesem Tag und entzündeten die Fackeln, damit wenigstens etwas Licht herrschte. Doch trotz der hoch aufschlagenden Flammen war es kein Vergleich und noch weniger ein Ersatz für das bitter benötigte Sonnenlicht.

    Erst als es drohte zu dunkel zu werden, um auf dem Feld noch genug für die Arbeit sehen zu können, rief der Vorarbeiter nach erneuter Absprache mit dem Banditen das Schichtende aus. Die meisten Reispflücker waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu erledigt, um sich noch großartig darüber freuen zu können. Nach der Schicht trabten sie mit ihren prall gefüllten Körben alle brav auf das Warenlager zu und Tsino und Gatorp schlossen sich ihnen an.

    „Schuhe abtreten!“, maulte einer der Reisfeldschläger, „Sonst dürft ihr den Dreck, den ihr reintragt vom Boden lecken!“ Scheinbar aus purer Langeweile ging einer der muskelbepackten Schläger die Warteschlange ab und stieß sogar dem ein oder anderen grob gegen die Schulter, um ihm daraufhin ins Ohr zu schreien. „Du da. Sichel abgeben!“ Tsino senkte einfach den Kopf und tat, als sei er nicht da. Neben dem Eingang der Hütte stand ein Waffenfass verführerisch nahe. Dort hinterlegten die reicheren Pflücker vor Schichtbeginn ihre Waffen. Außerdem wurden dort die Leihsicheln ausgeteilt und wider eingesammelt. Das liess bei Tsino den Schluss zu, dass Waffen am Feld verboten waren.

    Es dauerte ewig, bis die Reihe voran schritt und als Tsino in das immens gut erhellte Innere des Reislagers trat, verstand er auch warum: Alle Pflücker waren dabei ihren Reis eifrig zu bündeln. Dazu hingen überall im Lager Schnüre von einer Machart aus, wie sie Tsino noch nie in der Kolonie gesehen hatte. Durch einen kurzen Blickwechsel und ein viel sagendes Nicken verständigte er sich mit Gatorp und sie quetschten sich zwischen die Pflücker, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Durch Blicke nach rechts und links schauten sie sich ab, was gemacht werden musste. Schnell hatte Tsino herausgefunden, dass immer eine bestimmte Anzahl von Pflanzen mit den Schnüren zusammengerafft werden musste und ging dieser Aufgabe genauso fleißig nach wie jeder andere Pflücker. Schon entstand Ordnung in dem mit Reisschlamm verschmierten Korb.

    Wer fertig war, trat auf den Reisbauern am hinteren Ende des Raumes zu und zeigte den Korb vor, der ihm mitsamt Inhalt dort abgenommen wurde. Der Reisbauer zählte die Menge an Reispflanzenbündeln durch und rief dann irgendeine Kombination von Namen und Zahlen quer durch den Raum, dass man es bestimmt bis über alle Ebenen des Reisfeldes schallen hörte. Als sei das ein geheimes Zeichen, stürzte die Person, die eben abgegeben hatte, mehr oder weniger eilig nach draußen.

    Tsino wartete, bis Gatorp fertig war, der mit filigranen Handarbeitern stets etwas schlechter zurecht kam wie mit den brutalen Schlägen einer Spitzhacke. Danach stellten sie sich in die Reihe vor den Reisbauern, der seiner Tätigkeit nachging. Kurz vor ihnen war einer der Pflücker, die Tsino am Feld belauscht hatte. Er gab sein Bündel ab und maulte: „Letzte Woche ging ich leer aus, weil Fimmel die Kiste nicht aufgefüllt hat.“

    Der Reisbauer lachte zur Antwort. „Immer der gute Fimmel... Ja, der hat die Erzkiste nie sonderlich gut im Blick. Du bist nicht der einzige, für den kein Lohn mehr übrig war.“ Er schüttelte mit gehobenen Mundwinkel den Kopf, verschnürte den Reissack und griff sich dann in eine Innentasche im grünen Wams. „Hier.“, sagte er, als er dem Pflücker ein paar lose Brocken reichte, „Und jetzt geh' zu den anderen und mach Pause.“ Der Pflücker nahm die Brocken in die Hand und wandte sich besänftigt ab.

    Als Gatorp an die Reihe kam, streckte er wie jeder andere den Korb vor, doch als der Reisbauer ihn greifen wollte, zog er ihn weg und grinste frech. Erst danach händigte er ihn anstandslos aus. Den Reisbauer schien der Scherz nicht zu stören, aber es heiterte ihn auch nicht auf. Stupide ging er seiner Arbeit nach und zählte die Bündel. Als er sie in einen Sack stopfte, brüllte er laut: „Rotbart - 3!“

    Tsino ging ein Licht auf, als ihm nun zumindest klar wurde, was die Namen bedeuteten. Nach Gatorp trat er vor und reichte seinen Korb. „Tsino.“, sagte er dabei. Es war genauso einfach wie in der Mine: Die Namen der Arbeiter wurden hier gebraucht. Doch der Reisbauer sah Tsino nur scheel an und, nachdem er mit dem Abzählen fertig war, rief laut: „Apfelfresse - 2!“ Danach interessierte er sich nicht mehr weiter für Tsino, sondern machte sich daran einen prall gefüllten Sack Reis zuzuschnüren.

    Feixend begleitete Gatorp Tsino "Apfelfresse" hinaus, wohin auch die anderen Pflücker verschwunden waren. Einen Großteil davon fanden sie jetzt wieder am Feuer sitzen und Reis mampfen. Gatorp und Tsino trödelten, da sie keine Ahnung hatten, was jetzt von ihnen erwartet wurde. In dem Versuch den Anschein eines Gespräches zu erwecken blieben sie kurz vor dem Reisfeldlager stehen.

    „Und? Wie fandest du es?“ – „Ganz nett.“ – „Wieder machen?“ – „Ach neee... Muss nicht sein. Bei dir?“ – „Mhm... ...Auch.“

    Während sie noch eine Unterhaltung vortäuschten, stürmte ein Pflücker an ihnen vorbei und an die Ecke des Hauses. Sie folgten ihm in gemächlichen Trott und noch ehe sie die Ecke erreicht hatten, kam er ihnen mit einer gefüllten Reisschüssel entgegen. So langsam wurde es Tsino klar, was hier gerade vor ging: Es sah schwer nach einer Essensausgabe nach der Schicht aus. Er war nicht schon früher darauf gekommen, weil in der Minte die Rationen immer in der Pause mitten in der Schicht und niemals danach, noch weniger davor verteilt wurden.

    Gatorp machte ein beeindrucktes Geräusch, als er dem Pflücker kurz hinterher sah. „Denen geht es vielleicht gut: Die essen hier zweimal am Tag.“ Sie bogen um die Ecke und fanden erneut einen Reisbauern am Topf stehen und darin Reis rühren. Gatorp trat grinsend auf ihn zu und meldete sich mit „Rotbart.“ Der Reisbauer warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, der eindeutig an dessen Haarfarbe hängen blieb. Wortlos händigte er Gatorp zwei gefüllte Schüsseln aus und schickte ihn mit einer genervten Handbewegung weiter. Offensichtlich hielten die Bauern nicht viel von Eintagspflückern.

    Aber Gatorp machte keine Anstalten sich zu bewegen und meckerte mit lauter Stimme: „He! Der Kerl im Lager hat drei ausgerufen. Warum fehlt da eine Schüßel?“ – „Die hattest du in der Mittagspause.“ Darauf wusste Gatorp nichts mehr zu erwidern. Hinter den beiden stellte sich ein weiterer Pflücker für die Essensausgabe an. Tsino rettete Gatorp aus der peinlichen Lage, indem er ihm einen gespielt harten Rippenstoß verpasste und schlecht geschauspielert sagte: „Beeil dich mal. Wir wollen auch was Essen.“. „He!“, blaffte Gatorp jetzt auch in Tsinos Richtung, war aber eher dankbar darüber, dass er sich jetzt keine gute Erwiderung für den Reisbauern einfallen lassen musste.

    Tsino trat vor, doch anstatt ihm eine gefüllte Essensschüssel zu erreichen, hielt der Bauer inne und grinste gemein: „Na so was, wen haben wir denn da? Apfelfresse! Wie schön, dass du auch da bist.“ Er meinte es überhaupt nicht schön. Er amüsierte sich köstlich bei dem Spitznamen. Tsino lief rot an. Der bittere Geschmack eines Apfels stieg ihm schon allein bei der Erwähnung in den Mund und das Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn beim Angriff durch den geschmeidigen Banditen überkommen hatte.

    Der Pflücker hinter Tsino wiederholte den Spitznamen wiehernd.

    Gedemütigt streckte Tsino die Hand aus: „Kann ich jetzt meine Ration haben?“

    „Ach eine Ration will der feine Herr auch noch? Darf es noch ein Fell sein, um deinen Buddlerarsch darauf zu betten? Verpiss dich!“

    Tsino blieb angespannt stehen und versuchte sich auszurechnen, ob man ihn hier nur auf die Probe stellte, oder ihm wirklich etwas zu Leide tun würde, wenn er jetzt auf seinem Standpunkt beharrte. Ein unerwarteter Stoß in den Rücken, der ihn fast kopfüber in den Reiskessel fallen liess, unterbrach ihn bei der Ergebnissuche.

    „Du hast ihn gehört.“, keifte die Stimme des Pflückers, der sich eben noch über seinen unfreiwilligen Spitznamen lustig gemacht hatte, „Verpiss dich!“

    „Arschkriecher.“, war das erste, das Tsino durch den Kopf ging, als er diesen Mann aus dem Effeff mit den Speichelleckerbuddlern im Alten Lager verglich, die andere Buddlerneulinge wortwörtlich aus den Betten warfen, nur weil ein Vorarbeiter einen dämlichen Witz in dieser Richtung machte.

    Dummerweise war es auch das Erste, das Tsino laut aussprach, als er sich mit drohenden Gesichtsausdruck umwandte.

    „Wie war das?“ Der Pflücker vor ihm war groß und blickte unverhohlen drohend auf ihn herab. Den Muskeln nach zu schließen entweder ein geübter Schürfer oder Kämpfer. Oder beides. Zwar zu Tsinos Glück im Augenblick noch nicht bewaffnet, doch das wurde ausgeglichen, als der Reisbauer den Kochlöffel im Kochkessel stecken lies und hinter sich griff, wo seine Feinwaffe an der Hüttenwand lehnte.

    Gatorp mischte sich mit rauher Stimme ein und fuhr den Pflücker an: „Du lässt ihn jetzt in Ruhe.“ Tsino schickte ein Dankgebet an Innos, dass sein Freund so zuverlässig war.

    „Sooonst?“, fragte der Kerl provokativ gedehnt nach. Man sah ihm an, dass er sich gegenüber Gatorp nicht so viel traute wie gegenüber dem deutlich schmaler gebauten Tsino. Gatorp war zwar nicht der größte Mann, doch durch die Minenarbeit und Kampfkurse stämmig. War erst einmal eine Waffe an seinem Gürtel, sah er nach einem ernst zu nehmenden Kontrahenten aus. Der Reisbauer zog mit einem schleifenden Geräusch seinen Degen aus dem Futteral.

    „Oder du bekommst es mit mir zu tun.“, knurrte Gatorp rauh und fasste eine seiner Reisschüsseln, als wolle er sie dem Kerl gleich ins Gesicht werfen. Tsino verlor keine Zeit und positionierte sich mit einem Seitwärtsschritt und einem schnellen Sprung nach hinten zwischen Gatorp und dem bewaffneten Reisbauern, um diesen im Notfall abzulenken. So behielt jeder von ihnen einen Gegner im Blick.

    Der Reisbauer lies die Degenspitze vorschnellen und stand schon in kampfbereiter Position. Von hinten schnappte eine Hand Gatorps erhobenes Handgelenk mit der Reisschüssel aus der Luft. Gatorps Kopf fuhr herum, nur um einem der Reisfeldschläger ins Gesicht zu blicken, der unbemerkt von hinten an ihn heran getreten war.

    „Was ist hier los?“, forderte der Reisfeldschläger zu wissen, der Gatorps Handgelenk fest im Griff hielt. Damit hatten sie nicht gerechnet und es hatte ihre Überlebensschancen gerade von „gut“ auf „niedrig“ fallen lassen.

    „Der Kerl hier will Ärger machen.“, bellte der Reisfeldbauer mit gezückten Degen zurück und lies offen, ob er damit Tsino oder Gatorp meinte. Der Pflücker bei ihnen stieß sich vorfreudig eine Faust in die flache Hand und der Reisfeldschläger musterte Gatorp kalt.

    „Was ist hier los?“, durchbrach ein zweites Mal dieselbe Frage die anbrechende Nacht. Doch diesmal von einer weichen, fast schon freundlichen Stimme gestellt. Alle Kampfbereiten wandten die Köpfe. Tsino erkannte auf Anhieb den ungeheuerlich geschmeidigen Banditen wieder und stöhnte gequält auf.

    „Die hier wollen Ärger machen.“, gaben fast gleichzeitig der Reisfeldbauer und der Reisfeldschläger zurück, aber beide in einem unterwürfigen Ton. Tsino konnte förmlich das Schlürfen hören, mit dem sie den Speichel des Banditen aufsogen.

    Der Bandit sondierte kurz mit kühlen Blicken die Situation, ehe er sich einmischte: „Das geht so nicht. Die beiden sind auf meine persönliche Einladung hier. Jacky – du gibst den beiden sofort je zwei Reisschüsseln-“

    Ausgerechnet der angesprochene Reisbauer machte den Fehler den Banditen zu unterbrechen: „Aber die Apfelfresse hat sich nur eine verd-“ Die Stimme des Banditen verlor nichts von ihrem freundlichen Tonfall, doch die Silben wurden sorgfältig betont, als er diesmal nachdrücklicher wiederholte: „Du gibst den beiden sofort je zwei Reisschüsseln!

    Du, Pflücker, wartest, bis du dran bist. Auf deinen Platz, Schläger.“ Nacheinander zeigte er mit ausgestreckten Finger auf die angesprochenen Leute, wobei er den Schläger zurückpfiff wie einen scharfen Wachhund an der Leine. Der liess widerwillig Gatorp los und trottete betont langsam an seinen Platz neben dem Waffenfass zurück, wo man ihn besonders angriffslustig einen anderen Pflücker anschnauzen hörte: „Gib die Sichel ab!“

    Nur mit widerwilligen Grummeln liess sich der Reisfeldbauer Jacky – falls das sein echter Name war und nicht einer dieser lächerlichen Spitznamen – dazu herab Tsino nun auch eine Ration zu geben. Der Bandit blieb nicht lange, sondern setzte seinen Weg fort. Scheinbar war er auf dem Weg irgendwohin und nur zufällig vorbei gekommen. Tsino schickte erst ein stummes Dankgebet an Innos und wunderte sich danach über sich selbst, dass er für das Auftauchen eines Banditen dankbar war.

    Ohne die Aufsicht des Banditen unterliess es Jacky noch weitere Reisschüsseln an Gatorp auszuteilen, doch der machte auch keine Anstalten darauf zu beharren. Nach der auffälligen Szene hielt es Tsino nicht für ratsam noch länger am Feld zu bleiben. Sie wagten nur so lange auszuruhen, wie sie benötigten, um den Reis aus ihren Schüsseln löffeln zu können. Danach stellten sie sie am nächstbesten Platz, wo sie gefunden werden konnten, ab und verliessen eher fluchtartig das Reisfeld.


    Wie eine überdimensionierte Kopie der Ebenen des Reisfeldes spannte sich eine Felswand hinter den zwei Gebäuden des Feldes entlang. Gatorp und Tsino fanden dort nur einen Weg und der führte neben der Reisfeldhütte steil einen Einschnitt zwischen den Felsen hinauf. Die Erde hier hatte eine Farbe wie Lehm. Nach einer scharfen Kurve standen sie unverhofft vor einem eigenwillig gebauten Tor und einer passenden Wache dazu. Etwas unsicher steuerten sie das Tor an. Die Torwache maß sie mit erfahrenem Blick, sprach sie aber nicht an und reagierte auch nicht, als sie um ihn herum gingen und passierten. Danach standen sie oberhalb des Reisfeldes und hatten plötzlich freie Sicht auf das, was vor ihnen lag:

    Der Weg, dem sie bis hierher gefolgt waren, schlängelte sich allen Hindernissen ausweichend erst um Felsen, dann einen gigantisch großen See, der von einem wunderschönen Wasserfall gespeißt wurde, einen Hügel hinauf und verlor sich irgendwo neben dem Wasserfall.

    Die rechte Wegseite wurde von einem See eingenommen, der linke Teil von einer Höhle. Diese war kein kleiner Tunnel mit dunklen Eingang. Es sah eher aus, als habe die Faust eines Riesen ein Loch von immensen Ausmaßen in die Flanke des Felsen geschlagen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Tsino, dass im Inneren der Höhle Hütten standen. Ob aus dem Fels heraus geschlagen, oder in den Fels hinein gebaut, vermochte er auf die Entfernung nicht zu sagen.

    Da sie sich hier nicht auskannten und ohne Hilfe nichts anderes tun konnten, als verloren in der Gegend herum zu stehen, entschlossen sie sich, die nächstbeste Person nach Tide Nap zu fragen.