Beiträge von Knastbruder

    Spiegle doch deine Zeichnung im Arbeitsverlauf. Dann bekommst du einen anderen Blick darauf und merkst eher, ob sich eine Linie verschoben hat.


    Als Skizzenlinie für Ohren kannst du zwei Kreise zeichnen: Ein kleiner, der das Ohrläppchen andeutet und ein größerer, der die Rundung der Ohrmuschel vorgibt. Die setzt du nicht wie bei einem Schneemann aufeinander, sondern schräg übereinander. (Also eher ein Schneemann aus Pisa.) Die Ränder berühren sich. Für die durchgehende Konturlinie eines Ohres muss man meistens noch viel hinzuerfinden und die Hälfte weglassen, wo das Ohr am Kopf angewachsen ist, aber für eine erste, grobe Orientierung, funktioniert das meistens. Für die Innenlinien habe ich noch kein Patentrezept gefunden, außer diese super-geheime Vorgehensweise aus der Künstlergilde, die immer angewandt wird, wenn irgendetwas nicht auf Anhieb funktioniert.

    Die Innenlinien des Ohres sind eine Sache mit der man sich leicht schwer tut. Mir sind super deformed Stile aufgefallen, bei denen das Ohr durch zu viele detailierte Striche in der Muschel eher einem Stilbruch glich.

    Am liebsten zeichne ich die Ohren ohnehin aus einer 7/8-Perspektive. Dann ist mit zwei Bögen das Thema erledigt. Nur die Gesichter sind dann so langweilig...


    Ich bin neugierig, wie du bei der Colorierung vorgehen wirst. Lädst du die einzelnen Schritte hoch, wenn du dich daran machst?

    Danke für den Kommentar, Zendarius. Das nenne ich hilfreich.


    Bei den von dir benannten Stellen kamen mir die Punkte unpassend vor. Durch die helle Farbe sah das in meinen Augen zu sehr nach Glitzer aus. Das würde eher zu Erzadern oder einer reflektierenden Wasseroberfläche passen.


    Für die Baumkronen hielt ein Acrylpinsel her. Ich habe den Tipp in weiteren Versuchen berücksichtigt. Auf den Motiven ist absichtlich viel Stein, um viiiel Platz für weitere Experimente zu haben.

    Vollkommen baff musterte Tsino den Banditen. Gatorp stand neben ihm und hatte den Blick ebenfalls auf ihr Gegenüber gerichtet. Er sah eigentlich aus wie ein durchschnittlicher Bandit: Ein weiter, blauer Schal, den Oberkörper von Fellen bedeckt, doch die Oberarme nackt, kurzes, schwarzes Stoppelhaar, ein kleiner Goldohrring im linken Ohrläppchen, eine breite Nase und eckige, bartlose Kieferknochen.

    „Wir haben dich endlich gefunden.“ Ungewollt atmete Tsino auf.

    Trotz der verrückten Situation gerade als Buddler einem Banditen gegenüber zu stehen, fühlte er wie eine große Last von seinen Schultern wich. Dabei hatten sie noch gar nichts erreicht. Weder war klar, ob Tide ihnen helfen konnte oder wollte, noch ob sie auch nur seinen Laden lebend verlassen würden.

    „Du siehst nicht aus wie...“, stammelte Tsino bei dem Anblick etwas unbeholfen.

    Amüsiert hob der Bandit eine Braue. „Wie was?“ Er breitete die muskulösen Arme rechts und links von sich aus, um es noch bequemer zu haben, während er sie taxierte.

    „Wie ein Buddler.“, endete Tsino matt.

    Der andere lachte rauh: „Warum sollte ich wie ein Buddler aussehen? Ich bin ein Bandit. Tide Nap mit Namen.“

    Tsino kam sich furchtbar dumm vor und setzte zu einer Erklärung an: „Teto sagte...“

    „Teto?“ Schlagartig war es vorbei mit der entspannten Haltung Tides. Sein Oberkörper schoss ein Stück vor. ‚Treffer.’, dachte sich Tsino, doch er fühlte sich nicht glücklich dabei. Im Gegenteil rutschte ihm das Herz. Es war Gatorp, der in diesem Moment genügend Mut fand, um den Banditen Tide Nap mit einem verwegenen Vorwurf zu konfrontieren:

    „Du hast Tetos Bruder umgebracht!“

    Tide blinzelte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als hätten diese Worte gerade alle Gedanken aus seinem Gehirn gefegt. Völlig fassungslos fragte er zurück: „Tetos Bruder!?“

    Die ungläubige Betonung wirkte auf Tsino nicht geheuchelt. Es stürzte ihn selbst in Verwirrung. So stellte er sich keinen Mörder vor, der mit seiner Untat konfrontiert wurde. Doch er wusste nicht, was gerade falsch lief.

    Vorsichtig fragte er zurück: „Stimmt etwas nicht?“

    Es folgte ein Moment voll lastender Stille. Endlich rückte Tide mit der Sprache raus: „Teto hatte keinen Bruder.“

    Gatorp verschluckte sich und röchelte in einem darauf folgenden Hustenanfall. Tide sprach mit einer Sicherheit in der Stimme von Tetos Blutsbanden, als seien sie ihm bestens bekannt.

    Tsino spürte erneut diesen Wirbelsturm in seinen Gedanken, der drohte alle Fragen, von denen sie eigentlich dachten sie beantwortet zu haben, noch einmal aufzuwerfen. Die Gedanken in Tsinos Kopf, die sich in diesem Moment anfühlten wie tonnenschwere Mosaiksteine, wollten und wollten einfach nicht an ihren Platz rücken. Mit Gewalt versuchte er ein geordnetes Bild zu erschaffen, doch es gelang ihm nicht.

    Tides Augen verengten sich: „Mich würde erst einmal interessieren... Woher ihr zwei Vollblutsnapper Teto kennt?“ Tsino wusste nicht zu sagen, ob der Bandit Tide sie gerade gelobt oder beleidigt hatte, doch er beschloss sich nicht daran aufzuhängen. Gatorp antwortete eher wahrheitsgemäß statt schlecht gelogen: „Er sprach uns mitten in der Nacht auf einen Schatz an.“

    Jetzt ging Tides Augenbewegung in die andere Richtung. Anstatt dass sie schmal blieben weiteten sie sich. „Einen Schatz!?“ Tide wirkte nicht überrascht, sondern alarmiert. Und weil er so wirkte, war Tsino es schlagartig auch. Nach allem, was sie wussten, konnte der Bandit nach wie vor ein Mörder sein. Er konnte auch für Tsino und Gatorp lebensgefährlich sein.

    „Erzähl mir, was du gemacht hast.“, knurrte der Bandit und rückte sich energisch den Schal aus dem Gesicht, um sinnvoller ein Gespräch führen zu können.

    Tsino versuchte nicht eingeschüchtert zu wirken, als er zu einer Erklärung ansetzte: „Der Minenkonvoi wurde in der Nacht angegriffen. Mein Freund Gatorp hier und ich, Tsino, mussten fliehen. Im Dunkeln verirrten wir uns an einem Flußufer und Teto fand uns. Er erzählte uns, dass er von einem Schatz wisse. Er bot uns einen Handel an...“ Tsino kam nicht dazu weiter auszuführen, denn Tide fuhr ihm ungeduldig dazwischen: „Was für einen Handel?“

    Gatorp verschränkte die Arme, da er einfach nicht mehr wusste, wohin mit seinen Händen. Er war es, der Tide antwortete: „Wir sollten den Schatz für ihn ausgraben.“

    Diesmal schwang in der Fassungslosigkeit des Banditen unverhohlener Zorn mit: „Ihr habt euch an unserem Schatz zu schaffen gemacht!“ Doch er sprang nicht auf und obwohl seine Waffen griffbereit lagen, brachte er sie nicht zum Einsatz. Stattdessen schnaubte er wie wild in dem Versuch sich wieder zu beruhigen. Tsino harrte schweißverklebt aus, bis sich der Bandit wieder unter Kontrolle hatte. In seiner Haut fühlte er sich alles andere als wohl.

    Tide maß sie mit einem seiner Blicke, der dazu geeignet war Leute auf Hutgröße schrumpfen zu lassen. Dann sagte er: „Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich euch zu Banditen machen oder euch eigenhändig den Hals umdrehen soll. Ihr habt echt Nerven... Ihr spaziert hier einfach herein... Erzählt mir frei heraus, dass ihr unseren Schatz gestohlen habt... und behauptet zu allem Überfluß mit Teto gesprochen zu haben.“ Er musterte Tsino und Gatorp, die im Augenblick beide einen eingeschüchterten Eindruck machten, ehe er eher für sich selbst hinzufügte: „Aber ganz so hart scheint ihr dann doch nicht zu sein.

    Fahr fort!“

    „Wir haben den Schatz ausgegraben...“ Tsino unterschlug dabei all ihre Probleme an das Grabungsmaterial zu kommen und den durchlebten Schock bei ihrem Fund. Ihr Gegenüber schnaubte noch immer, doch blieb so regungslos wie zuvor. Erst als Tsino sich sicher war, dass er nicht sofort aufspringen und sie töten würde, beendete er den Satz: „...und fanden eine Leiche.“

    Tide nickte und wirkte kein bisschen überrascht. Eher so, als habe er eben etwas gehört, das er schon lange wusste.

    Verzweifelt hoffnungsvoll musterte Tsino Tide in Erwartung dessen, dass dieser irgendetwas sagte, dass die Situation auflöste und sie alle mit einem gedehnten „Ach sooo“ aufatmen liess. Als nichts dergleichen von Tide kam, versuchte Tsino es mit einer Feststellung zu provozieren: „Du kennst Teto.“

    „Aye.“, gestand Tide, „Ich habe ihn umgebracht und bei unserem Schatz verscharrt.“

    Tsino fühlte sich, als habe man ihm gerade einen Knüppel über den Kopf gezogen. Der Boden unter seinen Füßen schien zu wanken und sein Magen nur noch aus Eisblöcken zu bestehen. Tsinos Knie drohten seinem Körpergewicht nachzugeben und so gab Tsino lieber seinen Knien nach und liess sich langsam zu Boden sinken. Auch Gatorp schien eine ähnliche Stimmung zu verspüren, denn wortlos knotete er sich eine Flasche Alkohol ab und nahm einen sehr tiefen Schluck.

    „Was?“, fragte Tide scharf. Der Zustand der beiden Buddler konnte ihm gar nicht entgehen. „Teto ist tot. Also benehmt euch nicht, als hättet ihr einen Geist gesehen.“

    „Nicht ganz... Wir haben ihn gesehen... Mit ihm gesprochen... Ich habe Alpträume...“, gestand Tsino, „Von Teto. Jede Nacht sucht er mich heim. Ich will, dass das aufhört! Und ich glaube, dass du uns helfen kannst Licht in diese Sache zu bringen.“ Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass der Bandit ihm aufs Wort glaubte, auch wenn er ihm gerade eröffnet hatte von einem Mann verfolgt zu werden, den er umgebracht hatte.

    Tide frage weiter: „Und woher wusstest du halbe Portion, dass du damit zu mir kommen musst?“

    „Teto erwähnte deinen Namen. Es war unser einziger Anhaltspunkt.“, antwortete Tsino. Es war wieder eine der Antworten, bei der man ihn logisch betrachtet für verrückt halten müsste. Aber der Bandit nahm es erneut so auf, als glaube er vorbehaltslos jedes Wort davon. Dabei machte er auf Tsino allgemein keinen naiven, sondern eher einen gerissenen Eindruck.

    Viel zu lange schleppten sie diese Geheimnisse mit sich herum, die ihnen auf lange Sicht nur Unglück brachten. Ihm wurde kalt bei dem Gedanken, dass sie sich zu allem Überfluß auch noch einem Banditen anvertrauten.

    Tides ohnehin schon breiter Brustkorb dehnte sich noch ein Stück weiter aus und sank danach seufzend in sich zusammen. „Wie es aussieht ist der gute Teto zurück gekommen, um seinen alten Kameraden heimzusuchen.“

    Gatorp nahm noch einmal einen eher demonstrativen Schluck aus der Flasche, ehe auch er sich sinken liess. Geräuschvoll schluckte er und beugte sich am Boden sitzend vor, um sie Tide anzubieten. Der nahm sie entgegen, rieb das Mundstück mit seinem Schal sauber und nippte daran.

    Er schmatzte genießerisch. „Varanter. Den bekommt man hier im Neuen Lager nur selten. Ihr wisst schon: Außenweltware. Ich will gar nicht wissen, ob ihr den mit dem Schatz bezahlt habt.“

    „Mit meinem Minenerlös.“, warf Gatorp unabhängig vom Wahrheitsgehalt – vor allem aber: schnell – ein.

    Tide nahm diesmal einen deutlich tieferen Schluck. „Also schön... Reden wir.“

    Tsino hielt es für einen guten Moment einen Schritt aus der Defensive zu wagen: „Wer war Teto? Und warum hast du ihn umgebracht?“

    Tide setzte sich mit der Alkoholflasche schon etwas entspannter hin und begann: „Wir waren alle in derselben Mannschaft... Teto... Ich...“

    Schon an dieser Stelle unterbrach Gatorp: „Mannschaft?“

    „Piraten.“, warf Tide erklärend zurück.

    „Piraten!?“, fragten Tsino und Gatorp wie aus einem Mund. Sie tauschten ungläubige Blicke.

    „Ist was?“, fragte Tide gelangweilt.

    „Naja...“, meinte Tsino gedehnt um etwas Zeit zu gewinnen. Er besah sich noch einmal Tides Erscheinung, doch der sah nach wie vor mehr wie ein durchschnittlicher Bandit aus und weniger wie einer der Klischeepiraten. Dennoch rückten ein paar Mosaiksteine an die richtige Stelle: Der Goldohring... Tetos Anhänger mit der Muschel... die handgeknüpften Bänder.

    „Du siehst nicht aus wie ein Pirat...“ machte Gatorp fast schon enttäuscht „Du redest nicht einmal wie einer.“

    „Wie sollte ein Pirat denn reden?“, fragte Tide stoisch zurück und hielt sich die Öffnung der Flasche unter die Nase, um das Aroma zu atmen, so lange er nicht trank. Gatorp wippte dezent verunsichert mit dem Oberkörper hin und her, als er versuchte sich in Worte zu fassen: „Naja... so 'arrr' eben. Und lauter 'Landratten' und 'Setzt die Segel'.“

    Tsino kam sich ausgesprochen dumm vor, als Tide die Vorstellung mit einer lässigen Handbewegung bei Seite wischte. „Nicht jeder Pirat spricht gleich so. Wir sind ganz normale Leute. Dennoch einen uns Bräuche.“

    „Welche zum Beispiel?“, fragte Tsino.

    „Du kannst das wahrscheinlich nicht verstehen, Landratte, aber ich will versuchen es dir zu erklären. Sicher hast du schon davon gehört, dass Piraten ihre Schätze vergraben?“

    „Natürlich.“, warf erneut Gatorp ein, „Vergrabene Piratenschätze sind doch legendär!“

    Tsino meinte skeptisch: „Ist das sinnvoll?“

    Tide entgegenete schnippisch: „Natürlich macht das Sinn. Du kannst sie schlecht offen stehen lassen. Auf einer Seefahrt hast du nicht die Zeit eine Schatzkammer zu bauen. Also musst du mit dem arbeiten, was da ist.“

    Tsino hakte nach: „Deswegen vergrabt ihr die Schätze also im Sand?“

    Tide gab ein genervtes Geräusch von sich und behalf sich mit einem weiteren Schluck, ehe er sagte: „Im Sand... Pfff! Flachflunder! Das Meer schlägt Wellen an den Strand und schwemmt den Sand weg. Auf der anderen Seite der Insel bleibt der abgetragene Sand dann liegen. Wenn die Strömung von Ost nach West fließt und du einen Schatz auf der Westseite verbuddelt hast... Dann kann es sein, dass er auf der Ostseite der Insel liegt, wenn du wieder zurück kommst.

    Nein, nein... Sand ist viel zu unsicher. Du vergräbst die Schätze an einem auffälligen Punkt. Oder du gehst von einem auffälligen Punkt ein Stück und schreibst dir auf, wie du die Stelle wieder findest. Jeder hat da so seine Methoden... Doch dir alles zu erzählen wäre zu viel Gerede für eine Nacht.“

    „Seemannsgarn.“, machte Gatorp und versuchte erfahren zu klingen. Doch das handelte ihm nur einen vorwurfsvollen Blick von Tide ein, der wie dazu geschaffen war einen Troll auf die Größe eines Goblins schrumpfen zu lassen. Nachdem Tide Gatorp damit so lange gestraft hatte, bis Gatorp den Blick senkte und am Boden in sich zusammen schrumpfte, nahm Tide noch einen Schluck aus der Flasche. Danach drückte er sich ein Stück hoch und reichte sie an den überraschten Tsino weiter, der mechanisch daran nippte. Tide erzählte wieder:

    „Es gibt noch einen weiteren Brauch... Wenn du einen Schatz vergräbst... Wenn die Piraten einen Schatz vergraben... Dann wollen sie den natürlich auch wieder haben, wenn sie zurück kommen. Kannst du dir denken, wie das geschieht?“ Er nickte zum Ausgang des Ladens, wo sich noch immer der Bandit mit den goldenen Augen langweilen musste, auch wenn er von ihrer derzeitigen Position aus nicht zu sehen war. Tsino händigte Gatorp die Flasche aus und sah dorthin. Gatorp nahm die Flasche entgegen, linste mit einem Schluck aus der Flasche zum Ausgang und stellte nach einem unnötig harten Schlucken die Frage: „Also bleibt einer als Wache zurück?“

    Tide nickte: „Du hast es erfasst.“ Er streckte fordernd die Hand aus und Gatorp drückte ihm rasch wieder die Flasche in die Hand.

    „Aber wer wäre so verwegen viele Jahre auf einer einsamen, unbewohnten Insel auszuharren?“, fragte Tsino laut.

    „Und wer so treu nicht einfach mit dem Schatz zu verschwinden, sobald die Mannschaft abgezogen ist?“, warf Gatorp einen weiteren Gedankengang mit ein, nur um hinzuzufügen: „Piraten ist ja immerhin alles zuzutrauen...“

    Tide schien nicht davon nicht beleidigt zu sein. Im Gegenteil nickte er sogar.

    Tsino hob die Brauen, als er versuchte das Rätsel zu lösen: „Man müsste den Wächter schon anbinden, damit er nicht mit dem Schatz reißaus nimmt... Aber das würde ihm gleichzeitig die Möglichkeit nehmen den Schatz zu bewachen...“

    Tide schüttelte träge den Kopf. Er lies sie rätseln und beschäftigte sich nebenbei entspannt mit der Flasche. Doch als ihre Lösungsversuche ausblieben, nahm Tide endlich das Wort wieder auf:

    „Ja, wir lassen einen von uns als Wache zurück. Ihr habt Recht damit, dass sich keiner freiwillig auf einer Insel einsperren lassen würde. Also wählen wir ihn unfreiwillig...“ Er machte eine Pause, die er mit einem Schluck füllte, ehe er erneut ansetzte:

    „Während wir den Schatz vergraben stimmen wir darüber ab, wer bleiben muss und wer lebend gehen darf. Normalerweise bekommt der Rest nichts davon mit. Egal, wie viele abstimmen, meistens ist es doch nur eine kleine Gruppe, die darüber entscheidet.“

    „Warte mal... Wer 'lebend' gehen darf?“, fragte Tsino mit geweiteten Augen nach. Doch Tide ignorierte den Einwurf und erzählte unbeeindruckt weiter:

    „Wenn der Schatz in das Loch gehievt wird und es Zeit wird, ihn zu bedecken... Noch ehe das erste Krümmelchen Erde auf den Schatz fällt, fällt einer von uns ins Loch. Die Kameraden schiessen ihm von hinten durch den Rücken ins Herz.“

    Tsino hielt die Luft an. Gatorp klappte der Mund auf. Tide fuhr ungerührt fort:

    „Das bindet die Seele des Toten an den Schatz. Er muss so lange bei dem Schatz wachen, bis seine Mannschaft kommt, um ihn zu erlösen. Dann nehmen sie den Schatz mit und er kann in Ruhe in Beliars Reich gehen.“

    Von Tsino kam es erstickt: „Blutmagier...“

    „Piraten waren schon immer dicht an solchen Dingen.“, meinte Tide nahezu lässig. Er schwenkte die Flüßigkeit in der Flasche, nahm noch einmal einen Schluck und reichte sie dann Gatorp zurück.

    Tsino fragte lahm: „Aber warum ausgerechnet Teto? Er war doch so nett...“

    „Täusch dich nicht – Er sitzt in der Kolonie, Kleiner.“, gab Tide zu bedenken, „Würdest du Teto begegnen und du wüsstest nicht wer er ist – nicht so, wie du es jetzt schon weist – was würdest du von ihm halten?“ Tide lies ihnen einen Moment Zeit, um über die Frage nachzudenken, ehe er sie für sie beantwortete: „Würdest du denken, dass er ein goldgieriger, skrupelloser Pirat sei, der über Leichen geht? Nein. Du würdest denken, dass er ein netter und vertrauenswürdiger Kerl ist. Und genau das macht ihn so gefährlich.

    Wer geht das Lager vor dem Angriff ausspionieren? Teto. Wer geht in das Dorf, in dem unsere Steckbriefe hängen, um Vorräte zu besorgen? Netter Teto. Wen schicken wir alleine los, um unsere Häscher in eine Falle zu locken? Ewig lächelnder Teto!“ Tide schnaubte, als er seine immer lauter werdenden Ausführungen unterbrach.

    Langsam setzte sich in Tsinos Kopf ein Bild so weit zusammen, dass er alleine nach einem Faden greifen konnte: „Aber in der Strafkolonie gab es diese Rollen nicht mehr... Also hast du ihn nicht mehr gebraucht.“

    „Genau deswegen. Als Kamerad ist er unschlagbar. Aber um an einen Schatz an einer verfluchten, geheimen Stelle in einer Kolonie voll misstrauischer Verbrecher zu kommen, brauchst du keine netten Kerle. Ich brauche skrupelose Kerle, die bereit wären für genügend Erz ihre eigene Großmutter zu verkaufen und auf die ich mich verlassen kann.“

    Tsino war schwindlig von den ganzen Enthüllungen und es lag nicht an den Schlucken Alkohol, die er während dessen getrunken hatte. Er stammelte: „Aber... Aber... Wenn die Seele des Wachenden erlöst wird, sobald der Schatz gehoben ist... Warum verfolgt Teto uns weiterhin?“

    Tide antwortete: „Das ist eine gute Frage. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Bande erst dann lösen, wenn die Mannschaft den Schatz hebt, die ihn auch vergraben hat.

    Eigentlich sollte dieser kleine, dreckige Bastard den Schatz vor gierigen Leuten wie euch beschützen und nicht vor ihnen die Position ausplaudern! Ich weis wirklich nicht, was schief gelaufen ist...“ Tide klang abwechselnd wütend und nachdenklich. Nachdem er sich wieder zurück sinken lies, versuchte Gatorp zu rätseln: „Vielleicht liegt es an der Barriere. Die ist ja auch magisch. Und das hat euren kleinen Blutbrauch durcheinander gebracht.“

    Tide schnaubte nur abfällig, nahezu ignorant. Doch er wich Gatorps Blick aus, als er das abfällige Geräusch von sich gab. Womöglich wollte er sich die Möglichkeit nicht eingestehen, dass ihre Methoden fehl geschlagen waren. Wie Tide den Kopf nach rechts abwandte, fiel nicht nur Tsino das Schmuckstück an seinem linken Ohrläppchen ins Auge, sondern auch Gatorp, der es spontan kommentierte:

    „Ihr beiden habt denselben Goldohrring. Ist das, weil ihr in derselben Mannschaft wart?“

    Tide rieb an seinem linken Ohrläppchen, wo sich besagter Ring befand. „Nay.“, machte er und verneinte damit die Frage, "Das haben viele Seeleute. Weist du...

    Wenn du auf See stirbst, wirst du mit ein paar Steinen in deine Hängematte eingenäht und über Bord geworfen. Die meisten wollen das nicht, sondern wie jeder innosgläubige Mensch begraben werden. Daher der Ohrring...“

    Gatorp fragte verständnislos: „Der Ohrring macht ein Grab?“

    Erneut gab Tide ein verneinendes Geräusch von sich, ehe er weiter erklärte: „Wenn wir sterben, wird er uns abgenommen und das Begräbnis davon bezahlt. Also... Wenn du eine Leiche mit Goldohrring findest... Dann organisier ihm ein anständiges Begräbnis und finanzier es von seinem Goldohrring. Was dann noch übrig bleibt, kannst du getrost behalten. Dazu ist es gedacht und jeder bekommt das, was er am meisten will: Der Pirat ein Begräbnis, das seine schwarze Seele zur Ruhe kommen lässt und der ehrliche Finder sein Gold.“

    Gatorp lachte plötzlich auf. Tsino starrte ihn verständnislos an. Endlich hatte sich Gatorp so weit beruhigt, dass er sich erklären konnte: „Tetos Leiche trägt auch so einen Ring... Hat ihm nur nicht viel gebracht.“

    Tide lachte nicht mit.

    Tsinos Augen wurden groß. „Gatorp... Das ist es!“

    Verwundert schaute Gatorp zurück: „Das ist was?“

    Tsino kam kaum noch damit hinterher seine Gedanken auszusprechen, da die Erzbrocken bei ihm so schnell fielen: „Darum kann Teto keine Ruhe finden, obwohl der Schatz längst geborgen ist: Er will ein anständiges Begräbnis! Erinnerst du dich nicht? Als er uns erzählt hat, wo der Schatz begraben liegt, da sagte er, wir sollen etwas ausgraben und woanders wieder eingraben. Er meinte gar nicht den Schatz... Er meinte sich!

    Wir sollen Tetos Leiche wieder ausgraben und in einem Friedhof wieder eingraben.“

    Gatorp wurde laut. Man hörte eindeutig Verärgerung in seiner rauhen Stimme: „Und warum sagt er uns das nicht klipp und klar? Warum hat er nicht gesagt 'He, ihr Idioten. Buddelt meine verdammte Leiche aus und beerdigt sie irgendwo, damit ich Frieden finden kann. Ich bezahle euch übrigens mit einem verfluchten Piratenschatz dafür!'?“

    „Da habe ich eine Theorie“, antwortete Tide an Tsinos statt: „Die Bande, die eine Piratenseele an einen Piratenschatz bindet, sorgt normalerweie dafür, dass er zu allen anderen Dingen dazu gezwungen ist das Geheimnis für sich zu behalten.“

    Tsino setzte die Mosaikstücke zusammen: „Wahrscheinlich wollte Teto es uns sogar sagen... konnte es aber nicht.“

    Gatorp fuhr dazwischen: „Er sagte er will einen Schatz!“

    „Nein...“ Tsino schüttelte langsam den Kopf „Ich kann dir den genauen Wortlaut nicht mehr aus dem Kopf sagen, aber ich glaube nicht, dass er das gesagt hat. Das waren wir. Wir haben geglaubt, dass er einen Teil vom Schatz meinte, weil wir nur auf den Reichtum fixiert waren... Wir hatten ja keine Ahnung, dass seine Leiche mit vergraben war!

    Für uns war es logisch, dass jeder, der von einem Schatz weis, auch einen Teil davon haben will. Also haben wir uns etwas eingebildet, das nicht so war und es für die Wahrheit gehalten.“

    Gatorp lies noch nicht locker: „Und Tide? Teto hätte sagen können, dass Tide ein verdammter Bandit ist und kein Buddler war.“

    Tides Augen blitzten gefährlich, als er Gatorp anfuhr: „Vorsicht, Freundchen!“

    Erneut flüsterte Tsino die eigene Skepsis eine mögliche Antwort ein, die er sofort publik machte: „Derselbe Fehler... Wir dachten Tide sei ein Buddler, weil Teto sagte, er sah aus wie einer.“ Dabei maß Tsino seinerseits Tide mit Blicken und fragte ihn: „Warum hat Teto das erzählt? Du bist doch ein Bandit...“

    Tide antwortete ihm: „Er wusste es nicht... Als wir den Schatz vergruben, hat er mich das letzte Mal gesehen. Damals waren wir beide noch Buddler. Seither sind zwei Jahre vergangen.“

    Gatorps Verärgerung brandete noch einmal auf, doch seine Stimme klang schon nicht mehr ganz so rauh, als er laut sagte: „Warum ist Teto nicht nachsehen gegangen?“

    Auch hier lieferte Tide wieder die Antwort: „Weil er nicht konnte. Der Bann sorgt dafür, dass sich die Seele nie weit vom Versteck des Schatzes entfernen kann.“

    „Das macht sogar Sinn. Deswegen sind wir ihm am Flußufer begegnet... Oder er uns. Je nachdem, wie man es sieht. Er konnte dort nicht weg und musste warten, bis zur Geisterstunde Leute vorbei kamen, die ihn erlösen können.“ Gatorps Gesicht erhellte sich in dem Bruchteil einer Sekunde, ehe er so skeptisch, wie sonst nur Tsino war, hinzufügte: „Aber weist du von einem Friedhof hier in der Kolonie?“

    „Hier ist einer.“, warf Tide ein. Überrascht sahen beide Buddler zu ihm hinüber. Tsino meinte verwundert: „Im Alten Lager werfen sie die Leichen immer in den Burggraben, wo die Tiere die Kadaver dann weg schleppen...“

    Tsino atmete aus, ehe er den nächsten Plan nicht nur in seinem Kopf, sondern auch in Worte fasste: „Wir graben Teto aus... und beerdigen ihn auf dem Friedhof im Neuen Lager.“


    Ohne sich noch weiter an der Alkoholflasche zu vergehen, standen sie sich auf. Tide suchte einen stabilen Sack aus seinem Vorrat, der groß genug war, um einem ausgewachsenen Mann vom Kopf bis zu den Knöcheln zu reichen und warf ihn sich über die Schulter. Tsino konnte sich erneut eines seltsamen Gefühls nicht erwehren mit einem Banditen unterwegs zu sein. Noch in der Türschwelle wandte sich Tide an die Ladenwache: „Ich muss mal kurz weg. Pass hier auf, bis ich wieder da bin.“ Der Bandit musterte die beiden Buddler mit unverhohlener Neugier in seinen goldfarbenen Augen, sagte jedoch nichts.

    Mit Tide an ihrer Seite kamen sie ungehindert durch das Lager und am Reisfeld vorbei. Die Banditen dort staunten nicht schlecht, als Tide mit den ehemaligen Unruhestiftern an ihnen vorbei wanderte und die Pflücker und Schläger, die Reisbauern und Banditen wichen ihrer kleinen Gruppe samt und sonders respektvoll, manche sogar richtig kriecherisch aus.

    Tsino versuchte nicht auf sie zu achten, als er Tide fragte: „Warum ausgerechnet die Stelle?“

    „Erzähl' ich euch draußen.“, winkte Tide forsch ab.

    Gatorp hakte nach, als sie das Lager verliessen: „Sag mal, Tide... Wie seid ihr eigentlich ausgerechnet auf die Stelle gekommen? Da ist doch nichts, um den Schatz wieder zu finden.“

    „Da irrst du dich.“, meinte Tide. Er versank für einige Momente in Nachdenken, ehe er meinte: „Nun, wo der Schatz ohnehin gefunden ist, spielt es auch keine Rolle, ob ich es euch zeige oder nicht... Aber wir müssen auf den richtigen Sonnenstand warten.“

    Kaum aus dem Lager folgten sie einem Weg, der an hoch aufragenden Felsen entlang das Lager umrundete. Dort gab es ein kleines Waldstück, in das Tide sie führte.

    Tsino erschrack bis ins Mark, als sie einen schlafenden Scavenger aufschreckten. In der Morgendämmerung hatte der graublaue Riesenvogel wie ein Stein ausgesehen. Kaum wach, sprang das Tier auf die langen Beine, die die eines Läufers waren und senkte den Kopf mit dem armlangen Schnabel, um sie mit einem durchdringenden Schrei zu bedrohen. Tide verzog keine Miene, als er seine Waffe löste, auf das Tier zustürmte und es noch in seiner Drohgebärde mit einem gezielten Hieb gegen die Kehle zu Fall brachte. Das ganze war eine Sache von Sekunden, dennoch brauchte Tsino einen Moment, ehe er seine Knie wieder fand und dem skrupellosen Banditen folgte, der die Waffe flüchtig am Fell abwischte und weiter stapfte, als habe es nie eine Unterbrechung gegeben.

    Es zeigte sich, dass ihr Weg recht abrupt an einem Abhang endete. Dort stürzte ein kleiner Wasserfall in den Fluß, an dem der Schatz vergraben lag.

    Lange standen sie dort, ohne dass sich Tide erklärte. Er stand einfach mit verschränkten Armen und starrte die entfernte Felswand neben dem Flußufer an. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als geduldig zu warten.

    Als die Sonne hinter einer Bergflanke hervorkam und ihr goldrotes Licht die Welt in Farbe tauchte, sagte Tide unvermittelt: „Da ist es. Du siehst unsere Galleonsfigur im Felsen.“

    Tsino und Gatorp starrten ihn an, als habe der Bandit den Verstand verloren.

    ‚Er starrt auf eine Felswand und spricht von einer sie?’

    Tide löste den Knoten in den Armen und kam zu Tsino hinüber, nur um sich unangenehm nah neben ihn zu stellen. Er brachte seinen Kopf so nahe wie möglich an den von Tsino, um in etwa dessen Blickwinkel einnehmen zu können. Er streckte den Arm aus und begann erklärend auf verschiedene Stellen der Felswand zu deuten. Mit Tides Kopf auf seiner Schulter, seiner Wange ganz nah an seiner und dessen Arm direkt vor seinem Gesichtsfeld ausgestreckt, wurde ihm plötzlich kalt. Tides Ohrring kitzelte ihn an der Wange und das kühle Metall machte ihm Gänsehaut.

    Er beobachtete Tides ausgestreckten Zeigefinger, der eine armeslänge von seinen Augen entfernt Linien am Fels nachzeichneten. Durch das Sonnenlicht warfen die Steine dort klar erkennbare Schatten. Nun, wo Tides Finger diese aus Schatten geformten Linien entlang glitt, sah Tsino es auch.

    Es war, als male ihm der weisende Finger das Bild direkt aus dem Stein. „Da siehst du das Gesicht...“ Aus dem Felsen lösten sich die Umrisse. Tsino erkannte ganz klar das ebenmäßige Gesicht mit glatten Wangen in der Felswand. Tides Finger glitt weiter nach unten. „Hier den Körper.“ Während er erklärte sprangen die Konturen Tsino förmlich ins Gesicht. ‚Warum ist mit das nicht schon früher aufgefallen?’ Nun konnte er auch die geschwungenen Hüften erkennen. Nur das Netz aus Rissen zwischen den Felsen im unteren Teil ergab für ihn keinen Sinn. „Was ist das?“

    Er streckte nun seinen eigenen Arm neben dem von Tide aus. Ihre Arme berührten sich, als Tsino auf die Partien deutete, wo an die Hüfte eigentlich die Beine anschließen sollten, doch sich stattdessen der ganze Körper in einem sinnlichen Schwung nach hinten wölbte und sich in diesem Geflecht verlor.

    Tide meinte nur unbeeindruckt: „In einem Fischschwanz endet die schöne Frau.“ Er löste sich von Tsino und ging zu Gatorp hinüber, um bei ihm dieselbe Magie noch einmal zu wirken.

    Tsino starrte die Felswand gegenüber an, auf der er jetzt so klar das aus Licht und Stein gemeiselte Bild dieser Meerjungfrau sehen konnte. Gatorp sog hörbar die Luft ein. Er hatte nun wohl das Bild offenbar ebenfalls entdeckt.

    Eine Weile betrachteten sie stumm vor Staunen das Bild, dann schob sich eine Wolke vor die Sonne. Einen Moment später schwamm dort nur noch grau in grau die Felswand. Enttäuscht sah Tsino zu den anderen hinüber.

    Er fragte Tide: „Ihr habt den Schatz also unter ihrem Rumpf vergraben?“ Tide nickte zur Antwort: „Teto hat die Stelle damals entdeckt. Ewiger Naturfreund... Hat die Scavenger hier immer nur mit der stumpfen Seite seiner Waffe niedergeschlagen und aus dem Weg gezogen.“ Dabei nickte er in das Waldstück.

    „Sollen wir runter gehen?“, fragte Tsino.

    Gatorp meinte: „Ich bleibe lieber noch einen Moment sitzen...“

    Tide stand aufrecht auf den Klippen, wo der Wind flüsternd über den Fluß strich und rauschend zwischen den Bäumen spielte. Mit verschränkten Armen blickte er zur Steilwand hinüber. „Teto hat das alles geliebt.“, meinte Tide irgendwann zusammenhanglos, „Den Wind und die Natur, die Galeonsfigur und jeden dreckigen Piraten an Bord.“ Seine breite Brust wurde von einem tiefen Seufzen gedehnt, als er an niemand Bestimmten gerichtet fortfuhr „Bei den Göttern... Wie sehr ich sie alle vermisse. Ich würde unseren Schatz geben um noch einmal auf Raubzug gehen zu können...“

    Gatorp platzte ihm in die wehmütige Stimmung: „Heißt das, du willst den Schatz gar nicht?“

    Tide schüttelte den Kopf mit einem Gesichtausdruck, als habe er gerade in einen sauren Apfel gebissen: „Einen verfluchten Schatz kann ich nicht gebrauchen. Lieber nehme ich das Geld in die Hand, um mein Leben zu kaufen. Du siehst ja Teto: Reich, aber tot. Bringen wir es endlich hinter uns.“ Damit setzt er sich in Bewegung. Die beiden Buddler rappelten sich auf und folgten dem Banditen.

    Sie gingen zu der Stelle hinunter. Die Schaufeln, die Gatorp und Tsino genutzt hatten, waren noch dort. Auch Teto war noch da, wenn auch in bedeutend schlechteren Zustand als zuvor. Tide warf den Sack ins Loch, der daraufhin den Toten bedeckte und hieß die beiden Buddler hinab zu steigen und ihn zu holen.

    Es war eine Arbeit, die sich Tsino nachträglich lieber aus dem Gedächtnis löschte. Ebenso der Weg zurück ins Lager, während Teto in dem Sack verschnürt auf seiner und Gatorps Schulter getragen wurde. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, ob und wie die Leute am Feld gestarrt haben mussten. Nur dunkel erinnerte er sich an einen kleinen Fliederstrauch mit lila Blütentrauben, der auf dem Friedhof wuchs und das tosende Rauschen aus dem Wasserfall, das durch die Ohren in den Kopf drang und dort jeden Gedanken im Keim erstickte. Dort hoben sie unter Tides Aufsicht erneut eine Grube aus. Genauso tief wie das Loch, in dem die Buddler einen Schatz und Teto seinen Tod gefunden hatten. Dort betteten sie ihn zur letzten Ruhe, schaufelten die Erde wieder zu und standen für einen Moment in beklemmender Stille.

    Tsino erinnert sich hauptsächlich an eines: Danach hatten die Alpträume aufgehört.


    ENDE

    Tide Nap wird gefunden

    „Laden.“, war die knappe Antwort. Obwohl nur zwei kurze Silben war das die erste, brauchbare Antwort seit Tagen. Und das von einem graubärtigen Mann, der außer einer braunen Schürferhose mit schweren Minenarbeiterschuhen nichts am Körper trug. Es liess sich schwer sagen, ob seine fettigen Haare oder sein ungepflegter Bart länger waren. Sein Obekörper war verschwitzt, hob und senkte sich unregelmäßig und war verschmiert vor Minenstaub in dem man noch die Spuren der Hackenhalterung erkannte.

    Tsino und Gatorp richteten sich auf. „Laden?“, hakte Gatorp mit vor Aufregung rauher Stimme nach, „Was für ein Laden und wo finden wir den?“ Sie bestürmten den anderen so sehr, dass dieser sie komisch ansah. Anscheinend wollte er sich nicht lange mit ihnen unterhalten, denn anstatt mit Worten zu antworten, zeigte er nur in eine Richtung. Sie folgten mit Blicken der Richtung des ausgestreckten Armes. Der Weg führte dort die Steigung zu einer Klippe hinauf. Zur linken ging es zur Höhle mit den Hütten, zur rechten lag der See. Das Gebäude, auf das der Mann zeigte, stand recht einsam auf der Höhlenseite des Weges. Es wies ein hölzernes Kellergeschoss auf, das an dieser Stelle die Steigung des Geländes ausglich. Besonders markant war eine Rampe, die zu einer ausladenden Holzterasse vor dem eigentlichen Eingang des Steingebäudes hinführte. Kisten und Fässer versperrten einen Blick auf die Fläche dort.

    Als sie weiter fragen wollten, war der Mann bereits verschwunden. Sie sahen sich suchend um und entdeckten ihn gerade noch mit wehendem Grauhaar eilig weg gehen. Offensichtlich wollte er wirklich nicht seine Zeit mit zwei Neuen verschwenden. Neue fanden an jedem Ort der Kolonie schnell Ärger.

    So blieb ihnen nichts anderes übrig als sich dem ausgewiesenen Haus zuzuwenden. Die Terasse hinter den Kistenstapeln war nicht so leer, wie es aus der Ferne ausgesehen hatte, denn dort vor dem Eingang stand eine Wache mit dunkler Haut und hellem Banditenschal um den Schultern.

    „Könnte das Tide sein?“, flüsterte Tsino Gatorp zu. Der maß den fremden Banditen mit Blicken und gab ebenso leise zurück: „Ich bin mir nicht sicher... Die Größe stimmt in etwa, aber die Statur lässt sich bei dem weiten Schal nicht so gut erkennen. Frag du ihn.“ Schon fühlte sich Tsino von Gatorps kräftiger Hand nach vorn geschoben.

    Hoffnungsvoll sprach er die Wache an: „Wir suchen Tide Nap.“

    „Drinnen“, kam die knappe Antwort, doch als sie an ihm vorbei ins Innere gehen wollten, machte der Kerl einen raschen Schritt zur Seite und versperrte ihnen gekonnt den Weg.

    „Was wollt ihr von Tide?“, fragte er scharf nach und mustert sie aus verengten Augen an seiner Adlernase entlang. Er hatte dunkle Haut, die sich kontrastreich von seinen grauen Fellen und dem blauen Schal abhob, der seine Schultern bis zur Nasenspitze bedeckte. Seine Augen funkelten wie geschmolzenes Gold.

    „Wir wollen mit ihm sprechen.“, gab Gatorp zurück und plusterte sich auf.

    Der goldäugige Bandit schien davon nicht beeindruckt: „So, so, ihr wollt also mit ihm sprechen. Jeder will mit Tide sprechen. Die Frage ist: Warum sollte Tide mit euch sprechen wollen?“

    Tsino hätte sich am liebsten frustriert schreiend die Haare gerauft. Da waren sie so weit gekommen, waren einmal quer durch die Kolonie gereist, hatten sich sogar mit Überfällen und Hehlervorwürfen auseinander gesetzt, nur damit ihre Mission an der Böswilligkeit dieses einen Mannes scheiterte.

    Gatorp behielt einen ruhigeren Kopf und fragte rauh: „Also gut... Wie viel?“

    Ein dünnes Lächeln war die Antwort.

    ‚Natürlich... Unbestechlich.’

    Tsino pustete frustriert aus vollen Backen. Alle liebten das Erz, doch manchen war die Treue zu ihren Verbrecherbrüdern wichtiger als Erz und Ansehen. Sie hatten so einen Kerl im ungünstigsten Moment gefunden.

    „Also schön...“, kapitulierte Tsino „Was willst du?“

    Der Bandit musterte die beiden und kostete den Moment voll aus, ehe er sagte: „Ich will, dass ihr etwas für mich macht... Genau genommen müsst ihr nur beweisen, dass ihr für das Lager nützlich seid und für unsere Sache kämpfen wollt.“

    Gatorp warf schnell ein: „Wir schuften bereits in der freien Mine für den Plan!“ Er log, ohne dass sich seine Haut auch nur im geringsten seiner Haarfarbe annäherte.

    Der Bandit konterte: „Jeder schuftet in der freien Mine. Je-der. Arsch. Das ist gar Nichts. Das Leben in der Mine ist ein bequemes Leben – vom Hacke schwingen mal abgesehen. Und es ist einfach zu behaupten man stünde treu zum Lager, wenn man den lieben langen Tag nichts anderes machen muss, als mit dem Gesicht zur Wand zu stehen, um reich zu werden.

    Denn sind wir mal ehrlich: Sie mögen noch so lange behaupten für den Plan zu arbeiten, am Ende schuften sie nur für das Erz in ihren eigenen Taschen.

    Ich will, dass ihr etwas macht. Etwas richtig wichtiges.“

    Tsino lauschte ihm ungläubig. ‚Banditen haben Prinzipien?’

    „Es wird beweisen, welchen Wert ihr für uns habt...“ erneut machte der Bandit den Eindruck den Moment voll auszukosten, ehe er ihnen eröffnete: „Ich will, dass ihr auf Überfall geht.“

    Gatorp stockte der Atem. Tsino schrie auf: „Auf Überfall!?“

    Vollkommen entgeistert starrten sie ihn an. Gingen sie auf Überfall würden ihre Gesichter sofort auf den inoffiziellen Steckbriefen landen und ihre Köpfe nur kurze Zeit später auf den Spießen vor den Toren des Alten Lagers. Zu spät bemerkten sie in welche Gefahr sie gerade ihre frisch erfundene Rolle als stolze Schürfer des neuen Lagers brachte.

    Der Bandit starrte sie beide nacheinander mit einem Blick an, der Glas schneiden konnte, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. Tsino machte sich jetzt erst recht Sorgen.

    „Ihr solltet mal eure Hackfressen sehen.“ der Bandit prustete sich bei ihrem Anblick geräuschvoll in den blauen Schal. Tsino gab sich noch mehr Blöße, indem er stammelte: „Also... sollen wir für dich nicht auf Überfall gehen?“

    „Ihr beiden?“ Die Frage reizte ihn noch mehr. So sehr, dass seine Stimme schrill wurde, bis sie im nächsten Lachanfall gipfelte. Endlich hatte er sich so weit im Griff wieder halbwegs vernünftig reden zu können: „Mit auf Überfall kommen nur die richtig Guten und solche Leute, auf die Verlass ist. Euch zwei Vögel kenn' ich nich' mal. Wie kommt ihr Deppen bloß auf die Idee, dass ihr fit für 'nen Überfall wärt?“ Aus dem Lachen kam er kaum noch heraus und seit er sein kleines Schauspiel abgelegt hatte, sprach er auch nicht mehr so überartikuliert. Eher so wie ihm vermutlich der Schnabel unter dem blauen Schal gewachsen war.

    „Ich habe euch nur verarscht. Jetzt verzieh nich' die Fressluke so dämlich. Der Job als Ladenwache hier is' scheißlangweilig. Da wirs' mir doch wohl den ein oder anderen Scherz gönnen.

    Tide ist drinnen, ich geb' ihm Bescheid, aber - “ und an dieser Stelle wurde seine Stimme wieder so schneidend ernst wie in dem Moment, als er sie begrüßte: „Tide allein entscheidet, ob ihr vorgelassen werdet oder nicht. Und ich rate euch, dass euer Anliegen besser wichtig ist.“

    Er liess ihnen nicht die Zeit für eine letzte Bemerkung, ehe er in den Laden schlüpfte. Gatorp und Tsino tauschten Blicke. In Gatorps Gesicht konnte Tsino in etwa das Unwohlsein ablesen, das ihm gerade selbst mit einer kalten Hand die Mageninnereien umrührte. Gatorps Blick glitt durch irgendetwas abgelenkt hinter Tsino. Möglichst ohne auffällige Lippenbewegung flüsterte er: „Dreh dich nicht um...“

    Doch Tsino fuhr sofort herum, so sehr hatte ihn gerade die Nervosität im Griff. Unterhalb der Terasse des Ladens ging ein goldblonder Bandit mit geschmeidigen Schritten vorbei. Er sah zufällig zu den beiden Buddlern hoch und grüßte sie im vorbei Gehen mit einem ausgelassenen Winken. Seine blendend weißen Zähne blitzten wie kleine Sternchen. Schaudernd wandte Tsino sich ab und murmelte zu Gatorp: „Danke für die Warnung...“

    Er hatte seinen Schauer noch nicht ganz nieder gekämpft, als der Bandit mit den goldenen Augen aus dem Schatten des Ladeninneren trat. „Könnt' rein.“, gab er in seiner flachen Art zurück und lehnte sich neben dem Eingang an die Wand. Tsino und Gatorp liessen sich nicht lange bitten und schlüpften neben ihm durch den Durchgang.

    Drinnen war es eng wie in einem Faß: Etwa die Breite, die die Tür hatte, war Platz zwischen der Wand und einer vorgeschobenen Ladentheke, hinter der wirklich nur Platz für einen Verkäufer wäre, wenn dieser den Bauch einzog und die Luft anhielt. Der Tresen selbst war leer, doch überall an den Wänden hingen Waffen und hinter dem Tresen waren ein paar Kisten gestapelt. In der Länge ragte er fast bis zur anderen Wand, wo es nur einen schmalen Abstand gab. Um diesen zu überwinden, mussten sie sich fast quer stellen, um hindurch schlüpfen zu können.

    „War hat nur... so einen Laden?“, ächzte Tsino, als er das eigentlich schlanke Hinterteil mühevoll am Tresen vorbei schob.

    „Ich.“, kam es aus der Nische, die sich in der letzten Ecke des Raumes ergab. Hier standen Fässer, waren Truhen gestapelt und auf ein paar Säcken, Fellen und einem eingerollten Teppich hatte es sich ein beeindruckender Bandit bequem gemacht, der sie mit einem kalten Blick maß, der dazu geeignet war Leute schrumpfen zu lassen: „Und wenn ich den Tonfall noch einmal von dir höre, dann kann dich dein Freund in Einzelteilen raustragen.“

    Pause auf dem Reisfeld

    Mit dem Exempel des Mannes am Boden wagten sie gar nicht lange zu widersprechen. Nur kurze Zeit später standen sie murrend mit den anderen Arbeitern im Schlamm und pflückten die Reispflanzen am Feld. Dazu hatte man ihnen Körbe ausgeteilt. Dem Beispiel der anderen Pflücker folgend, hatten sie sich Körbe für die Arbeit unter die Arme geklemmt. Mit den freien Händen untersuchten sie die mannshoch gewachsenen Stiele der Pflanzen und brachen die Büschel mit den reifen Kernen ab, sofern sie welche fanden. Die Arbeit war alles andere als angenehm, da sie weit bis über die Knöchel im Wasser standen. Wasser, das für die Reispflanzen angenehm war, nicht für die Menschen.

    Nicht selten kroch ihnen eine Fleischwanze über die Füße. Die kleinen Tiere zählten zwar nicht zu der aggressiven Sorte, die einen Menschen anfiel, biss und frass, waren dennoch als Krankheitserreger auf ihre eigene Weise gefährlich. Im Schlamm wühlten die Tiere nach Abfällen und suhlten sich in der Feuchtigkeit, als hätten sie Innos' Paradies unter der Barriere gefunden.

    Tsino und Gatorp waren nicht allein auf dem Feld. Mindestens ein dutzend abgerissene, entkräftete Männer standen an verschiedenen Stellen des Feldes, striffen zwischen den Reispflanzen umher und suchten nach reifen Kornbüscheln. Andere wurden mit mehr oder weniger Gewalt dazu angehalten den schlammigen Boden mit Werkzeugen zu lockern, Unkraut zu jäten, zu säen, Setzlinge zu pflanzen oder kompostierte Erde auszustreuen. Alles, damit die Pflanzen gut gediehen. Dass die dem Neuen Lager wichtiger waren, als die Leute, die sie pflegten, wurde durch die Behandlung nur allzu deutlich: Wer beim Ernten eine Pflanze mit Wurzeln ausriss und sei es nur versehentlich, der wurde mit fünf Hieben bestraft. Das hatte ihnen einer der Vorarbeiter beim Austeilen der Körbe eingeschärft. Selbst gesehen hatten sie die Bestrafung noch nicht.

    In der Nähe von Gatorp und Tsino arbeitete ein einzelner Mann, der einen Verband um den Oberkörper trug. Zuerst dachte Tsino die braunen Schmieren darauf seien Reisfeldschlamm, doch auf die Nähe erkannte er darin getrockentes Blut. „Na?“, versuchte er ins Gespräch mit ihm zu kommen und nickte auf dessen blutverschmierten Verband „Du hast die Hiebe der Reisfeldwachen zu spüren bekommen?“ Der Mann mit dem nussbraunen Haar schüttelte verneinend den Kopf. „Garde.“, machte er knapp, ohne sich von den Reispflanzen abzuwenden. Er hatte bereits eine gute Anzahl Reisbüschel in seinem Korb.

    „Hä?“, machte Tsino ebenso knapp und durchstöberte eher alibimäßig die dicken Büschel einer brusthoch gewachsenen Pflanze. Es folgte eine längere Pause, in der Tsino sich versucht sah nachzusetzen: „Das ist aber nicht hier passiert?“

    „Nein“, gab der andere zurück und köpfte ein weiteres Büschel von einer Pflanze. Mittlerweile war er aufgetaut genug, um seine einsilbigen Antworten auszubauen: „Im Alten Lager.“

    Tsino wertete es als ein gutes Zeichen, dass sie mittlerweile bei drei Wörtern pro Antwort angelangt waren und machte weiter, während seine Hand die Pflanzenbüschel durchstöberte. „Wie ist das passiert? Hast du dein Schutzerz nicht bezahlt?“

    „Doch.“, kam die Antwort diesmal fast sofort zurück. Der Mann schälte mit der Hand ein paar kleine, fasrige Blätter bei Seite und musterte den Reifegrad der begehrten Kerne.

    „Aber du wurdest trotzdem in einem der Viertel niedergeschlagen?“, hakte Tsino weiter nach und wechselte die Pflanze, um beschäftigt auszusehen.

    „Richtig!“, gab der Mann zur Antwort. Tsino hasste dieses kehlige Geräusch, das viel zu viele Leute aus unerfindlichen Gründen in Gesprächen machten, wenn es auch nur zur Hälfte passend war und damit eine flüssige Unterhaltung schnell in Einsilbigkeit austrocknen liessen. Seine Hände liessen von dem Büschel ab, als ihm grün verfärbte Kerne wie eine Reihe fauler Zahnstummel entgegen blitzten. Er untersuchte den Rest der Pflanze.

    Gedanklich rollte er über die Einsilbigkeit des Gespräches die Augen. Da er aber sowieso so schnell nicht vom Feld weg kam, konnte er genauso gut versuchen mehr aus dem Fremden heraus zu kitzeln: „Du hast also dein Schutzerz für das Lager bezahlt und bist trotzdem zusammen geschlagen worden?“ Als die Antwort auf sich warten liess, begann Tsino doch mehr Interesse an den Pflanzen als an dem Mann zu entwickeln. Leicht provozierend setzte er nach: „Wundert mich ja, dass die Garde grundlos einen Buddler zusammen schlägt.“

    Diesmal zeigte sich ein harter Zug um den Mund des Mannes. „In meiner ersten Woche hatte ich zehn Erzbrocken und drei Gardisten, die Schutzerz verlangten.“

    „Ach so. Jetzt ergibt sich langsam ein Bild.“

    „Von meinen ersten drei Brocken habe ich mir eine Schale Suppe gekauft.“

    „Pilze?“

    „Welche sonst. Den ersten Gardisten habe ich abblitzen lassen, weil ich nicht genug Erz hatte. Da zog er ein Schwert und verpasste mir den hier.“ Mit der Hand strich er sich über den blutigen Verband. Erneut trocknete das Gespräch aus, sodass sich Tsino bemüßigt fühlte es wieder mit ein paar eigenen Worten zu wässern: „Du bist wohl nicht lange dort geblieben?“

    Der Mann nickte grimmig. „Darauf kannst du dich verlassen. Nachdem ich wieder stehen konnte, habe ich das Lazarett verlassen – und das Lager.“ Hasserfüllt musterte er die Pflanzen vor sich.

    Tsino sagte nichts mehr, sondern erntete ein Büschel Reis. Er hatte oft genug Auseinandersetzungen mitbekommen. Dass jemand zusammengeschlagen wurde, der kein Schutzerz bezahlt hatte, war eine so alltägliche Geschichte wie die Minenkonvois. Ein paar Mal hatte es ihn auch selbst erwischt. Doch er hatte sich nie so wirklich klar gemacht, was mit denen geschah, die daraufhin verschwanden. ‚Hier habe ich die Antwort gefunden ohne danach zu fragen.’

    Verstohlen blickte er sich am Reisfeld um. Er sah in abgekämpfte Gesichter mit Augenringen. Dazwischen ein paar besser genährte Gestalten. Manche pflückten stumm und allein für sich, andere vertrieben sich die Arbeitszeit mit Gesprächen und gelegentlichen Faxen. Die Reisbauern – erkennbar an ihren weisblauen Hemden mit den grünen Westen und Reisfeldschlammdunklen Hosen und Schuhen - passten auf, dass sie keine Blasen an den Händen bekamen und die Pflücker dafür umso mehr. Arbeitsscheuer waren nur die Banditen, die meist um die Feuerstelle der Reisfeldhütte herum saßen oder so unbeweglich wie die Salzsäulen am obersten Feld standen und die Reisfeldebenen überblickten, als seien sie gar nicht da. Die Schläger am Reisfeld sahen aus wie die Arbeiter, nur dass sie nicht arbeiteten, sondern sich eher aufführten wie Banditen und allesamt bewaffnet waren. ‚Ob sie alle hier solche Geschichten erlebt hatten?’ Tsino nahm sich vor nachzufragen.

    Er wechselte die Reispflanzen und arbeitete wieder näher an Gatorp. „Ich werde mich hier mal ein wenig umhören.“, beschied er ihm.

    „Wenn du mich fragst, solltest du lieber keine Aufmerksamkeit erregen und viel herumfragen ist auffällig.“, riet ihm Gatorp, „Aber ich werde dich nicht aufhalten, wenn du in dein Verderben rennen willst.“ Er verpasste Tsino wie das Symbol einer Erlaubnis einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Erst als Tsino über seine Schulter linste, bemerkte er, dass der mittlerweile frech grinsende Gatorp ihm einen Abdruck Reisfeldschlamm auf das Schulterblatt geklopft hatte.

    Tsino klemmte sich den Korb unter den Arm und wechselte die Straßenseite. Fast sofort folgten ihm mehrere Augenpaare von Bauern und Schlägern, doch so lange er eine Reispflanze ansteuerte, passierte ihm nichts. Mit der Hand untersuchte er die Büschel an der Pflanze auf reife Kerne und ging dieser Arbeit so lange stumm nach, bis sich das Interesse an ihm allmählich verlor. Ab da konnte er wieder freier zwischen den Pflanzen umherstreifen.

    Er fing mit den meisten Arbeitern ein Gespräch an, doch nicht alle waren gesprächig. Selbst diejenigen, die in kleinen Gruppen pflückten, erwiesen sich oftmals stumm wie tote Fische. Auch mehrfache Ansprachen, ein gerissener Witz oder besonders ironischer Kommentar konnte sie zu keiner Antwort und zu keiner Reaktion reizen. Tsino versuchte es ein paar Mal, ehe er es aufgab aus solchen Leuten ein Gespräch heraus kitzeln zu wollen.

    Ein paar bestehenden Unterhaltungen lauschte er, doch es wurde nur alltäglicher Tratsch ausgetauscht. Die verschiedenen Namen, die fielen, sagten ihm ebenso wenig wie die wohl allgemeinen Begebenheiten, auf die angespielt wurden, sodass das gesamte Thema für ihn klang wie eine Fremdsprache. Dennoch versuchte er zu entziffern, was er gehört hatte:

    Irgendjemand hatte einem anderen wohl eine Waffe geschenkt, was den Inhaber des Waffenladens zur Weißglut trieb, der dem Arenaleiter – Neirobi oder so ähnlich – aber nichts anhaben konnte, weil der regelmäßig Schnaps abtrat an drei Personen, deren Namen Tsino überhaupt nichts sagten. Oder vielleicht waren es nur der Nachname, der Vorname und der Spitzname ein und derselben Person. So weit zumindest reichte das, was sich Tsino aus den mitgehörten Stellen zusammenreimen konnte. Wie jetzt aber die Personen aus dem Kreis der Lazarettangestellten, deren Namen häufiger ins Gespräch gemischt wurden, mit ins Bild passten, überstieg Tsinos Verständnis bei weitem. Andere Gesprächsfetzen, die er mithörte, lauteten in etwa: „Ich ging letzte Woche leer aus, weil Fimmel die Kiste nicht aufgefüllt hat.“

    Fast fühlte er sich in seine ersten Tage in der Kolonie zurück versetzt, als die Leute so selbstverständlich über Worte wie Schutzerz, Außenwelt, Schatten und Konvoi sprachen, ohne dass er wissen konnte, wovon sie redeten. Wie es aussah, musste er im Neuen Lager noch einmal ganz neu lernen sich zurecht zu finden.

    Die Geschichten indess waren dieselben geblieben: Die Leute fühlten sich im Alten Lager ungerecht behandelt und waren auf der Suche nach Alternativen abgehauen und dabei früher oder später den Banditen in die Arme gelaufen. Nur ein kleiner Teil war gewaltsam hierher verschleppt worden. Der Großteil hatte sich auf der Suche nach einem anderen Leben freiwillig hier niedergelassen.

    Mit all den Informationen ergab sich bei Tsino eine Erkenntnis: ‚Die Grausamkeit der Garde ist das beste Argument der Bande.’

    Alle arrangierten sich eher schlecht als recht mit den Arbeitsbedingungen am Feld. Für keinen war die Bezahlung in Erzbrocken ausreichend genug, um den eigenen Lebensstandard auszubauen. Viele nagten am Hungertuch, weil der Verdienst nicht einmal ausreichte, um satt zu werden. Mit Neid blickte man auf die Schürferkollegen, die in der Mine arbeiteten und an einem Arbeitstag das doppelte und dreifache an Erz zu deutlich besseren Bedingungen erhalten konnten. Als Tsino die Rationen dort (Bier und Schinken) beschrieben wurden, kam es in der aufgeheizten Stimmung fast zu einem Aufstand, den erst ein Schläger mit viel Gebrülle und ein paar drohenden Gesten der Waffe im Keim ersticken musste.

    Kurz vor der Mittagszeit löste sich einer der Reisbauern aus der Menge und ging ins Reisfeldlager, nur um kurz darauf mit einem Sack über der Schulter wieder zu erscheinen. In einem Kessel, der unter freien Himmel neben der Hütte stand, wärmte er Wasser, bis dicke Dampfschwaden aufstiegen und kippte dann den Inhalt des Sacks – Reiskörner, wie sich herausstelle – in den Kessel. Eine geschlagene Stunde stand er da und rührte mit einem Kochlöffel, der ihm von den Schultern bis auf den Boden des Kessels reichte, darin herum. Die Arbeit sah anstrengend aus, obwohl sie einfach war. Die Muskeln an den Oberarmen des Bauern schwollen bei jeder Umdrehung des Kochlöffels im Kessel sichtbar an. Da er mitten im Dampf stand, dauerte es nicht lange, bis seine Kleidung verklebt war und ihm die Nässe in dicken Tropfen wieder herunter rann. Hin und wieder hielt er inne und wischte sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Tsino wurde schlecht bei dem Gedanken, was da alles mit in den ausladenden Kessel tropfen konnte.

    Tsino war zu dieser Zeit nahe genug an der obersten Ebene, um mitzubekommen, wie der Reisfeldbauer irgendwann einen Banditen ansprach: „Rationen sind fertig.“ Keine Reaktion. Tsino dachte schon der Bandit schliefe mit offenen Augen, ehe die Antwort doch noch kam: „Lass ausrufen.“ Gehorsam trat der Reisfeldbauer ans Feld, füllte sich die Lungen mit Luft und brüllte so laut, dass man es bestimmt bis ans andere Ende des Neuen Lagers hörte: „Pause! Alle hoch an die Reisfeldhütte!“ Er wiederholte den Ruf ein paar Mal, um auch wirklich alle Arbeiter aus ihrer Trance zu reißen. Danach wandte er sich um und ging zum Kessel zurück, neben dem ein Stapel Holzschüsseln und Löffel warteten. Tsino sah sich um und wartete auf Gatorp, um mit ihm an die Feuerstelle zu trotten. Unterwegs sah er sich um. Obwohl der Ruf des Reisfeldbauern umissverständlich gewesen war, sah er immer noch einzelne Personen auf dem Feld arbeiten.

    Ohne recht zu wissen, was nun kommen würde, folgten die beiden einfach den restlichen Arbeitern. Wer sich auskannte, war schnell zu erkennen, da er mit traumwandlerischer Sicherheit zum Kessel hinüber spazierte und sich dort anstellte. Die meisten hatten ihre Körbe mitgebracht und hüteten sie wie einen Beutel Erz. Andere zogen eigene Schüsseln und Löffel hervor, um sie sich auffüllen zu lassen. Der Reisbauer füllte jedem eine Schale mit Reis ab, drückte ihnen ein paar Flaschen Wasser in die Hand und schickte sie dann weiter. Gatorp und Tsino liessen sich mit den anderen Arbeitern an der Feuerstelle nieder. Tsino fühlte sich leicht unwohl, da sich mit den Arbeitern nun auch alle Reisfeldbauern, Schläger und ein Teil der Banditen auf dem beengten Platz scharten. Vor allem wegen letzteren hatte Tsino seine Bedenken.

    Als habe Innos seine Gedanken gelesen und sich spontan dazu entschlossen ihm einen rechten Haken zu verpassen, wurde einer der dreckverschmierten Reisfeldpflücker auf sie aufmerksam: „Ach sieh an, zwei Buddler.“ Sofort schwangen Köpfe zu ihnen herüber und Blicke wurden wie Steine in ihre Richtung geworfen. „Schon wieder.“, murrte ein zerlumpter Pflücker in seine Reisschüssel, fand aber nicht den Mut ihnen das laut ins Gesicht zu sagen. Gerade als sich Spannung in der Luft zu bilden begann, setzte sich ein weiterer Pflücker mit einer frischen Schüssel Reis unter das Vordach. Er hatte die bisherigen Worte nicht mitbekommen und fragte einfach, ohne darauf zu achten jemanden zu unterbrechen, in die Runde:

    „Hat eigentlich einer von euch in letzter Zeit Gusto gesehen? Der war sonst immer hier am Feld und hat den ganzen Tag gepflückt. Guter Junge.“ Einer der Schläger lachte, als er sich an den Namen erinnerte: „Den musste man immer gewaltsam an seine Pause erinnern. Guter Mann.“ Ein anderer der dreckverschmierten Arbeiter wusste zu berichten: „Den habe ich neulich mit einer Hacke den Minenweg hochlatschen sehen.“ „Ach, ist der piekfeine Pimpel jetzt unter die Minenarbeiter gegangen?“, das war derjenige, der das Thema aufgebracht hatte. „So ein Verräter!“, war daraufhin der Tenor.

    Tsino bekam einen Eindruck davon, dass die unterste Bevölkerungsschicht des Neuen Lagers in „wir hier“ und „die da“ gespalten war, ohne dass er ein Gefühl für die eine oder die andere Gruppe erhalten konnte.

    Nach der Pause ging es genauso eintönig weiter wie am Vormittag.

    Das Schichtende fand viel später wie bei einer Minenschicht statt, nämlich nach Einbruch der Dämmerung. Die Reisfeldschläger begingen ihre erste nützliche Tat an diesem Tag und entzündeten die Fackeln, damit wenigstens etwas Licht herrschte. Doch trotz der hoch aufschlagenden Flammen war es kein Vergleich und noch weniger ein Ersatz für das bitter benötigte Sonnenlicht.

    Erst als es drohte zu dunkel zu werden, um auf dem Feld noch genug für die Arbeit sehen zu können, rief der Vorarbeiter nach erneuter Absprache mit dem Banditen das Schichtende aus. Die meisten Reispflücker waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu erledigt, um sich noch großartig darüber freuen zu können. Nach der Schicht trabten sie mit ihren prall gefüllten Körben alle brav auf das Warenlager zu und Tsino und Gatorp schlossen sich ihnen an.

    „Schuhe abtreten!“, maulte einer der Reisfeldschläger, „Sonst dürft ihr den Dreck, den ihr reintragt vom Boden lecken!“ Scheinbar aus purer Langeweile ging einer der muskelbepackten Schläger die Warteschlange ab und stieß sogar dem ein oder anderen grob gegen die Schulter, um ihm daraufhin ins Ohr zu schreien. „Du da. Sichel abgeben!“ Tsino senkte einfach den Kopf und tat, als sei er nicht da. Neben dem Eingang der Hütte stand ein Waffenfass verführerisch nahe. Dort hinterlegten die reicheren Pflücker vor Schichtbeginn ihre Waffen. Außerdem wurden dort die Leihsicheln ausgeteilt und wider eingesammelt. Das liess bei Tsino den Schluss zu, dass Waffen am Feld verboten waren.

    Es dauerte ewig, bis die Reihe voran schritt und als Tsino in das immens gut erhellte Innere des Reislagers trat, verstand er auch warum: Alle Pflücker waren dabei ihren Reis eifrig zu bündeln. Dazu hingen überall im Lager Schnüre von einer Machart aus, wie sie Tsino noch nie in der Kolonie gesehen hatte. Durch einen kurzen Blickwechsel und ein viel sagendes Nicken verständigte er sich mit Gatorp und sie quetschten sich zwischen die Pflücker, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Durch Blicke nach rechts und links schauten sie sich ab, was gemacht werden musste. Schnell hatte Tsino herausgefunden, dass immer eine bestimmte Anzahl von Pflanzen mit den Schnüren zusammengerafft werden musste und ging dieser Aufgabe genauso fleißig nach wie jeder andere Pflücker. Schon entstand Ordnung in dem mit Reisschlamm verschmierten Korb.

    Wer fertig war, trat auf den Reisbauern am hinteren Ende des Raumes zu und zeigte den Korb vor, der ihm mitsamt Inhalt dort abgenommen wurde. Der Reisbauer zählte die Menge an Reispflanzenbündeln durch und rief dann irgendeine Kombination von Namen und Zahlen quer durch den Raum, dass man es bestimmt bis über alle Ebenen des Reisfeldes schallen hörte. Als sei das ein geheimes Zeichen, stürzte die Person, die eben abgegeben hatte, mehr oder weniger eilig nach draußen.

    Tsino wartete, bis Gatorp fertig war, der mit filigranen Handarbeitern stets etwas schlechter zurecht kam wie mit den brutalen Schlägen einer Spitzhacke. Danach stellten sie sich in die Reihe vor den Reisbauern, der seiner Tätigkeit nachging. Kurz vor ihnen war einer der Pflücker, die Tsino am Feld belauscht hatte. Er gab sein Bündel ab und maulte: „Letzte Woche ging ich leer aus, weil Fimmel die Kiste nicht aufgefüllt hat.“

    Der Reisbauer lachte zur Antwort. „Immer der gute Fimmel... Ja, der hat die Erzkiste nie sonderlich gut im Blick. Du bist nicht der einzige, für den kein Lohn mehr übrig war.“ Er schüttelte mit gehobenen Mundwinkel den Kopf, verschnürte den Reissack und griff sich dann in eine Innentasche im grünen Wams. „Hier.“, sagte er, als er dem Pflücker ein paar lose Brocken reichte, „Und jetzt geh' zu den anderen und mach Pause.“ Der Pflücker nahm die Brocken in die Hand und wandte sich besänftigt ab.

    Als Gatorp an die Reihe kam, streckte er wie jeder andere den Korb vor, doch als der Reisbauer ihn greifen wollte, zog er ihn weg und grinste frech. Erst danach händigte er ihn anstandslos aus. Den Reisbauer schien der Scherz nicht zu stören, aber es heiterte ihn auch nicht auf. Stupide ging er seiner Arbeit nach und zählte die Bündel. Als er sie in einen Sack stopfte, brüllte er laut: „Rotbart - 3!“

    Tsino ging ein Licht auf, als ihm nun zumindest klar wurde, was die Namen bedeuteten. Nach Gatorp trat er vor und reichte seinen Korb. „Tsino.“, sagte er dabei. Es war genauso einfach wie in der Mine: Die Namen der Arbeiter wurden hier gebraucht. Doch der Reisbauer sah Tsino nur scheel an und, nachdem er mit dem Abzählen fertig war, rief laut: „Apfelfresse - 2!“ Danach interessierte er sich nicht mehr weiter für Tsino, sondern machte sich daran einen prall gefüllten Sack Reis zuzuschnüren.

    Feixend begleitete Gatorp Tsino "Apfelfresse" hinaus, wohin auch die anderen Pflücker verschwunden waren. Einen Großteil davon fanden sie jetzt wieder am Feuer sitzen und Reis mampfen. Gatorp und Tsino trödelten, da sie keine Ahnung hatten, was jetzt von ihnen erwartet wurde. In dem Versuch den Anschein eines Gespräches zu erwecken blieben sie kurz vor dem Reisfeldlager stehen.

    „Und? Wie fandest du es?“ – „Ganz nett.“ – „Wieder machen?“ – „Ach neee... Muss nicht sein. Bei dir?“ – „Mhm... ...Auch.“

    Während sie noch eine Unterhaltung vortäuschten, stürmte ein Pflücker an ihnen vorbei und an die Ecke des Hauses. Sie folgten ihm in gemächlichen Trott und noch ehe sie die Ecke erreicht hatten, kam er ihnen mit einer gefüllten Reisschüssel entgegen. So langsam wurde es Tsino klar, was hier gerade vor ging: Es sah schwer nach einer Essensausgabe nach der Schicht aus. Er war nicht schon früher darauf gekommen, weil in der Minte die Rationen immer in der Pause mitten in der Schicht und niemals danach, noch weniger davor verteilt wurden.

    Gatorp machte ein beeindrucktes Geräusch, als er dem Pflücker kurz hinterher sah. „Denen geht es vielleicht gut: Die essen hier zweimal am Tag.“ Sie bogen um die Ecke und fanden erneut einen Reisbauern am Topf stehen und darin Reis rühren. Gatorp trat grinsend auf ihn zu und meldete sich mit „Rotbart.“ Der Reisbauer warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, der eindeutig an dessen Haarfarbe hängen blieb. Wortlos händigte er Gatorp zwei gefüllte Schüsseln aus und schickte ihn mit einer genervten Handbewegung weiter. Offensichtlich hielten die Bauern nicht viel von Eintagspflückern.

    Aber Gatorp machte keine Anstalten sich zu bewegen und meckerte mit lauter Stimme: „He! Der Kerl im Lager hat drei ausgerufen. Warum fehlt da eine Schüßel?“ – „Die hattest du in der Mittagspause.“ Darauf wusste Gatorp nichts mehr zu erwidern. Hinter den beiden stellte sich ein weiterer Pflücker für die Essensausgabe an. Tsino rettete Gatorp aus der peinlichen Lage, indem er ihm einen gespielt harten Rippenstoß verpasste und schlecht geschauspielert sagte: „Beeil dich mal. Wir wollen auch was Essen.“. „He!“, blaffte Gatorp jetzt auch in Tsinos Richtung, war aber eher dankbar darüber, dass er sich jetzt keine gute Erwiderung für den Reisbauern einfallen lassen musste.

    Tsino trat vor, doch anstatt ihm eine gefüllte Essensschüssel zu erreichen, hielt der Bauer inne und grinste gemein: „Na so was, wen haben wir denn da? Apfelfresse! Wie schön, dass du auch da bist.“ Er meinte es überhaupt nicht schön. Er amüsierte sich köstlich bei dem Spitznamen. Tsino lief rot an. Der bittere Geschmack eines Apfels stieg ihm schon allein bei der Erwähnung in den Mund und das Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn beim Angriff durch den geschmeidigen Banditen überkommen hatte.

    Der Pflücker hinter Tsino wiederholte den Spitznamen wiehernd.

    Gedemütigt streckte Tsino die Hand aus: „Kann ich jetzt meine Ration haben?“

    „Ach eine Ration will der feine Herr auch noch? Darf es noch ein Fell sein, um deinen Buddlerarsch darauf zu betten? Verpiss dich!“

    Tsino blieb angespannt stehen und versuchte sich auszurechnen, ob man ihn hier nur auf die Probe stellte, oder ihm wirklich etwas zu Leide tun würde, wenn er jetzt auf seinem Standpunkt beharrte. Ein unerwarteter Stoß in den Rücken, der ihn fast kopfüber in den Reiskessel fallen liess, unterbrach ihn bei der Ergebnissuche.

    „Du hast ihn gehört.“, keifte die Stimme des Pflückers, der sich eben noch über seinen unfreiwilligen Spitznamen lustig gemacht hatte, „Verpiss dich!“

    „Arschkriecher.“, war das erste, das Tsino durch den Kopf ging, als er diesen Mann aus dem Effeff mit den Speichelleckerbuddlern im Alten Lager verglich, die andere Buddlerneulinge wortwörtlich aus den Betten warfen, nur weil ein Vorarbeiter einen dämlichen Witz in dieser Richtung machte.

    Dummerweise war es auch das Erste, das Tsino laut aussprach, als er sich mit drohenden Gesichtsausdruck umwandte.

    „Wie war das?“ Der Pflücker vor ihm war groß und blickte unverhohlen drohend auf ihn herab. Den Muskeln nach zu schließen entweder ein geübter Schürfer oder Kämpfer. Oder beides. Zwar zu Tsinos Glück im Augenblick noch nicht bewaffnet, doch das wurde ausgeglichen, als der Reisbauer den Kochlöffel im Kochkessel stecken lies und hinter sich griff, wo seine Feinwaffe an der Hüttenwand lehnte.

    Gatorp mischte sich mit rauher Stimme ein und fuhr den Pflücker an: „Du lässt ihn jetzt in Ruhe.“ Tsino schickte ein Dankgebet an Innos, dass sein Freund so zuverlässig war.

    „Sooonst?“, fragte der Kerl provokativ gedehnt nach. Man sah ihm an, dass er sich gegenüber Gatorp nicht so viel traute wie gegenüber dem deutlich schmaler gebauten Tsino. Gatorp war zwar nicht der größte Mann, doch durch die Minenarbeit und Kampfkurse stämmig. War erst einmal eine Waffe an seinem Gürtel, sah er nach einem ernst zu nehmenden Kontrahenten aus. Der Reisbauer zog mit einem schleifenden Geräusch seinen Degen aus dem Futteral.

    „Oder du bekommst es mit mir zu tun.“, knurrte Gatorp rauh und fasste eine seiner Reisschüsseln, als wolle er sie dem Kerl gleich ins Gesicht werfen. Tsino verlor keine Zeit und positionierte sich mit einem Seitwärtsschritt und einem schnellen Sprung nach hinten zwischen Gatorp und dem bewaffneten Reisbauern, um diesen im Notfall abzulenken. So behielt jeder von ihnen einen Gegner im Blick.

    Der Reisbauer lies die Degenspitze vorschnellen und stand schon in kampfbereiter Position. Von hinten schnappte eine Hand Gatorps erhobenes Handgelenk mit der Reisschüssel aus der Luft. Gatorps Kopf fuhr herum, nur um einem der Reisfeldschläger ins Gesicht zu blicken, der unbemerkt von hinten an ihn heran getreten war.

    „Was ist hier los?“, forderte der Reisfeldschläger zu wissen, der Gatorps Handgelenk fest im Griff hielt. Damit hatten sie nicht gerechnet und es hatte ihre Überlebensschancen gerade von „gut“ auf „niedrig“ fallen lassen.

    „Der Kerl hier will Ärger machen.“, bellte der Reisfeldbauer mit gezückten Degen zurück und lies offen, ob er damit Tsino oder Gatorp meinte. Der Pflücker bei ihnen stieß sich vorfreudig eine Faust in die flache Hand und der Reisfeldschläger musterte Gatorp kalt.

    „Was ist hier los?“, durchbrach ein zweites Mal dieselbe Frage die anbrechende Nacht. Doch diesmal von einer weichen, fast schon freundlichen Stimme gestellt. Alle Kampfbereiten wandten die Köpfe. Tsino erkannte auf Anhieb den ungeheuerlich geschmeidigen Banditen wieder und stöhnte gequält auf.

    „Die hier wollen Ärger machen.“, gaben fast gleichzeitig der Reisfeldbauer und der Reisfeldschläger zurück, aber beide in einem unterwürfigen Ton. Tsino konnte förmlich das Schlürfen hören, mit dem sie den Speichel des Banditen aufsogen.

    Der Bandit sondierte kurz mit kühlen Blicken die Situation, ehe er sich einmischte: „Das geht so nicht. Die beiden sind auf meine persönliche Einladung hier. Jacky – du gibst den beiden sofort je zwei Reisschüsseln-“

    Ausgerechnet der angesprochene Reisbauer machte den Fehler den Banditen zu unterbrechen: „Aber die Apfelfresse hat sich nur eine verd-“ Die Stimme des Banditen verlor nichts von ihrem freundlichen Tonfall, doch die Silben wurden sorgfältig betont, als er diesmal nachdrücklicher wiederholte: „Du gibst den beiden sofort je zwei Reisschüsseln!

    Du, Pflücker, wartest, bis du dran bist. Auf deinen Platz, Schläger.“ Nacheinander zeigte er mit ausgestreckten Finger auf die angesprochenen Leute, wobei er den Schläger zurückpfiff wie einen scharfen Wachhund an der Leine. Der liess widerwillig Gatorp los und trottete betont langsam an seinen Platz neben dem Waffenfass zurück, wo man ihn besonders angriffslustig einen anderen Pflücker anschnauzen hörte: „Gib die Sichel ab!“

    Nur mit widerwilligen Grummeln liess sich der Reisfeldbauer Jacky – falls das sein echter Name war und nicht einer dieser lächerlichen Spitznamen – dazu herab Tsino nun auch eine Ration zu geben. Der Bandit blieb nicht lange, sondern setzte seinen Weg fort. Scheinbar war er auf dem Weg irgendwohin und nur zufällig vorbei gekommen. Tsino schickte erst ein stummes Dankgebet an Innos und wunderte sich danach über sich selbst, dass er für das Auftauchen eines Banditen dankbar war.

    Ohne die Aufsicht des Banditen unterliess es Jacky noch weitere Reisschüsseln an Gatorp auszuteilen, doch der machte auch keine Anstalten darauf zu beharren. Nach der auffälligen Szene hielt es Tsino nicht für ratsam noch länger am Feld zu bleiben. Sie wagten nur so lange auszuruhen, wie sie benötigten, um den Reis aus ihren Schüsseln löffeln zu können. Danach stellten sie sie am nächstbesten Platz, wo sie gefunden werden konnten, ab und verliessen eher fluchtartig das Reisfeld.


    Wie eine überdimensionierte Kopie der Ebenen des Reisfeldes spannte sich eine Felswand hinter den zwei Gebäuden des Feldes entlang. Gatorp und Tsino fanden dort nur einen Weg und der führte neben der Reisfeldhütte steil einen Einschnitt zwischen den Felsen hinauf. Die Erde hier hatte eine Farbe wie Lehm. Nach einer scharfen Kurve standen sie unverhofft vor einem eigenwillig gebauten Tor und einer passenden Wache dazu. Etwas unsicher steuerten sie das Tor an. Die Torwache maß sie mit erfahrenem Blick, sprach sie aber nicht an und reagierte auch nicht, als sie um ihn herum gingen und passierten. Danach standen sie oberhalb des Reisfeldes und hatten plötzlich freie Sicht auf das, was vor ihnen lag:

    Der Weg, dem sie bis hierher gefolgt waren, schlängelte sich allen Hindernissen ausweichend erst um Felsen, dann einen gigantisch großen See, der von einem wunderschönen Wasserfall gespeißt wurde, einen Hügel hinauf und verlor sich irgendwo neben dem Wasserfall.

    Die rechte Wegseite wurde von einem See eingenommen, der linke Teil von einer Höhle. Diese war kein kleiner Tunnel mit dunklen Eingang. Es sah eher aus, als habe die Faust eines Riesen ein Loch von immensen Ausmaßen in die Flanke des Felsen geschlagen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Tsino, dass im Inneren der Höhle Hütten standen. Ob aus dem Fels heraus geschlagen, oder in den Fels hinein gebaut, vermochte er auf die Entfernung nicht zu sagen.

    Da sie sich hier nicht auskannten und ohne Hilfe nichts anderes tun konnten, als verloren in der Gegend herum zu stehen, entschlossen sie sich, die nächstbeste Person nach Tide Nap zu fragen.

    Ahoi, Reisfeld!

    Das berüchtigte Reisfeld war in mehreren Ebenen angelegt. Mittig hindurch verlief der wohl schmutzigste Feldweg, den Tsino je gesehen hatte.

    Am oberen Ende standen zwei Gebäude: Eines sah aus wie ein großer Lagerschuppen und hatte einen dazu passenden Eingang – groß wie ein Scheunentor. Daneben lehnte sich eine deutlich kleinere Hütte an. Wo die beiden unterschiedlich großen Gebäude eine Ecke bildeten, spannte sich eine Überdachung über eine offene Feuerstelle. Bänke standen in einem rechteckigen Winkel an den Gebäudewänden, wo auch Werkzeug aufgehängt war.

    Sie gingen gerade den Feldweg hoch, als ihnen eine Szene dort ins Auge stach:

    Über einem in zerlumpte Kleidung gehüllten Mann am Boden stand aufrecht ragend ein geschmeidiger Bandit. Tsino entwich ein Aufschrei, als er auf Anhieb den Kerl erkannte, der ihm bei einem Überfall einen Apfel in den Mund gestopft hatte. Ohne Maske sah man die goldblonde Mähne, die ihm beim leisesten Lufthauch um den Kopf wehte.

    Durch Tsinos Schrei aufmerksam geworden, sah sich suchend der Bandit um und erblickte nahezu sofort Gatorp und Tsino, dem die Beine zu zittern anfingen. „Lass uns weglaufen.“, keuchte er leise. Die Aufregung, die ihn schon bei ihrer letzten Begegnung mit dem Banditen ergriffen hatte, packte ihn erneut.

    „Dazu ist es jetzt zu spät.“, stellte Gatorp nüchtern fest. Doch anstatt drohend auf sie zuzugehen, sie zu beschimpfen oder sich bereit zu machen sie an Ort und Stelle aufzuschlitzen, tat der schlanke Bandit etwas sehr merkwürdiges: Er streckte den Arm empor und grüßte sie mit einem Winken. Tsino sah strahlend weiße Zähne aufblitzen, als der Bandit ihnen bei seiner Geste zulächelte, zu dessen Füßen der liegende Mann gerade versuchte wegzurobben. Dabei bewegte er sich so ungeschickt, als sei er verletzt.

    Tsino und Gatorp tauschten Blicke. Letzterer erfasste das Offensichtliche: „Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu ihm hinüber zu gehen.“

    Dass sie so schnell erkannt und auffallen würden, damit hätten sie selbst im schlimmsten Fall nicht gerechnet. Tsino für seinen Teil gab sein Bestes nicht so zu trotten, als ob er eben eine Schlacht verloren hätte. Gatorp wirkte etwas angriffslustig, wie er mit weit ausholenden Schritten energisch einher stapfte. Vermutlich seine Art die Unsicherheit zu überspielen. Sie kamen bei dem Banditen an, kurz nachdem sich der Mann am Boden neben seinem Peiniger bis auf die Knie aufgerichtet hatte. Tsino erkannte mit Unbehagen einen Apfel in dessen Mund stecken.

    Als sie den Banditen erreichten, hob dieser gerade in einer eleganten Bewegung ein Bein, setzte dem Mann die Schuhsohle auf die Brust und schleuderte ihn in einer geschmeidigen Bewegung zurück zu Boden. Danach drehte er sich zu Tsino und Gatorp um und grüßte sie so herzlich, als habe er alte Bekannte beim Einkaufen auf dem Markt getroffen:

    „Hallo! Das sind ja die beiden Buddler. Wie geht es euch? Keine Pflanzenfasern mehr an den Hackenköpfen?“ Er liess in einem weiteren Lächeln seine strahlend weißen Zähne sehen, für die ihn so manch ein Adliger sicher eigenhändig umgebracht hätte.

    Tsino war etwas betreten und nuschelte einsilbige Antworten: „Gut. Neh. Ha, ha.“

    Gatorp schien ebenfalls nicht recht zu wissen, was er von der offenen Art zu halten hatte. Reserviert verschränkte er die Arme und spannte die Muskeln an. Sein Blick ging einmal zu dem Mann am Boden, der hilflos zu dem Banditen aufsah, doch der hatte im Augenblick nur Augen für die Neuankömmlinge:

    „Seid ihr die Unterdrückung durch das Alte Lager nun auch endlich leid geworden? Eure beste Entscheidung euch auf den Weg zur freien Mine zu machen, wo die stolzen Schürfer an unserem Ausbruchsplan arbeiten. Hier könnt ihr Eurem Leben beim Kampf um die Freiheit einen neuen Sinn geben. Willkommen im Neuen Lager!“ Seine blauen Augen strahlten sie irritierend freundlich an.

    Tsino wusste nach wie vor nicht, was er von der Begrüßung halten sollte, die einerseits von der übertriebenen Herzlichkeit des Banditen begleitet war, andererseits von dem Anblick seines schäbigen Opfers. Tsinos Blick glitt erneut zu dem schmutzigen Mann, der mittlerweile versuchte sich möglichst unauffällig rückwärts wegzuschieben. ‚Wie ein Käfer am Boden.’

    Diesmal schien auch dem Banditen ihre Blickrichtung aufzufallen. Mit ungetrübten Lächeln meinte er: „Wartet einen Augenblick...“ und zu dem Mann am Boden: „Dreckiger Reispflücker. Zurück an die Arbeit.“ Seine Stimme verlor kaum ihren freundlichen Ton, als er den Mann eindeutig herrisch anpfiff.

    Der liess sich das nicht zweimal sagen. Eilig sprang er auf und rannte fluchtartig durch den Matsch des Reisfeldes. Tsino beobachtete ihn dabei, wie er zwischen den Reispflanzen in einer Haltung zu Boden ging, als wolle er sich übergeben. Er würgte erst einmal den Apfel aus.

    „Reispflücker.“ In dem Tonfall, in dem es der geschmeidige Bandit sagte, hätte er auch „Fleischwanze.“ sagen können. Begleitet wurde der blassierte Tonfall von einem beiläufigen Heben der Schultern.

    „Wo ihr schon einmal hier seid...“ Sein freundliches Lächeln verlor sich nicht, aber an der Art wie sich seine Worte dehnten, vermutete Tsino eine unausgesprochene Drohung. „...könnt ihr doch sicher mal kurz am Feld aushelfen?“ Strahlend weiße Zähne blitzten ihnen entgegen. Ein Lächeln war selbst unter der magischen Barriere noch immer die eleganteste Art jemandem die Zähne zu zeigen.

    Überfall

    „Da bleibt uns nur noch eines... Wir lassen uns überfallen.“

    Auf die Worte hin entstand eine ungläubige Pause in der Tsino den schockiertesten Gesichtsausdrug Gatorps zu Gesicht bekam, den er je an seinem Freund beobachtet hatte. Nachdem dieser sich vom ersten Schock erholt hatte, sagte er mit einer Stimme rauh wie Schmirgelpapier: „Das ist die dämlichste Idee, die ich jemals gehört habe.

    Deine Alpträume zersieben dir das Hirn! Wie stellst du dir das vor?“

    Als sei die Frage ernst gemeint, ratterte Tsino herunter: „Wir gehen ab sofort einfach häufiger in die Mine. Wenn wir auf dem Weg sowieso überfallen werden, dann haben wir unser Ziel erreicht. Werden wir nicht überfallen, dann schleppen wir eben unsere Ausbeute nach Hause und werden dabei versehentlich reich.“

    Gatorp schüttelte lahm den Kopf hin und her. Nachdem von ihm nichts mehr kam, setzte Tsino nach: „Hast du eine bessere Idee, oder bist du dabei?“

    wie der Zufall spielt

    „Das war ein absoluter Reinfall.“, seufzte Gatorp, als sie sich lange nach der Minenschicht über den Vorfall austauschten.

    „Ja.“, stimmte Tsino ihm zu, „Es kommt noch schlimmer: Dadurch, dass er nicht in den Protokollen auftaucht, kann es sein, dass er sich gar nicht als 'Tide Nap' vorstellt. Vielleicht kennt ihn nur Teto unter dem Namen und keiner sonst in der Kolonie.“

    „Du meinst, weil es sein Deckname ist, der ebenso geheim wie das Schatzversteck ist?“

    „Oder es ist umgekehrt sein wahrer Name und er stellt sich allen anderen Leuten mit einem Decknamen vor. Dann können wir seinen Namen sogar dutzendfach in den Protokollen gelesen und einfach nicht erkannt haben.“

    So langsam fühlte Tsino sich hoffnungslos.

    „Wenn es so wäre, müssten wir fast durch den Außenring rennen und laut 'Tide, Tide' rufen, bis der 'Hier' schreit. Es kann nur noch eine Möglichkeit geben, warum er in den Protokollen nicht auftaucht.“

    Tsino sah Gatorp hoffnungslos an: „Du meinst... tot?“

    Gatorp schüttelte den Kopf „Nicht mehr da.“

    „Tot.“

    „Na gut, zwei Möglichkeiten, warum er nicht mehr da ist: Tot oder umgezogen. Aber auf jeden Fall nicht mehr da.“

    Tsino brauchte einige Momente, bis ihm dämmerte, dass die Welt nicht unbedingt so schwarz sein musste, wie sie sich in seinem Kopf ausmalte. „Du meinst... Er könnte einfach in einem anderen Lager sein?“ Gatorp nickte.

    Tsino seufzte erleichtert und fragte erneut: „Wo fangen wir an mit suchen?“

    Diesmal hatte Gatorp eine Antwort parat: „Ich schlage vor, wir informieren uns mal über den Weg in den Sumpf. Falls sich Tide wie so mancher Esoteriker in die Bruderschaft zurückgezogen hat. Lass uns Rationen und ein paar Geschenke kaufen. Ich gehe heute in die Mine und schlage eine inoffizielle Schicht. Du fragst dich so lange durch das Lager durch und versuchst irgendetwas zu finden, das als Mitbringsel taugt.

    Danach machen wir die Spinner am Arsch der Welt gesprächig.“

    Tsino gab ihm einen anerkennenden Klaps gegen die Schulter. „So machen wir es.“ Sie suchten ihre Hütte auf, wo Gatorp seine Hacke und Rationen aufnahm und Tsino abgezählte Mengen an Erz in Beutel füllte, die er sich an den Gürtel hängte. Danach machte sich jeder auf den Weg seine Aufgabe zu erledigen.


    Auf der Suche nach Geschenken hielt Tsino Reldnähs Laden für eine gute Anlaufstelle. Ganz normal grüßte er die Leute, die ihm auf dem Weg dorthin begegneten und war wie jedes Mal erstaunt, was für seltsame Blicke sie ihm zuwarfen, wenn sie dachten er bemerke es nicht. ‚Daran werde ich mich nie gewöhnen.’

    Den Laden erreichte er ohne weitere Zwischenfälle und grüßte Reldnäh, der hinter seinem Tresen – ein zwischen einem Faß und zwei gestapelten Kisten aufgebocktes Brett – stand. Mit leutseeligen Lächeln erwiderte Reldnäh den Gruß. Auf die Entfernung wirkten seine Augen gar nicht so hart, wie Tsino sie in letzter Zeit zu sehen bekommen hatte.

    „Suchst du etwas Bestimmtes?“, fragte er, als Tsino begann sich im Laden umzusehen. Tsino wandte sich ihm mit einem versuchten Lächeln zu, als er antwortete: „Ja, ein paar Kleinigkeiten. Ein paar von den Glasflaschen vielleicht und ein, zwei Pfeifen. Oh und hast du noch Seife?"

    „Wie viel?“, fragte Reldnäh mit perfekt gerade gehaltenen Lächeln im Gesicht zurück.

    Tsino machte sich nicht die Mühe lange zu überlegen, ehe er spontan sagte: „Hast du noch ein halbes Dutzend auf Lager?“

    Zu seiner eigenen Überraschung sah er, dass Reldnähs Lächeln eisig wurde. Wie ein Dolch bohrte sich der harte Blick daraus hervor. „Tsino... Dir und Gatorp habe ich erst letzten Monat einen Vorrat Seifen und Kerzen verkauft. Normalerweise kommen Buddler nicht auf die Idee sich mit Seife einzudecken, geschweige denn sich überhaupt zu waschen. Noch nicht einmal die Gerber und die haben es, weis Adanos, nötig. Ich kann mir nur vorstellen, wohin das Zeug geht...“

    Reldnähs Blick durchborte Tsino mit einem Vorwurf, der diesem den Mund aufklappen lies. Gedanklich sah er sich schon mit Hehlerverdacht konfrontiert. Noch ehe er sich beherrschen konnte, schlug seine aus Schlafmangel gereizte Art durch. Er klappte den Mund wieder zu, wandte sich ebenso abrupt zur Tür und stapfte wortlos hinaus, noch ehe sich ein vernünftiges Gespräch entwickeln konnte.

    Tsino schnaubte frustriert. Während er sich hier herum ärgerte, machte Gatorp vermutlich die Zeit seines Lebens durch.


    Gatorp stand mit dem Rücken an den Baumstamm gepresst. Der Mann vor ihm hatte einen Sack mit ausgeschnittenen Augenlöchern über den Kopf gezogen und war so nahe,

    dass Gatorp durch die Löcher sein eigenes, erschrocken drein blickendes Spiegelbild in den Augen des Banditen sehen konnte.

    „Dein Erz!“, knurrte unter dem Sack eine unfreundliche Stimme. Gatorp öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort hervor. Das Sackgesicht presste ihm mit beiden Händen die Schultern so fest gegen die rauhe Borke, dass Gatorp den Griff seiner Spitzhake auf seinen Wirbelsäulenknochen knirschen spürte.

    Einer der Helfer des Sackgesichtes kam eilfertig herbei gesprungen. Mit flinken Fingern untersuchte er die Gegenstände an Gatorps Gürtel und zog die Beutel auf. Ein Beutel mit Erz – eingeschoben. Eine Wasserflasche? Uninteressant. Die kleine Krautpackung – ebenfalls weg. Ein Rationsbeutel? Nachdem darin Außenweltwaren zum Vorschein kamen, wurde auch der genommen. Gatorp fürchtete bereits um das Messer, das er am Gürtel trug, als unweit eine Stimme rief: „Tide! Garde!“

    Sofort wurden der Mann, der Gatorp gegen den Stamm presste und sein Gehilfe, der die Beutel in der Hand hielt, hellhörig. Gatorp riss aus einem anderen Grund die Augen auf. Hatte man den Mann vor ihm gerade wirklich Tide gerufen?

    Der stiess Gatorp mit einem Mal zu Boden, machte kehrt und rannte, seinen Helfer hart an den Hacken. Gatorp hob das Gesicht aus dem Dreck und starrte ihm hinterher in dem verzweifelten Versuch sich so viel von dessen Gestalt einzuprägen wie möglich. Von hinten betrachtet war von ihm nicht viel zu erkennen, zumal er einen Sack auf dem Kopf hatte. Die Schultern waren breit... oder sollte man sie besser als stämmig beschreiben? Gatorp drückte sich auf die Ellenbogen hoch in der Hoffnung besser sehen zu können, doch da hatte der Wald bereits die Leute verschluckt.

    Gatorp blieb wie betäubt zurück. Tide... war also ein Bandit.

    zu Protokoll

    „Nach allem, was wir über Tide Nap wissen, könnte er ein Buddler sein.“, fing Tsino erneut an, „Und wo findet man Buddler für gewöhnlich?“

    Die einstimmige Antwort lies nicht lange auf sich warten: „In der Mine!“

    „Wir könnten in die Mine gehen und alle Anwesenden fragen, ob sie Tide Nap sind, oder ihn gesehen haben.“, schlug Gatorp mit einer Stimme vor, der man eine leichte Aufregung anmerkte. Endlich fühlte es sich so an, als haben sie einen Strohhalm gefunden, nach dem sie greifen konnten.

    Tsino widersprach ihm mit Kopfschütteln: „Und wenn einer zu dem Zeitpunkt in einer der Ruhehütten ist, um zu schlafen, oder am Fluß, um sich zu waschen?“

    „Dann hätten wir ihn fast verpasst.“ Gatorp kraulte den rotblonden Bart an seinem Kinn, als er nachdachte. Tsino meinte müde: „Wir brauchen eine Möglichkeit festzustellen, wer in den Minenschichten war...“

    Gatorp zeigte einen Gesichtausdruck, als ginge ihm bei der Formulierung ein Licht auf: „Die Vorarbeiter.“

    „Vergiss es.“, meinte Tsino begriffstutzig. Er schüttelte den Kopf einerseits um zu widersprechen, andererseits, um die Müdigkeit abzuschütteln. „Die kennen wir alle mit Rang und Namen und keiner von denen heißt Tide Nap.“

    „Das meinte ich nicht.“, meinte Gatorp und fuhr gleich fort, ohne sich unterbrechen zu lassen: „Die Vorarbeiter führen Protokoll über jede geschlagene Schicht. Sie schreiben sogar die Namen der Anwesenden auf.“

    „Du meinst...“ in Tsinos Augen leuchtete es auf, als er Gatorps Gedankengang aufnahm, weiter dachte und aussprach: „Wenn wir die Protokolle einsehen dürften...“

    Gatorp beendete den Satz für ihn: „...dann finden wir Tide Nap.“

    Grinsend fügt Gatorp hinzu: „Das liefert uns sogar eine Beschreibung von ihm auf dem Silbertablett.“

    „Aber wie kommen wir jetzt an diese Protokolle?“, rätselte Tsino laut, der sich in seinem angeschlagenen Zustand daran gewöhnte Gatorp das Denken zu überlassen, „Kennst du vielleicht einen der Vorarbeiter so gut, dass er uns einen Blick in die Protokolle werfen lässt?“

    Gatorp antwortete: „Ich kenne Retiebrarov recht gut.“

    Tsino fragte weiter: „Gibt es irgendein Getränk, das er besonders mag?“

    Gatorp brummte nachdenklich, ehe er zu Antwort gab: „Nun ja... Bier eben. Deswegen hat er davon auch immer einen Vorrat. Ich glaube der hat mindestens einen Kasten in der Mine stehen und ein Regal voll in seiner Hütte.“

    „Sollen wir ihm trotzdem eines vorbei bringen?“ Tsino stellte den Vorschlag zwar als Frage, doch für ihn stand längst fest, was sie tun würden und klang entsprechend zuversichtlich. Dennoch blieb Gatorp zurückhaltend, als er sagte: „Versuchen können wir es ja. Aber ich warne dich: Er ist nicht so der gesellschaftliche Typ.“


    Sie versuchten ihr Glück. So lange es nicht gerade zur Mine ging, war dieser Vorarbeiter schwer zu finden, wie sich heraus stellte. Eher zufällig trafen sie ihn wie er in brütender Mittagshitze sinnlos im Lager herum gammelte. Er saß auf den Bänken oberhalb der Arena.

    „Oh, hi Retty.“, grüßte Tsino ihn bei dem Spitznamen, mit dem man ihm allgemein im Lager rief und gebärdete sich, als seien sie nur zufällig auf ihn getroffen und nicht, als ob sie ihn seit geschlagenen Stunden im Lager suchten. Locker hob er eine Hand zum Gruß und kam mit Gatorp zu ihm hinüber. „Was machst denn du hier?“

    Mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln wartete Tsino auf eine Antwort, doch es kam keine. Schon schmolz ihm der Gesichtsausdruck und er fragte sich, was los sei, als der Angesprochene endlich mit einem Brummen aufblickte. „Hrm?“

    „Was du hier machst?“, fragte Tsino noch einmal und zauberte sich schnell wieder das Lächeln ins Gesicht.

    „Ich warte...“, setzte Retiebrarov an.

    „Oh, wirklich?“, machte Tsino und fuhr um ein entspanntes Gespräch bemüht fort: „Auf wen wartest du de-“

    „...auf den Minenkonvoi.“

    Es war in dem Moment, in dem Retiebrarov Tsino ins Wort fiel, als dieser realisierte, dass der andere keineswegs genervt, kurz angebunden oder wortkarg war. Er war einfach nur auf seine eigene Weise langsam. Während dieser Erkenntnis blieb Tsinos Mund offen stehen.

    Gatorp amüsierte sich im Stillen. Rasch fing Tsino sein heruntergefallenes Lächeln wieder auf, mit dem er Retiebrarov kurz anglühte, ehe er sich leise flüsternd an Gatorp wandte: „Was ist denn mit dem los?“

    Gatorp flüsterte ebenso leise zurück: „Ich habe dir gesagt, dass er nicht so der gesellschaftliche Typ ist.“

    „Ja... aber was soll das heißen?“

    Erneut wurde Tsino durch ein gebrummtes Geräusch von Retiebrarov unterbrochen. „Was ist?“, fragte der Vorarbeiter lahm und sah zu ihnen herüber. Rasch klebte sich Tsino ein Lächeln voll Sonnenschein ins Gesicht und wandte sich Retiebrarov wieder zu: „Nichts. Wir haben gerade nur beratschlagt, ob du ein Bier brauchst? Du siehst bei dem trockenen Wetter heute ganz schön durstig aus! Paladiner ist dir doch hoffentlich recht?“

    Damit war Tsino anscheinend erneut zu schnell für Retiebrarov, denn dieser starrte ihn mehrere Sekunden lang an, ehe er zurück gab: „Ja... ist heiß heute.“

    Ratlos warf Tsino einen Blick zu Gatorp. Der holte souverän das frisch gezapfte Paladiner hinter dem Rücken hervor und streckte es in einer Bewegung zu Retiebrarov aus, als wolle er es zu diesem hinüber werfen. Allerdings beliess er es bei der Geste, behielt den Humpen doch in der Hand und ging auf Retiebrarov zu.

    Normalerweise zuckten die Leute bei diesem Scherz in der Annahme zusammen, dass sie gleich etwas fangen mussten, doch bei Retiebrarov blieb der Reflex aus. Dieser beäugte erst das Bier einige Sekunden und streckte dann erst die Hände langsam danach aus.

    Tsino begann sich langsam das Hirn zu martern, was mit dem Mann eigentlich los war. Er folgte Gatorp, der sich auf Retiebrarovs eine Seite setzte und ihm dabei das Bier wortwörtlich in die aufnahmebereiten, offenen Hände drückte. Los lies er erst, als er sich sicher war, dass der andere fest genug zupackte, um den vollen Humpen nicht gleich wieder fallen zu lassen. Tsino liess sich auf Retiebrarovs anderer Seite sinken, so dass sie ihn nun in der Zange zwischen sich hatten. Teil des Plans.

    Tsino war noch nie in die Verlegenheit gekommen sich in einer von Retiebrarovs Schichten eine Hacke lehen zu müssen, daher konnte er auch nicht sagen, wie es dort ablief. Mittlerweile rätselte er darüber, ob Retiebrarov eine Behinderung hatte oder ob er sich absichtlich verstellte.

    Entgegen ihrer üblichen Taktik, bei denen in Gesprächen meistens Tsino die Vorhut bildete und in die Defensive des Gegenübers preschte, damit Gatorp in der Zeit des Scharmützels zu ein paar wohl platzierten Hammerschlägen ausholen konnte, die das Wortgefecht meist zu ihren Gunsten entschieden, verlegte sich Tsino diesmal spontan auf das Beobachten und überliess Gatorp das Reden.

    Der schien mit dem Minenarbeiter gut zu können und plauderte über zwei bis drei Belanglosigkeiten, während der andere mit Augen und Mund das Bier untersuchte. „Das war ordentlich, was Shadow im letzten Arenakampf hingelegt hatte.“, war das erste Thema, das Gatorp Retiebrarov gegenüber anschnitt, „Einfach so einen frischen Rekruten herauszufordern. Als ich hätte mich das ja nicht getraut. Der Rekrut war zwar Frischfleisch, aber das ganze Lager wusste, dass er schon seit zwei Monaten Dauertraining bei einem der Stahlplattengardisten nahm.“

    Retiebrarov ließ nicht erkennen, ob er Gatorp überhaupt zuhörte, oder nicht doch mehr Interesse am Bier nahm. Das hob er in einer langsamen Bewegung an und schlürfte etwas an der Schaumkrone, ehe er es ohne besondere Regung wieder absetzte. Es geschah mit der Langsamkeit eines Genießers, doch für einen Genießer war Retiebrarovs Gesicht viel zu ausdruckslos.

    „Das war ganz schön ordentlich, was dieser Buddler letztens in der Mine vorgelegt hatte.“, machte Gatorp weiter. Offensichtlich brauchte es alltägliche Themen, um warm werden zu können. „Das Loch, das er in die Wand gehackt hat, habe ich mir später noch einmal angesehen. Bin gegen Schichtende hin um zu sehen, ob es noch etwas zu holen gibt, nachdem der da drauf getrümmert hatte. Blanko. Ein paar blaue Flecken gab es noch. Aber ansonsten hat der alles rausgehauen aus dem Felsen, was jemals drin war.“

    Tsino fiel bei seinen Beobachtungen auf, dass Gatorp mit besonderem Nachdruck zu Retiebrarov sprach und seine Aussagen nie mit einer Frage - und sei es auch nur eine rhetorische - abschloß. ‚Ob Retty einfach denkfaul ist?’, fragte sich Tsino. Hin und wieder kam vom Vorarbeiter ein Brummen. Er schien also gedanklich irgendwie beizuwohnen – wenn auch in seinem eigenen Tempo.

    „Du sag mal, Retty...“, setzte Gatorp jetzt an und wartete so lange, bis sich Retiebrarovs Kopf in seine Richtung bewegte, um ihn unter schweren Lidern anzusehen. „Ich bin auf der Suche nach einem alten Freund, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Der kommt bestimmt regelmäßig zur Minenschicht.“ Er lies einen Augenblick vergehen, den Tsino für eine viel zu auffällige Pause hielt, ehe er den Hammer folgen lies: „Kannst du für mich mal in den Minenprotokollen nachlesen, ob sein Name da auftaucht?“

    Tsino war bis unter die Haarspitzen gespannt, wie Retiebrarovs Reaktion ausfiele. Ob er ihnen gleich die Hölle dafür heiß machen, würde, da sie Unterlagen einsehen wollten, die sie nichts angingen? Oder würde er sie einfach nur lachend abblitzen lassen? Außerdem gingen sie das Risiko ein, dass der Vorarbeiter sie ohne Umschweife beim Minenverwalter anzeigte. Dann wäre ihnen Ärger garantiert.

    Es vergingen einige Sekunden, ehe Retiebrarov lahm meinte: „Die Protokolle liegen in der Burg.“

    „Was?“, schoss es aus Tsino hervor, „Was machen die denn da?“

    Gatorp machte eine beschwichtigende Geste in seine Richtung, doch Retiebrarov wandte Tsino mit der Geschwindigkeit einer Schnecke auf Reisen den Kopf zu: „Die Protokolle werden in der Mine geschrieben...“, setzte er so langsam an, dass Tsino zuerst meinte er liesse den Satz absichtlich offen und deswegen seinerseits zu reden begann: „Das weis ich. Immerhin sehe ich in jeder Schicht wie-“

    „...vom Minentleiter geprüft...“, sprach Retiebrarov weiter und Tsino realisierte erst dadurch, dass er ihm erneut ins Wort gefallen war. Ungeduldig wartete er ab, bis auch der Rest des Satzes folgte.

    „...und dann an den zuständigen Gardisten weiter geleitet.“ Tsino sah Gatorp mit einem Blick an, der wortlos „Und jetzt?“ ausdrückte. Als auch von dieser Seite keine Reaktion kam, fragte er an Retiebrarov gewandt: „Aber ihr behaltet doch bestimmt Kopien?“

    Der genehmigte sich einen tiefen Schluck von seinem Bier, der unendlich lange zu dauern schien. „Mh... Ja.“, meinte der schließlich.

    Tsino ließ die Hand auffordernd in der Luft rotieren, bis ihn Gatorp warnend ansah. Daraufhin lies er die Hand wieder sinken und fasste noch einmal nach, als nichts mehr kam: „Zeigst du uns die?“

    Er konnte sein Glück kaum fassen, als Retiebrarov mit einem zustimmend gebrummten „Mhm.“ antwortete. Gespannt blieb er sitzen, doch Retiebrarov hatte die Ruhe weg und rührte sich nicht einmal mehr, um einen Schluck von dem Bier zu nehmen. Es kam ihm vor wie eine verstrichene Ewigkeit, ehe sich Tsino genötigt fühlte nachzusetzen: „...Jetzt?“

    Es blieb ihm genügend Zeit seine eigenen Herzschläge zu zählen, ehe Retiebrarov „Morgen“ antwortete.

    „Morgen?“, wiederholte Tsino, „Warum denn erst morgen?“ Schon dachte er Retiebrarov verärgert zu haben, weil dieser nicht mehr antwortete, doch schließlich kam von ihm lahm: „Weil ich morgen Schicht habe.“

    Der Grund leuchtete Tsino ein, obwohl er am liebsten laut und frustriert aufgestöhnt hätte. „Schon verstanden. Wir sehen uns dann morgen zur Schicht, Retty. Mach's gut!“ Er sprang auf und konnte es kaum erwarten zu gehen. Das Gespräch mit Retiebrarov verwirrte ihn einfach zu sehr. Vielleicht war er auch damit zu schnell gewesen. Dennoch kam Gatorp ihm nach wenigen Schritten hinterher.

    „Was ist denn bloß mit dem los?“, machte Tsino seiner Verwirrung laut Luft.

    „Das macht der Alkohol.“, gab Gatorp zurück.

    „Der Alkohol?“

    „Ja... Siehst du, Retty hat schon so viel getrunken.. Ohne seinen Alkohol ist er... ein wenig merkwürdig.“

    „Du meinst, weil es drei Sekunden dauert, bis er antwortet?“

    „Genau und im nüchternen Zustand zittern ihm die Hände.“

    Doch das hielt sie nicht ab anderntags zum Minenkonvoi mit in die Mine zu gehen. Während die Leihhacken ausgegeben wurden, trödelten sie herum. Tsino hatte sich mit einem weiteren Bier bewaffnet. Nachdem die letzte Hacke verteilt war, nahm sich auch Retiebrarov eine Hacke auf die Schulter und wollte eben den anderen Arbeitern zu den Adern folgen. Doch als er um den Stand herum ging, erwarteten ihn dort bereits Gatorp und Tsino.

    Der eine mit einem Bier, der andere mit einem leutseligen Lächeln. „Hi, Retty. Wir haben dir wie versprochen Bier mitgebracht. Können wir...“

    „Was macht ihr denn noch hier oben?“ Reldnähs Stimme kam wie aus dem Nichts. Schuldbewußt sah Tsino zu Gatorp, der Reldnäh betont gelassen mit einem Nicken grüßte. „Wir wollten gerade Hacken gehen.“, gab Retiebrarov langsam den letzten Gedanken zum Besten, der sich in seinem Hirn festgesetzt hatte. Glücklicherweise stammte der noch aus dem Moment vor Gatorps und Tsinos Überfall und rettete ihnen jetzt unerwartet den Kragen.

    Reldnähs aufmerksamer Blick musterte sie alle drei der Reihe nach, während ein Lächeln seine Miene entschärfte. „Dann auf jetzt.“ Reldnähs Stimme klang nicht unfreundlich, dennoch fühlte sich Tsino unwohl. Es war einer jener Blicke mit denen er immer zu viel sah. Rasch wandte er sich ab und zu viert – den Schatten auf den Fersen – gingen sie zu den Adern hinunter.

    Beim Hacken vermied Tsino es sich umzudrehen, doch er hätte schwören können, dass ihn Reldnähs schneidender Blick weiterhin beobachtete. Zumindest kitzelte ihm den ganzen Vormittag über etwas unangenehm im Nacken.

    Kurz vor der Pause löste sich Retiebrarov, der Dienst habende Vorarbeiter, aus der Buddlerschicht und marschierte zum Stand hinauf. Tsino löste sich ebenfalls und schlich sich möglichst unauffällig davon. Das Bier an seinem Gürtel war mittlerweile nicht mehr sonderlich gut durchgekühlt.

    Doch noch ehe er den Stand erreichte, trat ihm Reldnäh in den Weg. „Wo wollen wir denn hin?“, hielt ihn Reldnäh auf. ‚Das war ja klar, dass er mich nicht aus den Augen gelassen hat.’ Tsino sah schuldbewußt zu Reldnäh.

    Im ersten Moment entschied er sich für die Wahrheit: „Zu Retty.“

    Ehe er eine faustdicke Lüge hinterher setzte: „Um ihm bei den Rationen zu helfen.“

    Reldnäh lächelte freundlich und musterte ihn gleichzeitig schneidend. Tsino fragt sich ernsthaft, ob er Gedanken lesen konnte, oder ob er sich den wissenden Zug in seiner Miene nur einbildete.

    Unter dem Blick nachgebend murmelte Tsino kaum verständlich: „Ich gehe wieder zurück zu...“

    „Na dann ab zu Retty mit dir.“, meinte Reldnäh plötzlich, ihm ins Wort fallend.

    Tsino machte erleichtert auf dem Absatz kehrt und rannte fast zum Stand hinauf.

    Das Bier bot er Retiebrarov am Stand an, der gerade dabei war Brote für die Rationen zu halbieren und großzügig mit Fett zu beschmieren, ehe er sie mit Wurst, Käse und Zwiebelringen belegte. Es zeigte sich, dass Retiebrarov in Gesprächen zwar langsam, sein Gedächtnis aber besser als das des durchschnittlichen Buddlers war, denn als er das Bier sah verstrichen die üblichen drei Sekunden, ehe sich Retiebrarovs Reaktion anbahnte. Diesmal indem er sagte: „Du hast mir bereits gestern ein Bier vorbei gebracht.“ Tsino trat von einem Fuß auf den anderen, unschlüssig, was er darauf antworten sollte. Das gab Retiebrarov genug Gelegenheit seinen Satz zu beenden: „Zusammen mit Gatorp.“

    „Ja...“, machte Tsino gedehnt. Er fasste sich ein Herz und versuchte es gerade heraus: „Zeigst du mir die Protokolle?“ Er wartete Retiebrarovs Reaktion ab, die erneut um ein paar Sekunden verzögert kam. Diesmal nickte er zu einem Tisch. Tsino sah dorthin und erst jetzt fiel ihm der dicke Papierstapel dort auf. „Sind das die Protokolle?“ Ihm sanken die Schultern. „Wie soll ich so viel Papier auf einmal abarbeiten? Das dauert ja ewig.“ Zu spät realisierte er, dass er mit dieser Fülle an Aussagen einmal mehr zu schnell für Retiebrarov war.

    Während der Vorarbeiter noch dabei war gedanklich die gehörten Sätze zu sortieren, machte sich Tsino daran den Stapel durchzusehen. Die ersten paar Seiten war er fasziniert von dem, was er da las. „Ja, das sind die Protokolle.“, kam in seinem Rücken die Antwort von Retiebrarov.

    Tsino achtete nicht auf ihn und untersuchte, was er da nun eigentlich vor sich hatte. Jedes Protokoll bestand aus einem Blatt. Nur selten wurden die Minenschichten so umfangreich besucht, dass auch die Rückseite beschrieben wurde, oder gar ein weiteres Blatt beschrieben werden musste. Auf jedem Blatt erkannte er in der oberen rechten Ecke ein Datum.

    Ein Titel fehlte auf den Blättern. Es war einfach zu selbsterklärend, dass es sich um das Protokoll einer Minenschicht handelte. Dafür war immer irgendwo auf dem Protokoll der Name des zuständigen Vorarbeiters eingetragen und sei es nur als Unterschrift.

    Das Blatt selbst teilte sich in fünf Spalten auf. Tsinos Zahnrädchen im Oberstübchen ratterten, während er versuchte den Sinn der geschriebenen Worte und Zahlen zu verstehen. „Sind schon viele Protokolle.“, stimmte Retiebrarov in der Nähe zu. Auch er war wohl noch im Kopf schwer beschäftigt.

    Tsino konzentrierte sich auf die Spalten. Die erste war der Name, die zweite Spalte war im aktuellen Protokoll im Augenblick leer und trug eine unleserliche Überschrift. Alle anderen Protokolle hatten dort eine dreistellige Zahl eingetragen. Da ging Tsino auf, dass es sich hierbei um die Menge der erschürften Klumpen handeln musste. Aus reiner Neugier überflog er die Spalte auf einem Protokoll.

    ‚365, 783, 219, 616... Das liest sich, als hätten die Vorarbeiter bis auf den letzten Erzklumpen durchgezählt.’ Und am Fuß der Spalte stand eine vielfach größere Zahl, die Tsino für die Summe hielt. ‚Darum brauchen die Vorarbeiter immer so lange, um nach der Schicht aus der Mine zu kommen. Und ich dachte immer, das sei, weil sie die Rationen und die Hacken aufräumen müssen.’

    Die dritte Spalte war wieder offensichtlicher. Es war die breiteste Spalte und mit viel handschriftlichen Text gefüllt. Es handelte sich um die Beschreibungen der Personen. Spaßeshalber las Tsino ein paar Zeilen auf einem zufälligen Blatt durch und lachte ungewollt auf.

    „Hmr?“, brummte Retiebrarov. Tsino klärte ihn auf, indem er vom Blatt vorlas: „Blond, 1,76 groß, Beutel am Gürtel...“ Tsino sah zu Retiebrarov und schnippte mit den Fingern gegen das betreffende Protokoll. „Wer schreibt denn bitteschön 'Beutel am Gürtel’? Es ist normal, dass die Leute so etwas am Gürtel haben.“ So schnell wie Tsino sprach, kam von Retiebrarov keine Reaktion. Deswegen kümmerte Tsino sich nicht weiter um den Vorarbeiter, der nach wie vor die Rationen vorbereitete und überflog das Blatt bis zum Ende der Seite, wo er die Unterschrift des Vorarbeiters, der für dieses Protokollblatt verantwortlich war, entzifferte. ‚Natürlich.’ Als er den Namen dort las, rollte er mit den Augen und fügte in Gedanken hinzu: ‚Arschkriecher.’

    Er studierte weiter die Protokolle. Die letzte Spalte war nicht selbsterklärend, doch durch seine unzähligen Minenschichten wusste er, was die schmale Spalte bedeutete. Es war der Vermerk, ob eine Leihhacke an diese Person ausgegeben worden war. Natürlich war sie zumeist leer. Nur in Ausnahmefällen waren dort zwei Symbole eingetragen. ‚Zwei Symbole... Warum zwei Symbole?’ Er musste eine Weile rätseln, ehe es ihm aufging: Das erste Symbol zeigte, ob eine Leihhake ausgegeben worden war. Das zweite Symbol zeigte an, ob sie auch zurück gegeben worden war. Die Mine kämpfte mit gestohlenen Werkzeugen. Auf den meisten Blättern war diese Spalte ohne Überschrift. Auf ein paar anderen Blättern war mit zwei Strichen ein Symbol angedeutet, das sich mühelos als Hacke interpretieren liess.

    Während er in dem Stapel blätterte fiel ihm etwas an dem Datum auf, das immer in derselben Ecke der Blätter eingetragen war: Interessanterweise stimmte die Schreibweise der Zahlen nur selten mit der Handschrift der Protokolle überein.

    „Du Retty...“ Tsino sah nicht auf und wartete so lange ab, bis von Retiebrarov ein gebrummtes „Hm?“ kam. Das Signal, dass er auf Empfang stand.

    „Warum ist das Datum in einer anderen Handschrift geschrieben wie der Rest des Protokolls?“ Tsino hatte die etwas verschachtelte Frage flüßig herunter gesprochen. Wahrscheinlich dauerte es deswegen noch länger wie gewöhnlich, bis Retiebrarov den Satz auseinander gebaut, in seinen Einzelteilen verstanden und schließlich zum gemeinten Sinn wieder zusammen gesetzt hatte.

    Schließlich kam die träge Antwort: „Die meisten Minenarbeiter vergessen das.“ Tsino nahm das oberste Blatt wieder zur Hand und starrte darauf. „Dann muss der Minenaufseher es nachtragen.“, fügte Retiebrarov hinzu. Es war mal wieder in dem Moment, in dem Retiebrarov weiter sprach als Tsino realisierte, dass er nur einen Satz angefangen aber nicht zu Ende gesprochen hatte. Noch während er sich darüber wunderte, fiel auch der Rest des Satzes: „Wenn er die Protokolle prüft.“

    Tsino hatte nun das Gefühl, dass Retiebrarov endlich zu Ende gesprochen hatte. Sicherheitshalber wartete er etwas ab. In der Zwischenzeit verglich Tsino das oberste Blatt, dass Retiebrarov in der heutigen Minenschicht geschrieben hatte, mit einem zufälligen Blatt im Stapel. Die Handschrift zwischen Eintragungen und Datum unterschied sich von Blatt zu Blatt. Das Datum war nur auf dem obersten Blatt identisch mit der Handschrift des restlichen Protokolls und durchgängig auf allen anderen Protokollen in dieser Handschrift.

    Von Retiebrarov kam nichts mehr zurück, weswegen Tsino sich endlich traute wieder etwas zu sagen: „Aber du nicht.“, merkte er an. Diesmal nickte Retiebrarov zur Antwort langsam. Er schob sich zu einer Pfanne und briet Fleisch durch.

    Bei der Suche in dem Stapel Blätter war es Tsino zufällig aufgefallen und es hatte für seine eigentliche Suche keine Relevanz. Dennoch war er fasziniert davon, dass jemand ein so gutes Gedächtnis hatte, dass er sich stets des aktuellen Datums bewußt war und nie vergaß es in den Protokollen einzutragen. Dazu noch jemand, der ein so starkes Alkoholproblem hatte.

    Nachdem er nun endlich den Aufbau der Protokolle verstanden hatte, lies Tsino seine Augen über die Namensspalte huschen. Hatte er ein Blatt durch, legte er es umgedreht neben den Stapel und ging das nächste durch. Auf die Weise schrumpfte der durchzuarbeitende Stapel an Protokollen vor ihm langsam.

    Oft genug las er seinen und Gatorps Namen. Gatorp war in seinen ersten Schichten noch als „Rotschopf“ oder „Rotbart“ eingetragen. Tsino konnte auch sagen warum: Kannten die Vorarbeiter die Namen der Neuen nicht, dann erfanden sie schnell aussagekräftige Spitznamen. Tsino war von der ersten Schicht an mit korrekten Namen eingetragen, da sein Allerweltsaussehen keine allzu lustigen Spitznamen zulies.

    ‚Tide Nap... Tide Nap... Tide Nap...’, wiederholte er im Kopf wie ein Mantra. Er konzentrierte sich auch auf ‚Teto’, falls wider erwarten dieser Name auftauchen sollte. Doch so sehr er auch auf die Blätter starrte, der gesuchte Name wollte ihm nicht entgegen springen. Dafür sprang sein Blick immer wieder ungewollt in die Zeile mit den Leihhacken.

    Erst dadurch fiel ihm auf, wie viele Hacken mit der Zeit eigentlich verschwunden waren. Sehr erstaunt stellte er beim Benutzen fest, wie die Protokolle funktionierten. Während er sie nur überflog stachen ihm die Unregelmäßigkeiten sofort ins Auge. ‚So arbeitet also ein Minenaufseher...’ Ging es ihm durch den Kopf und er erkannte, wie wichtig es dadurch war, dass alle Protokolle gleich aufgebaut waren.

    Erneut blieb sein Blick an einer Auffälligkeit hängen und er pfiff leise, lang gezogen, vor allem aber anerkennend durch die Zähne.

    „Hrm?“, machte Retiebrarov verspätet an der Pfanne.

    „Hier hat ein Buddler in einer Minenschicht 1388 Klumpen erschürft.“

    „Mhm.“

    „Wie hieß er?“, fragte sich Tsino, nur um sich die Frage mit einem Blick auf den Namen neben der Zahl selbst zu beantworten: „Hennecke. Seine Mitbuddler haben es ihm wahrscheinlich nicht gedankt.“ Für sich dachte Tsino: ‚Wäre ich an der Stelle des Minenvorarbeiters, ich hätte dem Buddler ein Bier ausgegeben. Aber mindestens ein Paladiner.’

    Nach drei Sekunden meldete sich Retiebrarov zu Wort: „Der hat zur Belohnung ein Bier bekommen...“ Fassungslos sah Tsino zu Retiebrarov hinüber.

    „...ein Paladiner.“

    Suche

    Eines Abends saßen Tsino und Gatorp zusammen und besprachen ihre Lage bei einem Paladiner.

    Tsino ergab sich in jenem Moment seiner Skepsis: „Und alles haben wir nur dem Schatz zu verdanken. Ja, wenn du mich fragst, war er verflucht.“

    Mit leicht angehobenen Brauen echote Gatorp: „Verflucht?“

    Tsino ereiferte sich weiter: „Denk doch mal nach... Alles, was uns an Missgeschicken passiert ist. Das hat erst mit dem Schatz begonnen. Irgendetwas ist faul damit.“

    Gatorp erwiderte eher flach: „Was willst du machen? Das Ding wieder eingraben?“

    Tsino entgegnete müde: „Das nicht. Aber: Wir werden erst wieder glücklich, wenn wir das Rätsel um die Leiche gelöst haben, die bei dem Schatz lag.

    Mir erscheint er immer wieder im Traum...“ Tsino rieb sich das Gesicht. Geradezu als hoffe er sich damit die Müdigkeit und die Alpträume herunterreiben zu können. Wie zu erwarten änderte es nichts an der Situation, nur dass ihm jetzt zusätzlich die Wangen brannten.

    Gatorp musterte ihn einige Momente nachdenklich, während der er sich den dichten Bart kraulte. Schließlich fragte er vorsichtig: „Ist das etwa der Grund, warum dich der Orden im Lazarett besucht hat?“

    Tsino nickte schwach. Sein Kopf fühlte sich dabei vor Müdigkeit so an, als sei er gerade einen Berg hinuntergerollt und wieder hinauf geschwungen. Müde blinzelte er.

    Gatorp besah sich seinen Zustand. Nach einer längeren Pause setzte er an: „Lass uns scharf nachdenken...“ Gatorp versuchte dann den übermüdeten Tsino zu kompensieren, der es normalerweise war, der die Dinge logisch sortierte und dann brauchbare Pläne aufstellte: „Wir suchen Teto.“

    Tsino machte: „Warum?“ Er wusste selbst, dass es nicht hilfreich war. Doch im Augenblick war sein Kopf von einem Nebel, dick wie Erbsensuppe, beherrscht und liess es nicht zu, dass sich Details aus seinem Erinnerungsvermögen schälten.

    Gatorp blieb hartnäckig: „Der soll uns das alles erklären.“

    Tsino gab sich trotz seiner Müdigkeit alle Mühe das Gespräch mit Teto revue passieren zu lassen, kam mit seinen vernebelten Gedanken aber auf keinen grünen Zweig. Schließlich murmelte er: „Er ist uns bisher nur ein einziges Mal begegnet und seither nicht wieder aufgetaucht. Was willst du machen? So lange am Grab warten, bis er erneut auftaucht? Nein... Wir können nicht darauf hoffen, ihm auf der Straße zu begegnen. Wir haben ihn nie zuvor im Alten Lager gesehen, daher glaube ich auch nicht daran, dass er uns dort jemals wieder begegnen wird. Wahrscheinlich ist er nicht einmal ein Buddler.“

    „Wenn er uns absichtlich meidet, dann haben wir schon verloren.“, ergänzte Gatorp nur um weiter laut nachzudenken: „Also brauchen wir einen anderen Hinweis, dem wir nachgehen können. Nur... wie könnte der aussehen?“

    Tsino marterte sich das Hirn. Er strich sich noch einmal mit der Hand durch das Gesicht und meinte dann lahm: „Teto erwähnte doch einen Namen...“ Er strengte sich an, doch ihm wollte der Name nicht einfallen.

    „Tide Nap.“, erinnerte sich dafür Gatorp. Er hob den Kopf und starrte Tsino direkt an, als er fragte: „Wenn wir ihn finden... Meinst du, wir finden dann auch eine Lösung für unser Problem?“

    Tsino antwortete mit nur noch mehr Fragen: „Das stellt uns vor noch mehr Probleme: Wer ist überhaupt Tide Nap? Wie sieht er denn aus? Wo und wie können wir ihn finden?“ Gatorp richtete sich auf und fuhr sich nachdenklich den Bart, wie er es meistens tat, wenn er über irgendein Problem nachdachte. „Langsam.“, mahnte er laut, „Und alles der Reihe nach. Was wollen wir überhaupt?“

    Aus Tsino sprudelten die Worte hervor, als sei ein Damm gebrochen: „Ich will diese Alpträume loswerden, um endlich wieder durchschlafen zu können. Bin ich erst einmal ausgeruht, gibt es in den Minenschichten auch weniger Ärger. Ich will wissen, was es mit der Leiche auf sich hat. Ich muss einfach wissen, warum Teto uns erst auf seinen ermordeten Zwillingsbruder aufmerksam macht und dann auf nimmerwiedersehen verschwindet, ohne seinen Teil des Schatzes zu verlangen.“

    „Langsam, langsam. Langsam!“, machte Gatorp erneut, doch dann wurde er sehr still. Tsino konnte sehen, wie sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck annahm, doch da er dabei wie in seinen eigenen Gedankengängen gefangen vor sich hin starrte, hatte Tsino auch keinen Hinweis, was ihm durch den Kopf gehen könnte. Er musste sich noch eine ganze Weile gedulden, denn erst nach einer längeren Pause gab Gatorp mit rauher Stimme zu bedenken: „Was ist... Wenn es gar nicht Tetos Zwillingsbruder ist?“

    Tsino starrte ihn müde und begriffstutzig an: „Was meinst du damit?“

    Gatorp sagte mit einem Gesichtsausdruck, als gefiele ihm der eigene Gedankengang nicht: „Was ist, wenn es Teto selbst ist?“

    Tsino versuchte den Gedanken herunter zu schlucken, brachte aber nur ein trockenes Geräusch zu stande. Mit einer Stimme, die so rauh klang wie sonst nur die von Gatorp, meinte er: „Daran will ich gar nicht denken.“ Genau genommen weigerte sich jede Faser seines logischen Denkvermögens diesem Gedanken auch nur eine Chance zu geben. Alpträume hin oder her.

    „Es... ist nicht... Teto. Verstehst du?“, machte Tsino mit etwas zu viel Nachdruck, „Es ist sein Zwillingsbruder. Sie haben den Schatz vergraben... und aus irgendeinem Grund...“ Er schüttelte den Kopf und brach ab. Sein Kopf fühlte sich an wie in einer Schraubzwinge und wollte keinen klaren Gedanken mehr ausgeben.

    Gatorp stützte die Ellenbogen auf und stemmte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. „Wer kann uns helfen? Wer kennt Teto und kann uns erklären, warum die Leiche seines Zwillingsbruders mit dem Schatz vergraben war?“

    Es folgte eine Pause, in die Tsino einen Gedanken flüsterte, der in seinem Kopf herum spukte: „Wir müssen Tide Nap finden.“ Auch dieser Gedanke war nicht hilfreich. So lange die Rede von „müssen“ war, war er nicht Herr seines Handelns.

    Aber jetzt war der Moment gekommen das Heft selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht mehr treiben zu lassen. Tsino wollte kein Gejagter mehr seiner eigenen Alpträume sein. Er verschränkte die Finger, pustete aus und presste sie sich an die Stirn.

    „Wie finden wir Tide Nap?“, frage er laut, nur um dann hinterher zu setzen: „Was wissen wir über ihn?“

    Angespannt hob Tsino den Kopf und betrachtet Hilfe suchend Gatorp, als könne dieser vielleicht die Lösung aus dem Ärmel ziehen und präsentieren.

    „Nur das, was Teto uns erzählt hat...“, war die lahme Antwort von Gatorp. Er vermochte nicht die gesuchte Antwort oder wenigstens irgendeine Art von Erklärung aus dem Ärmel zu schütteln, doch er gab sich redliche Mühe, indem er weiter rätselte: „Was hat Teto noch gleich von Tide erzählt? Er sah aus wie ein...“

    Tsino versteifte sich. Das waren die Informationen, die er gesucht hatte. Es war enorm wenig, mit dem er da arbeiten konnte und es machte ihn mutlos. Sofort kämpfte er gegen dieses lähmende Gefühl an, indem er sich selbst wieder aufzubauen versuchte.

    ‚Wann standen wir schon einmal mit so wenig in der Hand da?’, stellte er sich die hoffnungslose Frage. Darauf wollte ihm in Gedanken nichts einfallen, also formulierte er sie überspitzt und stellte sie einfach laut: „Wann standen wir schon einmal mit so gar nichts in der Hand da?“

    „Das ist einfach.“, diesmal kam die Antwort Gatorps fast sofort: „Wir wurden nur mit unserem Leben und den Gefängnislumpen am Leib in die Kolonie geworfen.“ Er lächelte schief, als er fortfuhr: „Heute nennen wir eine Hacke unser eigen, du eine hölzerne Trainingswaffe, ich ein scharfes Schwert, wir haben schon lange einen Platz gefunden, an dem essbare Pilze wachsen, wir konnten uns eine geräumige Hütte anmieten und mittlerweile kennen wir jede Menge Leute, mit denen wir Informationen und Gefälligkeiten austauschen können.“

    Tsino fühlte sich bereits etwas aufgebaut und fügte hinzu: „Verglichen mit dem Moment in dem du nass, frierend und hungrig in der Strafkolonie angekommen bist, kannst du jetzt stolz auf deine Errungenschaften sein.“

    Er lies sich von dem Gefühl der Hoffnung den Rücken stärken, ehe er sich wieder seinen eigentlichen Problemen zuwandte:

    „Ich weis zwar nur wenig über Tide Nap... Aber ich finde ihn!“

    Danke an Uriel, der im Grunde dieses Kapitel geschrieben hat.

    Orden

    Nach der Minenschicht wollte Tsino eigentlich Gatorp aufsuchen. Durch die Annehmlichkeiten des Luxus, die der Schatz ihnen beschert hatte, heilte auch Gatorps Erklältung und Fieber langsam aus. Doch Tsino kam im Lager nicht weit: In der Nähe seines Ziels bog er um eine Ecke und lief unverhofft in zwei scharlachrote Gestalten hinein, die dort auf ihn gelauert haben mussten.

    „Mitkommen, Freundchen.“ Reldnäh hielt ihn mit unnachgiebigen Griff am Oberarm gepackt. Simon hakte sich auf Tsinos anderer Seite ein und gemeinsam schleppten sie ihn davon.

    „Was tut ihr!?“, Tsino wurde unabsichtlich laut. Hier waren zwei Schatten, die ihn aus dem Nichts an den Armen packten und mit sich zogen. Er versuchte zu bremsen, doch sie zogen ihn zu allem Überfluß rückwärts mit sich und so gelang es ihm nicht einmal lange genug mit den Füßen Bodenkontakt zu erhalten, um auch nur vernünftig gehen zu können – geschweige denn die Fersen in den Boden zu rammen, um effektiv Widerstand leisten zu können.

    „Wo bringt ihr mich hin?“ Er warf sich gegen ihren Griff und versuchte sie auszutricksen, indem er die Füße anzog, wodurch er wie ein Stein zu Boden sackte. Doch sie gaben ihm nur einen kräftigen Ruck und trugen ihn sogar ein Stück weit durch die Luft, bis Tsino wieder anfing von alleine nach dem Boden zu strampeln.

    „Wirst du gleich sehen.“, meinte Reldnäh nur. Simon sagte: „Wir haben dir bereits in der Mine gesagt, dass du etwas machen sollst, wenn du krank wirst.“ Sie hatten ihn schon um die Hausecke gebracht und zerrten ihn nun an der Längsseite entlang, wo zwei Hütten unter einem von mehreren Pfosten getragenen Vordach standen. ‚Vielleicht, wenn ich mich an einem der Pfosten festhalte.’ Tsino wand sich verzweifelt, um die Arme frei zu bekommen. Doch es war aussichtslos: Sie hielten ihn viel zu gut fest und zogen ihn vor einem Hütteneingang über das Eisengitter, wo sie sich dem Willen der Heiler folgend die Füße abtraten, ehe sie ihn der Länge nach in den Raum warfen.

    „Er ist hier.“, beschied Simon.

    Tsino schlug hart auf den Steinfließen auf und fand sein Gesicht wenige Handbreit von schwarz lackierten Stiefelspitzen entfernt, die unter einer ausladenden, rot gefärbten Stoffbahn fast gänzlich verschwanden. Benommen starrte er an einer verzierten, roten Robe entlang nach oben, wo er in das milde lächelnde Gesicht eines Magiers sah. Der Magier war mit seinen geschätzten 56 Jahren nicht mehr jung. „Guten Tag... Meister.“, stammelte Tsino und hoffte die korrekte Anrede verwendet zu haben. Der Magier reagierte nicht auf ihn, sondern sah über ihn hinweg zu Reldnäh und Simon, die er mit ruhiger Stimme ansprach: „Befandet ihr es wirklich für nötig ihn mit Gewalt hier her zu schleppen?“

    Reldnäh schnaubte nur. Von seinem sonstigen Lächeln war keine Spur, stattdessen wirkte er angespannt, als er entgegnete: „Wenn der Kerl wirklich besessen ist, wie Simon meint, dann wäre er uns kaum freiwillig gefolgt. Außerdem ging es so schneller.“

    „Besessen?“, schaltete sich Tsino überrumpelt dazwischen. Umständlich rappelte er sich vom Fußboden auf und ereiferte sich, noch ehe er gerade stand: „Ich bin nicht besessen!“

    Simon blieb ruhig, als er dagegen hielt: „Deine Leistung in der Mine nimmt ab. Du hast Alpträume. Andauernd eckst du irgendwo an. Das ist nicht mehr normal, Tsino. Deswegen haben wir uns an den Orden gewandt. Wir haben bereits mit dem Meister gesprochen und er erklärte sich bereit uns in dieser Sache zu helfen.“

    Tsino wandte sich wie betäubt dem Magier zu, bei dem es sich zweifellos um den angesprochenen Meister handeln musste.

    Dieser musterte ihn nur mit nahezu ausdruckslosen Gesicht. Als haben die letzten Teile der Unterhaltung nicht statt gefunden, fragte er ihn: „Ich hoffe, du hast nichts alkoholisches zu dir genommen, Buddler?“ der Magier schmunzelte leicht, als er sich mit Tsino beschäftigte. Dieser antwortete dumpf: „Schon die ganze Woche nicht mehr.“

    Magier: „Das trifft sich gut. Am besten, wir gehen in den oberen Stock. Dort sollte der beste Ort für diese Prozedur sein.“

    Damit wandte er sich in einer so fließenden Bewegung um, dass sie seinem Alter Spott trug, wobei seine Robe daramtisch um ihn flatterte. Schon schritt er mit erhabener Eleganz auf die Steintreppe zu, die ins obere Stockwerk führte.

    „Ich folge.“, murmelte Tsino und setzte sich deutlich weniger elegant, eher widerwillig in Bewegung. ‚Wenn ich es nicht freiwillig tue, erledigen Reldnäh und Simon das.’, fügte er in Gedanken hinzu und tatsächlich folgten ihm die beiden wie ein Schatten.

    Tsino wunderte sich noch, wie der in die Jahre gekommene Magier die Steinstufen so elegant meistern konnte, wobei ihm eine Robe von der Hüfte bis zu den Knöcheln wallte und ihn eigentlich bei jedem Schritt berhindern müsste, während Tsino in seinen eigentlich praktischen Minenarbeiterhosen mit steifen Knien bei jeder zweiten Stufe stolperte.

    Tsino war noch nie in dem oberen Stockwerk, wo sonst nur wichtige Personen wie Lagerangehörige behandelt wurden und neben den Heilern nur noch die Putzhilfen Zutritt hatten. Obwohl er sonst immer eine Neugierde auf diesen verbotenen Bereich verspürt hatte, würde er jetzt liebend gerne einen Teil seines Schatzes eintauschen, nur um nicht hier sein zu müssen.

    Wie im unteren Bereich gab es auch hier Betten, doch mit einem komfortablen Abstand zwischen den Lagern. An den Wänden standen Tische vollgestellt mit Flaschen, Tiegeln abgedeckt oder offen, Schriftstücken, Mörser und Stößel, Kräuter und als sei auf den Tischen nicht genug Fläche vorhanden, gab es noch unzählbar viele Regalbretter an den Wänden im Raum.

    Der Magier schritt voraus zu einem der Betten, neben dem ein Hocker bereit stand, auf den er sich sinken liess. „Setz dich.“, sprach er in milden Ton zu Tsino und nickte dabei auf das Bett. Jedes Mal, wenn er von dem Magier so angesprochen wurde, kam sich Tsino vor wie ein kleines Kind, obwohl er ein ausgewachsener Mann war. Dennoch tat er wie geheissen. Reldnäh und Simon rückten nach und blickten auf den sitzenden Tsino hinab, der deutlich nervös zurücksah.

    Der Magier nahm die verschränkten Hände aus den weiten Ärmeln seiner Magierrobe, um damit eine beschwichtigende Geste in Richtung Tsino zu machen: „Du brauchst keine Bedenken zu haben, Buddler. Du wirst von dieser Prozedur nur wenig mitbekommen.“

    Tsino kribbelte es im Nacken. ‚Prozedur? Was für eine Prozedur denn?’

    Der Magier fuhr fort: „Was die Arbeit ungemein erleichtern würde, wäre wenn du dich ein wenig entspannen würdest und von all dem Trubel, über den du eben nachdenkst, ablässt. Du solltest dich einfach ein wenig entspannen und deinem Geist Ruhe geben.“

    Tsino nickte. ‚Was bleibt mir anderes übrig?’ Er veränderte seine Sitzposition in etwas, von dem er hoffte dass es unter den Augen des Magiers als „entspannt“ durchging. Dennoch blieben seine Finger in unsteter Bewegung und gaben einen ungewollten Hinweis darauf, dass sich seine Gedankenwelt noch nicht so schnell beruhigt hatte.

    Dem Magier schien diese Regung aufzufallen, denn er hob die Hände und machte etwas vor: Er hob leicht die Arme und atmete dabei deutlich wahrnehmbar ein. Nach einer Weile senkte er die Arme und atmete ebenso hörbar wieder aus. Während er es wiederholte, sprach er dabei zu Tsino: „Einatmen... Ausatmen... Einatmen... Ausatmen...“

    Erneut sah sich Tsino keiner Wahl gegenüber gestellt und holte durch den Mund geräuschvoll Luft, nur um kurz darauf wieder auszuatmen. Der Magier behielt seine Bewegung mit den Händen bei, die in Tsinos Sichtbereich auf und ab stiegen. Eher unbewußt nahm er den Rhythmus für sein eigenes Atmen auf und merkte, dass der Trubel in seinem Kopf etwas nachliess, so lange er durch die Atemübung davon abgelenkt wurde.

    „Einatmen...“

    Tsino schloss die Augen und füllte die Lunge mit Luft, bis die Rippen sich nicht weiter dehnen wollten.

    „Ausatmen...“

    Er entlies die Luft wieder und kam sich dabei vor, als schrumpfe er im Sitzen ein, während sich seine Haltung etwas entspannte.

    Neben sich hörte er den Magier sprechen: „Und versuch dabei an nichts Bewegendes zu denken. Konzentriere dich einzig und allein auf den Ton der aus- und einströmenden Luft.“

    Tsino verfolgte sein eigenes Atmen. Wie sich seine Lungen füllten, die Luft kurz hielten und dann wieder ausströmen liessen. Wie sich dieser Kreislauf wiederholte und seine Gedanken endlich ebenso erwünscht wie unerwartet zur Ruhe kamen.

    Der Magier sprach mit ruhiger und besänftigender Stimme: „Entspanne deine Muskeln. Verliere die Anspannung. Hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst.“ Es war, als gehorche Tsinos Körper den Anweisungen des Magiers und im Sitzen sackte er in seiner Position zusammen.

    Neben ihm gingen Reldnäh und Simon in eine entspanntere Haltung über.

    Nur noch die Stimme des Magiers drang in Tsinos Bewußtsein: „Du bist hier sicher behütet. Gib dich der Ruhe hin und entspanne deinen Geist, deinen Körper, deine Seele.“

    Tsino hörte das gleichmäßige Atmen und konnte nicht wirklich sagen, ob es sein eigener Atem war oder der des Magiers, der den Rhythmus vorgab.

    „Fühl dich geborgen, als wenn eine leichte Sommerbrise in dein Gesicht weht und dich entspannen lässt.“

    Es war nicht so, als fühle Tsino sich gut. Im Gegenteil fühlte er sich noch immer, als laste ihm ein drückendes Gewicht auf den Schultern. Seine Muskeln prickelten noch von der letzten Minenschicht. Doch er war entspannt und hing nur noch wie ein Sack aus Fleisch und Knochen auf dem Bett. Er spürte nicht einmal mehr, wie er nach hinten wegsackte und der Länge nach ausgestreckt auf dem Bett liegen blieb.

    Der Magier legte seine eigenen Hände in seinem Schoss ab.

    Plötzlich wurde es still im Raum und kein störendes Geräusch vermochte diese Stille zu brechen.

    Der Magier atmete noch einmal langatmig aus und löste seinen Geist aus jenem Körper, welchen er auf dem Hocker neben dem Buddler platziert hatte.

    Reldnäh und Simon konzentrierten ihre Sinne auf das, was da im Raum vor sich ging, doch auch sie vermochten den Magier nicht zu spüren, dessen Geist sich auf Tsino zubewegte, während der Magier die Hand nach ihm ausstreckte. Behutsam formte er ein wenig magische Kraft in der Handfläche und lies sie in den Körper des Buddlers strömen.

    Tsino lag regungslos auf dem Bett und konnte doch eine Strömung von Wärme wahrnehmen, die sich von seiner Stirn über seinen ganzen Kopf ausbreitete, über den Hals, über die Arme und den Oberkörper floß, bis zu den Beinen und schlussendlich bis hinein in die Zehen. Diese Strömung war eine einmalige Wellenbewegung, die da durch den Körper ging.

    Der Magier blieb noch einen Moment ruhig sitzen, in dem er seine Eindrücke auswertete. Er konnte keine Anzeichen von einem Fluch entdecken, also...

    Der Geist des Magiers setzte dann zu einem beherzten Sprung an und drang über die Herzseite des Buddlers in dessen Körper ein. Eine weitere erwärmende Welle verbreitete sich diesmal von dort aus in Tsinos gesamten Körper.

    Diese Welle der Wäre kam schliesslich zum Erliegen.

    Des Magiers Geist bewegte sich durch den ganzen Körper. Tsino konnte diese Bewegung spüren, die sich durch ein leichtes Kribbeln bemerkbar machte. Die Reise ging vom Herzen über die Beine, hoch zur Lunge, zu den Armen und schließlich bis in den Kopf. Der Magier konnte nun auch ausschließen, dass ein Dämon Besitz von diesem Buddler ergriffen hatte und drang nun in dessen Geist ein.

    Ein Strudel aus Erinnerungen erfasste dabei den Geist des Magiers. Eine Unmenge dessen, wessen er nicht mächtig war zu analysieren, bis er im Zentrum angelangt war und dort die Hand auflegend zu Boden kniete. Sein Geist schloß dabei die Augen, um die Erinnerung des Buddlers nicht zu sehen und konzentrierte sich einzig und allein auf den möglichen Befall seines Geistes.

    Er versuchte eine Konzentration des Bösen zu bemerken, die von einer Besessenheit herrühren konnte. Doch dem Geist des Buddlers fehlte eine solche Konzentration des Bösen. Er war nicht besessen.

    Der Geist des Magiers erhob sich wieder aus der Position und verließ den Geist des Buddlers über jedwegen Weg, in welchem er schlussendlich dort angkommen war. Erneut konnte Tsino diese Wärme spüren. Ebenso die Welle der Wärme, die sich ausbreitete, nachdem der Geist des Magiers den Körper des Buddlers gänzlich verlassen hatte.

    Mit einem Aufatmen drückte sich Tsino vom Bett hoch. Er blinzelte und sah fragend den Magier an, der ihn ansprach: „Du brauchst unbesorgt zu sein. Von dir hat nichts Böses Besitz ergriffen und du bis weiterhin Herr deines Handelns.“ Erleichtert atmete Tsino auf.

    Der Magier drückte sich hoch. „Nun.“, sagte er und sah dabei vielsagend zu Reldnäh, „Ich denke meine Hilfe wird hier nicht mehr gebraucht.“

    Respektvoll senkten die Schatten die Köpfe. Reldnäh zog einen prall gefüllten Erzbeutel hervor und reicht ihm den Magier. „Vielen Dank für Eure Zeit, Meister.“

    Der Magier nahm den Beutel mit einem Nicken an und schob ihn zusammen mit seinen Händen zurück in die weiten Ärmel seiner Roben. „Innos mit euch, meine Kinder.“, sagte er zum Abschied und schritt damit zurück zu der Treppe, die hinaus führte.

    Tsino richtete sich schwerfällig auf. Mit der Erinnerung an Wärme im Körper war ihm mehr denn je nach schlafen. „Komm.“, sagte Simon und zog ihn am Arm in die Senkrechte, um ihm dann einen sanften Stoß in Richtung Treppe zu geben. „Du siehst auch aus, als ob du gleich im Stehen einschläfst. Mach, dass du raus kommst.“ Er sagte es sanftmütig und folgte bereits seinem eigenen Ratschlag, indem er die Treppe hinunter stieg. Reldnäh eskotierte Tsino, der sich knapp von den beiden Schatten verabschiedete und entgegen seines ursprünglichen Planes ohne einen Besuch bei Gatorp zurück zu seinem Schlafplatz wankte.

    Dort liess er sich gleich hinfallen und schloss die Augen. Das eine Mal schlief er traumlos.

    Kein Glück

    Als Neureiche kaufen sie sich ein paar Luxusartikel, die sie in ihrem bisherigen Überlebenskampf in der Strafkolonie noch nie gebraucht hatten und vielleicht auch niemals brauchten. Gatorp schmückte seine neue Hütte mit gleich zwei gekauften Kerzenständern aus und Tsino schenkte ihm einen kleinen Vorrat an Kerzen dafür. Etwas unvorsichtig legte sich Gatorp auch die neue Klinge zu, auf die er schon lange sparte und lies sich wie angekündigt häufiger von Paslov trainieren. Ähnlich wie es schon bei ihren ersten Einkäufen getan hatten, versuchte er sich herauszureden, wenn man ihn auf die Quelle seines Erzes ansprach, doch scheinbar weniger erfolgreich wie Tsino.

    Aufgrund der erfundenen Gründe, die alle mehr oder minder unzutreffend waren, wurde Gatorp schärfer im Auge behalten. Die Vermutungen festigten sich zu Gerüchten, die Gatorp wie ein schlechter Geruch durchs Lager folgten. Dabei tat er die erste Zeit kaum etwas Anderes als seine Erkältung, die sich bis zu einem Fieber verschlimmert hatte, auszuheilen und dabei zwischen Lazarett, Taverne und seiner Hütte zu pendeln. Tsino passte in den Zeiten, in denen Gatorp unpässlich war, auf dessen Hütte auf – und ihren gemeinsamen Schatz. Es ging so weit, dass Gatorp selbst bei alltäglichen Verrichtungen Unterstellen zu hören bekam.


    Einmal waren er und Tsino in der Taverne Tee für Gatorps wunden Rachen und Bier für Tsinos Minenrationen kaufen. Der Wirt Bevras, der zu diesem Zeitpunkt Schicht hatte, verkaufte zwar alles anstandlos, doch als er das Trinkerz einstrich, machte er Gatorp gegenüber eine abfällige Aussage: „Das habe ich wahrscheinlich gerade an das Neue Lager verkauft“

    „Hey!“, fuhr Tsino sofort dazwischen. Er hatte einen weiteren Alptraum in der Nacht durchlebt und war entgegen seiner sonstigen Natur überdurchschnittlich gereizt. Bevras' Kommentar provozierte ihn, sodass er ihn anfuhr: „Nimm das sofort zurück, Bevras!“

    Doch der dachte gar nicht daran, sondern schob sich das Erz in einen Beutel, der mindestens so dick war wie sein Bierbauch, als er provokant zu Tsino sagte: „Sonst was? Verprügelst du mich in der Arena?“ Er ließ ein hämmisches Lachen hören, das genau zum Ausdruck brachte, wie wenig er an genau diese Sache nicht glaubte.

    Tsino machte einen aggressiven Schritt auf ihn zu, obwohl sich zwischen ihm und Bevras der Tavernentresen befand. Hätte Tsino in jenem Moment Rede und Antwort stehen müssen, hätte er selbst nicht einmal sagen können, ob er den Schritt gewagt hatte, um auf der Stelle mit Bevras abzurechnen – und er würde es auch nie herausfinden, da Gatorp ihn im entscheidenden Moment am Arm packte und weg zog. „Komm schon...“, sagte er, dessen Stimme sich selbst nach Tagen noch nicht ganz von seiner Erklätung erholt hatte, „Das ist es nicht wert.“

    Bevras rief ihnen hinterher: „Ja, ja, bring es nur deinen Banditenfreunden.“


    Tsino für seinen Teil litt unter Alpträumen, die ihm jede Nacht den Schlaf raubten und ihm tagsüber kaum genug Kraft für die Minenschichten liessen. Mit geringerer Ausbeute als ohnehin schon, war ihm die erhöhte Aufmerksamkeit der Wachen sicher. Sie beobachteten ihn strenger, wenn er Erz schürfte, wie er bei einem unangenehmen Zwischenfall in einer Minenschicht feststellen musste:


    Durchsuchung

    Tsino holte gerade wieder mit der Hacke aus, um auf den trüb schimmernden Brocken vor ihm einzuschlagen. In dem Moment fasste ihn eine Hand an der Schulter und eine zweite legte sich mit der Festigkeit einer Schraubzwinge um sein Handgelenk. Abrupt gebremst tat die Hacke in seinen Armen nur einen abgehackten Ruck, statt auf den Brocken zuzurauschen. Tsino erschrak bis ins Mark. Als er hinter sich sah, stand dort der Minenaufseher Nemo.

    „Mitkommen.“, beschied ihm Nemo ölig, lies ihn los und ging bereits voraus. Tsino wagte nicht sich zu widersetzen. In aller Eile hakte er die Hacke auf dem Rücken ein und schaufelte mit beiden Händen seine Ausbeute in den Sack, den er ächzend schulterte. Ein Großteil der Brocken blieb zwischen dem wertlosen Gestein am Boden liegen, doch die Zeit reichte nicht aus, sie zu trennen und auch noch einzusammeln. Wahrscheinlich würden sich ein paar der weniger umsatzstarken Buddler bei nächster Gelegenheit darüber her machen wie Ratten über ein liegen gebliebenes Stück Käse.

    Schwer beladen versuchte Tsino den Schatten Nemo einzuholen, aber sein steinschweres Gepäck lies es nicht zu, dass er vernünftig rannte. So hoppelte er mit ungleich verteilter Last heftig schnaufend Nemo hinterher. Die Augenpaare der anderen Wachen folgten ihm auffällig und bohrten sich wie Nadeln in seinen Nacken. Auch ein paar der Buddler spähten zu ihm hinüber. Wer mitten in der Schicht von der Ader gerufen wurde, dem stand zweifellos Ärger ins Haus.

    Nemo legte den gesamten Weg durch den Stollen bis an die Oberfläche zurück und führte ihn zu einer der Minenhütten, wo er sich neben dem Eingang aufbaute. „Er ist hier.“, sprach er mit seiner öligen Stimme nach drinnen und zu Tsino: „Rein da.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm er Tsino mit einer Hand den Sack von der Schulter und gab ihm mit der anderen einen kräftigen Stoß zwischen die Schulterblätter, die ihn unbeholfen nach drinnen stolpern liess. Noch ehe er sein Gleichgewicht wieder finden konnte, packte ihn drinnen die nächste Hand unsanft am Oberarm. Es war der Simon, der sommersprossige Schreiner, der neben dem Hütteneingang gelauert hatte und ihn nun noch ein Stück tiefer hinein stieß.

    Drinnen wartete zu allem Überfluß Reldnäh auf ihn und maß ihn mit einem seiner unergründlichen Blicken. Nur von dem sonstigen Lächeln fehlte diesmal jede Spur.

    „Hallo, Reldnäh...“, grüßte Tsino schwach. Er versuchte freundlich zu klingen, wie sonst der Händler, doch die Furcht hatte bereits sein hämmerndes Herz fest im Griff. ‚Was wollen die nur von mir?’

    Reldnäh ging nicht darauf ein, sondern befahl ihn mit einer nickenden Bewegung des Kinns noch tiefer in die Hütte. „Stell dich da an die Wand.“ Tsino gehorchte und stapfte mit weichen Knien zur Hüttenwand hinüber. Es war eine der Schlafhütten, die gerade breit genug gebaut waren, um zwei Reihen Bettkästen mit stinkender Strohfüllung Platz zu machen. Die Minenarbeiter konnten sich hier ausruhen, wenn sie nach einer Schicht zu erledigt waren, um den Rückweg ins Lager anzutreten. Tsino trat zwischen zwei der Betten an die beschiedene Wand und stand nun mit einem Bett Abstand zu Simon, der an dem schmalen Freiraum zwischen Bett und Eingang am Türpfosten lehnte.

    Hinter ihm betrat Nemo den Raum, lies den Sack zu Boden rauschen und kippte den Inhalt auf die Dielenbretter aus. Auf dem Boden kauernd begann er sich sehr sorgfältig ein Bild von der Menge der enthaltenen Erzklumpen zu machen.

    Simon für seinen Teil postierte sich nach dem Eintreten des Minenleiters mit verschränkten Armen im Hütteneingang, was jede Flucht unmöglich machte. Mit vorwurfsvollen Blicken musterte er Tsino, der dort zwischen zwei Betten eingekeilt mit dem Rücken zur Wand stand und der Dinge harrte, die da kamen. ‚Was geht hier nur vor?’ Mittlerweile kam er sich vor wie im falschen Bühnenstück.

    Reldnäh rutschte in seinem eigenen Tempo von dem Bettkasten herunter, auf dem er mit halben Hintern gesessen hatte und trat auf Tsino zu. Ohne eine Erklärung packte er ihn an der Schulter, riss ihn herum und stieß ihn so grob gegen die Wand, dass Tsino reflexartig die Arme hochriss, um sich abzufangen. Mit den Handflächen flach gegen das Holz gedrückt blieb er dann lieber auch so stehen, um die versammelten Schatten nicht noch zu provozieren. Reldnäh löste ihm wortlos die Hacke aus der Rückenhalterung und liess sie neben seinen Füßen zu Boden fallen. Ebenso verfuhr er mit dem Messer aus Tsinos Gürtelschlaufe. Als er es fallen lies, bohrte es sich mit der Schneide nach unten in den Boden und blieb so stecken.

    Tsino, der überhaupt nicht verstand, was gerade vor sich ging, hielt sich für besser beraten so ruhig wie möglich stehen zu bleiben, auch wenn ihm das Herz unkontrolliert gegen die Rippen hämmerte. Dass er immer wieder leise keuchte lag mittlerweile nicht mehr daran, dass man ihn gerade aus einer anstrengenden Minenschicht herausgezogen hatte.

    Reldnäh begann ihm mit flachen Händen den Oberkörper abzuklopfen, das Hemd sogar bis zu den Ärmeln hinunter. Tsino schauderte, wagte aber nicht einmal die Handflächen von der Wand zu lösen. Der Minenleiter zählte unbeeindruckt am Boden das Erz.

    Reldnäh trat noch dichter an ihn heran, griff um ihn herum und löste die Gürtelschnalle. Tsino spürte wie das Gewicht seiner Beutel, die am Gürtel festgebunden waren, von ihm abfiel. Er lehnte nun auch die Stirn gegen die Holzwand. Die Gedanken in seinem Kopf kreisten so sehr, dass ihm schwindlig wurde.

    Den Gürtel mitsamt seinen Besitztümern warf Reldnäh zu Simon hinüber. Etwas schlecht gezielt landete die Habe auf einem Bett. Nacheinander nahm Simon die Beutel in die Hand und sah sich den Inhalt an.

    Reldnäh bückte sich, um jetzt auch nacheinander Tsinos Hosenbeine abzutasten. Tsino schloss die Augen und versuchte nicht darauf zu achten, wie die flachen Hände im Rhythmus von Herzschlägen das Leder seiner staubigen Buddlerhose abklopften.

    „Ha...“, Reldnäh schnappte unterdrückt nach Luft, „Ha...“

    Alarmiert riss Simon den Kopf hoch. Seine Hände waren mitten in der Untersuchung von Tsinos Erzbeuteln erstarrt.

    „Ha...“, entfuhr das abgehackte Geräusch Reldnäh noch einmal, der die Hand verkrampft an Tsinos Hose presste.

    „Was ist!?“, die sonst so ölige Stimme Nemos überschlug sich fast vor Aufregung und Tsino meinte eine unverhohlene Spur von Triumph darin zu hören, „Was hast du gefunden?“

    „Ha... HATSCHI!“ Reldnähs Hand verkrampfte sich bei dem lautstarken Niesen schmerzhaft um Tsinos Wade, der ein leises Wimmern nicht unterdrücken konnte.

    Alle in der Hütte stutzten, als ihnen klar wurde, dass das Luft einziehen kein Ausdruck einer Erkenntnis war, sondern ein einfaches Niesen. Reldnäh schniefte und lockerte endlich den Griff um Tsinos Bein, als er halblaut fluchte: „Verdammter Minenstaub...“ Enttäuscht sank Nemo am Boden kniend wieder in sich zusammen. Simon schien beruhigt und setzte seine Arbeit fort. Auch Reldnäh nahm seine Tätigkeit erneut auf und begann wieder Tsino abzuklopfen und tat es, als habe es nie einen Zwischenfall mit einem lauten Niesen gegeben.

    Obwohl seine klopfenden Hände vorhersehbar immer tiefer krochen, zuckte Tsino trotzdem zusammen, als seine Hosenbeine angehoben wurden und Reldnäh einmal in jeden Schuh griff.

    „Nichts.“, sagte in dem Moment Simon.

    Tsino schlug die Augen auf.

    „Nichts.“, machte Reldnäh und liess endlich von Tsino ab. Er richtete sich auf und sah zu Nemo hinüber: „Und?“ Auch Tsino wagte einen vorsichtigen Blick zu dem Minenleiter hinüber. Rechtzeitig genug, um zu sehen wie dieser den Kopf mit den ölig glänzenden Haaren enttäuscht schüttelte.

    „Zu wenig. Ich kann mir das nicht erklären... Das passiert sonst nur, wenn ein Schürfer unterschlägt!“

    Tsino wagte kaum aufzuatmen. ‚Bin ich jetzt ausser Verdacht?’

    Reldnäh trat auf den Minenleiter zu und sagte unwirsch: „Dann sag ich dir jetzt mal eines... Bevor du das nächste Mal willkürlich einen Buddler anklagst, denkst du zweimal drüber nach, bevor du mit einem 'der Schürfer in der Mine unterschlägt mir Erzklumpen' zu mir kommst. Tsino unterschlägt nicht.“ Reldnäh klang angespannt, als er sprach. Mit jedem Satz wurde er ein Stück lauter: „Das hätte ich dir gleich sagen können, als du von allen Buddlern in der Schicht ausgerechnet Tsino hier herein gebracht hast. Als du von einem ‚Schürfer’ geredet hast, dachte ich schon an einen der Jungs aus dem Neuen.“ Die Schimpftirade wurde von einem abfälligen Schnauben stilvoll abgeschlossen.

    Tsino wandte sich nur langsam und vorsichtig um. Seine Hände glitten von der Hüttenwand, während die Schatten stritten.

    „Normalerweise machen das auch nur Schürfer!“ Nemo, der sich hörbar in seinem Stolz angegriffen fühlte, sprang jetzt mit der Geschmeidigkeit eines kampfbereiten Schatten auf die Füße, während er Reldnäh entgegen pfefferte: „Dann sag du mir, wo das Erz abgeblieben ist: Es. Fehlen. Klumpen!“

    Langsam bückte sich Tsino nach seiner Hacke und nahm sie ebenso langsam auf den Rücken.

    „Mir. Egal.“, gab Reldnäh ebenso abgehakt zurück. Egal ob Überreden, oder Streiten: Mit Worten umgehen konnte Reldnäh gut, was nicht zuletzt einer der Gründe war, warum er den Posten des Außenwelthändlers inne hatte. „Du bist Minenaufseher. Das war der Job, den du machen wolltest. Es ist dein Problem.“

    Tsino suchte Simons Blick, der immer noch an der Tür stand und ihn grimmig musterte. Tsinos Gurt mit seinen Beuteln lag wieder sauber verschnürt auf dem Bett. Tsino deutete mit einem Finger darauf und blickte fragend zu Simon hinüber. Der nickte langsam und gab endlich den Türrahmen frei.

    „Schöne Schatten seid ihr mir.“, giftete gerade Nemo zurück, „Anstatt einen von euch zu unterstützen auch noch Anfeindungen machen.“ Er funkelte zu Tsino hinüber, als ob es dessen Schuld sei. Der hatte seine Habseligkeiten inklusive dem Messer mittlerweile wieder angelegt und senkte den Blick auf den Boden, um ihn dort lange auf dem Sack mit seiner Ausbeute ruhen zu lassen. Schließlich sah er Nemo viel sagend an. Der verstand den Wink und verstand es ebenso gut seinem verletzten Stolz in seinem Ton Ausdruck zu geben, als er Tsino ankeifte: „Nimm ihn!“

    Tsino schlurfte zu ihm hinüber und kauerte sich auf den Boden, um die zerstreute Menge an gehackten Erzklumpen wieder in den Sack zu sortieren. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Noch immer aufgebracht trat Nemo einen der Brocken unsanft gegen Tsinos Hand. „Du hackst jetzt noch zweihundert Klumpen bis zum Schichtende! Danach kannst du mit den anderen Dreckfressern Feierabend machen.“

    Tsino hielt es für besser nicht zu antworten, um nicht noch unnötig Holz ins Feuer nachzulegen. Er legte die letzten Brocken in den Sack und zog ihn zu. Kaum dass er das Gewicht im knien auf seine Schulter gehievt hatte, packte ihn Reldnäh am Arm und zog ihn unnötig grob auf die Beine. Auch er schien noch immer ärgerlich über den Vorfall. Den folgenden Stoß in seinen Rücken nahm Tsino zum Anlass mit gesenkten Kopf aus der Hütte zu stolpern. Reldnäh und Simon kamen ihm hinterher. Nemo war längst nicht mehr zu sehen.

    „Der Kerl ist ein Idiot.“, schnaubte Reldnäh. „Das ist mal wieder der beste Weg, um die treuesten Buddler ins Neue Lager zu verscheuchen.“

    „Sag mal Tsino...“, die Stimme Simons klang, als habe er einen zu viel geraucht, „Wirst du krank?“

    Tsino hörte ihm nur zu und antwortete nicht, während er mit dem Sack auf der Schulter in Richtung Stollen trottete. Simon setzte nach: „Gatorp war krank. Wahrscheinlich hat er dich angesteckt. Ihr seid ja sonst so unzertrennlich.“

    Auch wenn sich manches Mal das Vertrauen in Schatten lohnte: Von dem Schatz und über Teto wollte Tsino lieber nicht reden. Wo hätte er auch anfangen sollen? Damit, wie zwei Buddler einen scheinbar herrenlosen Schatz bargen? Tsino zögerte lange mit der Antwort, ehe er leise meinte: „Ich habe Alpträume.“

    Simon kam nicht mehr dazu noch einmal nachzuhaken, denn Reldnäh warf unwirsch ein: „Du weist, dass du ins Lazarett gehen sollst, wenn du krank wirst. Verseuchte Buddler können wir hier nicht gebrauchen.“

    Damit war das Thema für ihn bereits erledigt, doch Simon sah nicht überzeugt aus. Sie eskortierten ihn zur Mine zurück, wo sie ihn stehen liessen, sobald er sich an eine Erzader gestellt hatte. Simon nahm Reldnäh bei Seite, um leise auf ihn einzureden, wobei er immer wieder besorgt zu Tsino zurück sah. Schließlich gingen die beiden Schatten noch ein Stück weiter weg.

    Kaum waren sie abgezogen, meldete sich zwischen den Hackenschlägen schon der erste Buddler bei ihm: „Mensch, Tsino, was war denn los?“

    So eine Aufregung gab es nur selten und wenn, dann war es sofort die Unterhaltung für die gesamte Minenschicht. Tsino war es unangenehm selbst der Mittelpunkt dieser ungewollten Aufmerksamkeit zu sein. „Nichts.“, versuchte er die Leute abzuwimmeln nur um zu realisieren, dass er es nur noch schlimmer machte. Danach waren sie erst recht der Meinung, dass etwas los war und er etwas verheimlichte.

    Ein Ei dem anderen

    Sie betraten den Laden. Wie die meisten anderen Gebäude im Außenring war auch das hier eigentlich eine Wohnhütte. Hieß: Keine Tür, keine Fenster, Keine eingebaute Ladentheke und nur einen gähnenden Türrahmen als Eingang. Dafür ein Bett, Wandbretter, ein Regal, ein Tisch, einen Stuhl und ursprünglich eine Truhe. Diese Zahl hatte sich verdammt aufgestockt und ausnahmslos alle waren mit einem Eisenschloss gesichert. Dazwischen standen mehrere Stapel Kisten, Säcke und Fässer. So viele, dass ein Teil davon außerhalb der Hütte und unter den Augen der Gardisten gelagert wurde. Nur die Waren, die zu sperrig waren um in eine Truhe oder durch die Tür zu passen und damit keine Beute für Diebe waren, standen offen herum. Darunter ein Teppich und eben die Möbel.

    „Manchmal frage ich mich, wie Reldnäh in dieser Rumpelkammer hier schlafen kann.“, scherzte Gatorp noch immer heiser. Die beiden sahen sich um, doch es war niemand zu sehen, daher rief Tsino laut: „Reldnäh?“

    Eine Hand legte sich auf einen Kistenstapel im Laden und gleich darauf tauchte dahinter der passende Kopf auf. „Hallo, Reldnäh.“, grüßte ihn Gatorp und klärte sich mit einem Räuspern die Stimme ehe er fortfuhr, „Tsino würde gerne sein Messer auslösen.“

    Der Mann im Laden richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schob sich um den Kistenstapel herum. Nun, wo Tsino ihn im Ganzen sah, konnte er zwei Feststellungen über ihn machen:

    Erstens: Anstatt der erwarteten Schattenuniform trug der Mann ein zerschlissenes, blaues Leinenhemd und feste Minenarbeiterhosen in grün.

    Zweitens: Es war nicht Reldnäh.

    „Reldnäh ist nicht da.“, beschied ihnen der Mann, „Und wo auch immer er ist, er ist vor allem eines: Nicht. Mein. Problem. Ich habe ihm gerade nur eine Lieferung gebracht.“ Damit klopfte er auf die Kisten, hinter denen er aufgetaucht war.

    Gatorp lachte heiser, als ihm sein Fehler klar wurde: „Merchant.“ Es war der Zwillingsbruder des Außenwelthändlers.

    Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern hatte schon oft zu Verwechslungen geführt. Manchmal sogar zu richtig verzwickten, wenn der Buddler mit dem Außenwelthänder verwechselt wurden. Die engsten Freunde der Zwillinge konnten sie selbst in derselben Aufmachung auf Anhieb auseinander halten, doch die meisten anderen Leute taten sich immer schwer damit und für die Neuen war diese Doppelgängerschaft sogar ein richtiges Mysterium.

    „Schon wieder. Letzten Monat hätte ich dich fast zu einem Bier eingeladen, weil ich dich für deinen Bruder gehalten habe.“ Gatorp nahm die Verwechslung sportlich, wie er durch ein Grinsen zeigte und scherzte heiser: „Wenn du dich mal verschuldet hast und deinen Tod vortäuschen möchtest, dann musst du nur deinen Zwillingsbruder ins Grab bringen. Der Rest der Kolonie würde darauf hereinfallen.“

    Merchant hob nur die Schultern an. Er schien von der Pointe nicht viel zu halten, doch Tsino war wie vom Donner gerührt. „Zwillinge.“, stotterte er.

    „Klar.“, machte Gatorp mit seiner heiseren Stimme. „Du kennst die beiden doch.“

    Merchant sah mit leicht gehobenen Brauen zu Tsino hinüber: „Tsino? Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so weiss im Gesicht wie Milch.“

    Tsino achtete nicht auf ihn, denn eine plötzliche Eingebung hatte ihn mit einem heftigen Schlag getroffen. So heftig, dass er Gatorp nicht minder heftig am Arm packte. „Au!“, entfuhr es diesem, als sich Tsinos Finger tief in seinen Oberarm krallten. „Was ist denn in dich gefahren?“, beschwerte er sich, wobei seine heisere Stimme ihm bei ein paar Silben den Dienst versagte. Mit ein paar heftigen Bewegungen versuchte er Tsinos Hand abzuschütteln, doch dieser war noch ganz eingenommen von der Eingebung, die ihn getroffen hatte:

    Die Lösung für ihr Problem. Es war so furchtbar einfach! „Zwillinge!“ Tsino lachte hysterisch auf.

    Merchant musterte ihn mittlerweile argwöhnisch. Dabei zuzusehen wie ein Buddler gerade dem Wahnsinn anheim fiel, schien ihm sichtlich unangenehm zu sein. Er und sein Bruder mochten sich im wahresten Sinne des Wortes zum Verwechseln ähnlich sehen, doch so unterschiedlich waren sie in ihrem Inneren: Während Reldnäh sich für alles und jeden interessierte, das überhaupt unter der Barriere vor sich ging, war Merchant das absolute Gegenteil und wollte von nichts und keinem wissen das auch nur einen Steinwurf entfernt war.

    Deswegen schob er sich nun auch mit kaum verhohlener Eile an Gatorp und Tsino vorbei in Richtung Ladenausgang, ehe sie versehentlich zu seinem Problem werden konnten. „Ich bin in der Mine.“, beschied er ihnen kurz und bündig. Einen Moment später war er schon durch die Tür nach draußen verschwunden und man konnte hören, wie sich seine energischen Schritte entfernten.

    „Mach's gut.“, erwiderte Gatorp mechanisch und nickte Merchant hinterher, als dieser den Laden verliess.

    Tsino achtete nicht wirklich auf Merchant. Nach wie vor hielt er Gatorp am Arm gepackt und rüttelte ihn nun eindringlich, als könne er so bewirken, dass die Erkenntnis schneller in Gatorps Gehirn fiel. Tsino starrte Gatorp fieberhaft an, als er wie hypnotisiert sagte: „Wir haben seinen Zwillingsbruder gefunden.“

    Gatorp starrte Tsino an, als ihm nicht sofort klar wurde, was gemeint war. Heiser beschwerte er sich: „Natürlich haben wir seinen Zwillingsbruder gefunden! Merchant und Reldnäh. Weist du doch.“ Zweifel zeigten sich in dem Zug um seine Augen. Wahrscheinlich dachte er wie Merchant, dass Tsino gerade den Verstand verlor.

    Der funkelte ihn an: „Teto hatte einen Zwillingsbruder!“

    „Wie kommst du jetzt auf Tet-oooh...“ Man konnte förmlich dabei zusehen, wie Gatorp die Erkenntnis kam, wer noch einmal Teto war und wie dann der Erzbrocken der Erkenntnis auf seine Gedankengänge fiel. Seine Augen weiteten sich und sein Mund sperrte sich auf. Allerdings ohne etwas zu sagen.

    Schon sprudelte es aus Tsino heraus: „Die Leiche... Das war gar nicht der Teto, den wir gesehen haben. Es war überhaupt nicht Teto! Teto hatte einen Zwillingsbruder, verstehst du? So wie Merchant und Reldnäh.“

    Gatorps Gesicht überzog sich mit Erleichterung. Als er sprach klang es, als rühre seine Heiserkeit zum Teil auch von der Aufregung her: „Das ist es, Tsino... Eine vollkommen logische und einfache Erklärung. Es war einfach sein Bruder, der umgebracht und verscharrt wurde.“ Doch kurz darauf überschattete sich sein Gesicht. „Wir sollten vorsichtig sein.“

    „Warum?“, fragte Tsino dazwischen.

    Gatorp wurde etwas leiser. Um die Stimme zu schonen, oder damit sie nicht so einfach belauscht werden konnte, vermochte Tsino nicht zu erkennen. Gatorp erklärte leise: „Wir drei sind nicht die einzigen, die von dem Schatz wissen. Wer auch immer noch davon weis, ist bereit dafür über Leichen zu gehen. Er hat es bereits mit einem Mord bewiesen. Wer weis, ober nicht vor einem...“ Er sah kurz an sich hinunter, dann wieder zu seinem Freund und fuhr in normaler Lautstärke heiser fort: „Vor zwei weiteren zurückschrickt? Mein Freund... Wir sind in Gefahr.“

    Ehe Tsino die Worte vernünftig realisieren konnte, mischte sich eine dritte Stimme ein: „Wer ist in Gefahr?“

    Gatorp und Tsino fuhren herum. Im Eingang stand...

    „Reldnäh. Großer Innos, hast du uns jetzt erschreckt.“, machte Tsino.

    Der Schatten trat etwas näher. Er hatte ein leutseeliges Lächeln, doch Tsino konnte ganz genau sehen, wie in seinen Augen das harte Misstrauen funkelte, dass in Schattenaugen sonst nur aufkam, wenn sie von einem Hehlerverdacht hörten.

    „Was ist los, Jungs?“, es klang so freundlich, dass niemandem der harte Blick aufgefallen wäre.

    Tsino gab ein ersticktes Geräusch von sich. Er mochte es nicht sonderlich in einem Verhör zu landen und so ein Blick sah ganz danach aus.

    „Wir sind in Gefahr, wenn du uns nicht hilfst. Wir brauchen ganz dringend...“, schaltete sich Gatorp schnell ein, schaffte es aber nicht ganz den Satz zu beenden, da seine angeschlagene Stimme auf halben Weg versagte.

    Reldnäh hörte sich alles geduldig an und liess hin und wieder sein Lächeln aufflammen. Ein Lächeln, dass so brüderlich und freundlich war, dass die meisten darauf herein fielen und ihm mehr anvertrauten als gut für sie selbst war. Normalerweise war auch Tsino sehr dankbar, wenn er sich dem Schatten anvertrauen konnte, doch heute kam ihm dabei eine Gänsehaut.

    „Ich glaube ich höre schon, was du brauchst. Aber Medikamente bekommst du bei mir keine. Dafür musst du schon zum Orden gehen – und mach es schnell! Wir können keine todkranken Buddler gebrauchen.“ Das letzte kam eindeutig harsch, entgegen des sonst sehr milden Lächelns.

    „Bei etwas anderem kannst du uns noch helfen.“, sagte nun Tsino. Reldnähs Blick wanderte langsam zu ihm hinüber und das leichte Lächeln spannte sich wieder über seinen Mund. Tsino sagte freundlich: „Ich hätte gerne mein Messer zurück.“

    „Sicher.“, meinte Reldnäh nur und zuckte mit den Schultern, als sei ihm das Pfand eine lästige Last gewesen, als er fortfuhr: „Ich dachte mir schon, dass du das bald zurück haben möchtest.“ Damit stiefelte er durch seinen Laden, kramte zwischen seinen Waren und holte schließlich das verpfändete Messer hervor, das er auf die Ladentheke legte.

    In scheinbar bester Laune wickelte Reldnäh den Handel ab, doch als Tsino begann das Erz auf die Theke zu zählen, fragte er beiläufig: „Wie bist du so schnell an das Erz gekommen?“ Tsino zog erneut ein kaltes Gefühl über die Haut. Was wie eine Frage aus Höflichkeit klang, hörte sich in Tsinos Ohren wie die Fortsetzung des Verhörs an. „Ein Freund hat seine Wettschulden bei mir bezahlt.“, behauptete er und hielt dabei den Blick vorsorglich auf die Erzbrocken gesenkt, die schon auf der Theke lagen. Er konzentrierte sich danach die Brocken umständlich auf den Tisch zu zählen. Zum Schluß schob er den abgezählten Haufen Reldnäh hinüber.

    Reldnähs Lächeln flammte auf, ohne dass der harte Blick erlosch. Tsino gab sich alle Mühe das Lächeln zu erwidern, wandte aber viel zu bald die Augen ab und senkte den Blick auf das Messer. Er wollte danach greifen und es einschieben, doch in dem Moment legte sich Reldnähs Hand auf sein Handgelenk. „Wenn du ein Problem hast, dann komm zu mir.“ Eindringlich sah der Schatten den Buddler an.

    Tsino behielt den Blick auf dem Messer und konnte daher Reldnähs Gesichtsausdruck nicht sehen, doch er wusste aus Erinnerung, was er dort sehen würde: Weiches Lächeln, harte Augen. Die Stimme des Schatten klang so warmherzig, dass Tsino nur zu gerne darauf hereingefallen wäre. Doch er hatte keine Hehlerei zu beichten, keinen Kontakt zum Neuen Lager und ihm saßen auch keine Erpresser im Nacken. Er hatte nur durch unverschämtes Glück einen Schatz. ‚Und der geht niemanden etwas an.’

    „Werde ich machen, Reldnäh.“, sagte Tsino und hatte nicht vor ihm von dem Schatz zu erzählen. Um das Gespräch zu beenden, lies er nichts weiter folgen. Endlich lies Reldnäh ihn los. Tsino konnte das Messer einschieben und wandte sich ab. Gatorp verabschiedete sich heiser. Der Außenwelthändler lächelte den Buddlern hinterher. „Bis bald.“ Da waren sie auch schon aus seinem Laden verschwunden.


    Nachdem Tsino sein Messer zurück hatte, begleitete er Gatorp, der seine seine Mietschulden bezahlte. Der Mieteintreiber war sichtlich überrascht: „Woher das Erz auf einmal? Sonst verschuldest du dich doch zwei Monate, nur um dann mit Ach und Krach alles zurückzuzahlen.“

    Gatorp grinste ihn unter dem dichten Bart verwegen an und erklärte mit seiner heiseren Stimme: „Hatte eine Wette in der Taverne gewonnen. Darum zahle ich diesmal früher. Ach ja... Wo wir gerade dabei sind: Kann ich ein paar Monate im Voraus bezahlen?“ Die Überraschung des Vermieters steigerte sich so weit, dass er überrumpelt genug war, ohne weitere Fragen das Erz anzunehmen.

    Tsino bekam langsam den Verdacht, dass sie auffällig wurden und nahm Gatorp nach dem Gespräch bei Seite: „Wir sollten feinfühliger vorgehen. Sonst wundern sich die Leute am Ende noch, woher wir so viel Erz haben.“

    „Na gut... Aber eine Sache müssen wir noch unbedingt machen.“

    „Die wäre?“

    Gatorp grinste verschmitzt in seinen dichten Bart als er heiser erklärte: „Satt werden, natürlich. Was denn sonst?“


    Tsino nahm eine Gabel voll des Salates.

    Eigentlich war es Wurzelgemüse angemacht mit Essig, Fett und Rahm. Den Essig stellte der Orden her, der neben Medizin auch hochprozentige Alkoholika produzieren konnte. Das Fett war eigentlich ausgelassenes Tierfett, das die Jäger mitgebracht hatten und vor dem Servieren erwärmt wurde, damit es in flüssigen Zustand unter das Essen gemischt werden konnte. Nur durch welches Verbrechen der Menschheit der Rahm in der Kolonie auftauchte, vermochte Tsino nicht zu sagen und wenn er darüber nachdachte, dass er es essen wollte, wollte er es eigentlich auch nicht wissen.

    In seinem Mund fühlten sich alle Zutaten in ihrer Konsistenz gleich an, doch es war eine Überraschung, welcher Geschmack beim Kauen in seinem Mund explodierte: Der scharfe Rettich gemischt mit den sauren Äpfeln und den süßen Rüben. Alles zusammen auf dieselbe Größe gehobelt und durch den Saft der roten Rüben zur Unkenntlichkeit gefärbt.

    Vom Aussehen her hätten es genauso gut gehobelte Fischinnereien seien können, doch der frische Salat schmeckte viel besser als er aussah. Zufrieden mit dem Essen lehnte sich Tsino im Stuhl zurück und kaute jeden Bissen gründlich durch. Er hatte spontan beschlossen den Geschmack im Mund so lange zu genießen wie er konnte – es gab genug Geschehnisse in der Kolonie, die einem allen Appetit verderben konnten. Außerdem gefiel ihm die Note von Apfel darin – der ausschlaggebende Grund, warum er ihn bestellt hatte.

    Er und Gatorp fraßen sich in der Taverne einmal so richtig satt und leisteten sich um zu feiern auch Speißen, von denen sie sonst nur träumen konnten. Saftiges Bratenfleisch statt Hartwurst, Wein statt Bier, dicke Gemüsecremesuppe statt nur dünne Pilzsuppe und mehrere Nachtische, von denen sie aber nur jeweils wenige Bissen schafften. Den Rest liessen sie sich mitgeben.

    Obwohl sie ausgelassen untereinander und auch mit anderen Gästen plauderten, vermieden sie jede Auskunft über ihr Einkommen, dass ihnen aus dem Nichts ein solches Tafeln erlaubte. Kam das Thema doch darauf zu sprechen, behalfen sie sich mit Ausflüchten: „War ein kleiner Dank, weil ich... etwas... für einen Schatten erledigt habe.“ Tsino war gut darin, die Leute abzuwimmeln, doch er hasste es.

    Vielleicht lag es an dem ungewohnt schweren Essen, das ihm am Abend wie ein Stein im Magen lag, aber Tsino träumte diesmal nur schlecht in der Nacht:


    Ein fester Griff hatte sich um seine Handgelenke gelegt, doch diesmal waren es keine Eisenschellen, die ihn hielten. Es waren Hände. Tetos blasse Hände, die an Kälte einer Eisenschelle in nichts nachstanden.

    Voll Furcht wandte Tsino sich in dem Griff. Er wollte dem Toten nicht so nahe sein, wie er es jetzt gerade war. Verbissen kämpfte er darum los zu kommen und konnte dabei nicht anders, als in Tetos blasses Gesicht zu starren. Teto mit toten, blinden Augen. Er bewegte die blutleeren Lippen, als wolle er irgendetwas sagen.

    Tsino schrie vor Entsetzen auf und verstand kein Wort. Schon fürchtete Tsino, er wolle ihn in den Sand ziehen – da sah er nur noch Dunkelheit.


    Schwer atmend rang er nach Luft. Er hustete ein paar Mal, was nur dazu führte, dass ihn ein Schmerz von der Kehle bis in die Brust zog. ‚Ein Traum.’, sagte er sich, ‚Es war nur ein Traum.’ Er versuchte wieder einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht sofort. Das Warten auf den Schlaf wurde zu einer zähen Geduldsprobe und als es endlich so weit war, wurde er kurz darauf wieder grundlos wach. Den Rest der Nacht verbrachte er unruhig und kaum mit Schlaf.

    Seine späteren Nächte wurden kaum besser als das.