Liebes Gedanken-Tagebuch,
heute ist ganz viel komisches passiert. Oder nicht komisch, viel eher seltsam. Es war schrecklich und ich hatte Angst und dann haben sie mich die Klippe hinunter geworfen, obwohl ich doch gar nichts gemacht hatte! Ich war doch nur zum betteln da und keiner von dieser Diebesbande - Innos soll sie strafen! Oder nein, nicht strafen. Ihnen etwas zu essen geben. Sie können ja auch nichts dafür...
Sie schmeißen mich also von dieser Klippe - ist das zu glauben? Bei Innos, was hab ich nur falsch gemacht? Der Richter klang so überzeugt und die Wachen blickten so zornig... Wenn ich mich bei ihnen doch nur entschuldigen, die Sache erklären könnte. Ich weiß aber auch gar nicht, was genau... was sollte ich nur sagen? Was könnte ich nur sagen? Und... es war ja ein Richter dabei. Wie komme ich dazu zu denken, ich wüsste besser bescheid als seine Gnaden Herr Richter? Was weiß ich schon? Ohjemine, wo bin ich nur hinein geraten? Wie soll das alles gut enden? Wurde ich wirklich zu Verbrechern, Lumpenpack und Räuberbanden geworfen? Oh graus, Oh Innos, steh' mir bei!
Doch ich verliere mich.
Keine Panik.
Repuli... Rekapiti...
Wiederholen. Wiederholen, was passiert ist. Ich bin nur ein kleiner Mensch in Innos großer Geschichte und wenn der Herr aller Menschen mich hier haben möchte, wird das einen Grund haben. Vielleicht könnte ich den Leuten hier helfen? Ihnen zeigen, dass sie keine Banditen und Halsabschneider seien müssen und... aaaah! Fang dich, Rakil, fang dich! Bis Zehn zählen, wie Mutter es dir beigebracht hat. Bis Zehn, und ruhig atmen.
So.
Sie warfen mich in den See, von der Klippe. Ich stürzte viele Meter, schrie und schlug ins Wasser wie eine Weidenrute in eine flache Pfütze - meine Haut brannte als das Wasser über mir zusammen schlug und ohne Luft in den Lungen wurde ich nach unten gezogen. Dunkelheit stieg um mich auf, durchbrochen von hellen Sternen und flackernden Lichtpunkten. Etwas streifte mein Bein und panisch schlug und trat ich um mich, bis ich, nach einer Ewigkeit wie es schien, mit dem Kopf durch die Wasserdecke stieß. Keuchend und prustend kroch ich an Land.
Der Sternenhimmel über mir war klar, der Mond leuchtete als Sichel auf mich hinab und ließ mich wenigstens einen kleinen Teil meiner Umgebung erkennen. Kisten und Seile standen herum, eine Fackel brannte am Rande des Sees - zu ihr hatte ich mich geschleppt - aber von Menschen war weit und breit nichts zu sehen. Die nassen Kleider wurden in der Nachtluft immer kälter und ich beschloss, dem von Fackeln erhellten Weg zu folgen. Die Kisten und Gerätschaften am Rande des Sees interessierten mich nicht weiter, ich wollte so schnell wie möglich weg von diesem Ort, den fackelgesäumten Weg entlang. Nur ein Schild fiel mir noch ins Auge – es warnte vor der Giftigkeit roter Pilze. Oh Graus, hatte Beliar Adanos‘ Geschenk pervertiert und seinen finsteren Einfluss auf das Land geltend gemacht, um es zu korrumpieren?
Der staubige Weg schlängelte sich zwischen den Felsen hindurch bis zu einem Tor oder Wachposten, doch die dort wachenden Uniformierten sprachen nicht mit mir. Die Abdrücke meiner vollgesogenen Schuhe und meine tropfende Erscheinung kümmerten sie nicht im Geringsten. Ihre grimmigen Blicke waren starr in die Ferne gerichtet, als würden sie jemanden - oder etwas - erwarten, mit einer Geduld und Ausdauer, die sie als erfahrene Krieger kennzeichneten. Sie schüchterten mich direkt ein und ich machte, dass ich weiter kam.
Wie ich dem Weg, der die Berge hinab zu einem Fluß führte, folgte, entdeckte ich ein großes, von Mauern umgebenes Dorf, dass sich vor dem klaren Nachthimmel abzeichnete. In der Mitte zeichnete sich der Schatten eines gewaltigen Burgfrieds ab. Zwar machte ich mich sogleich auf, es zu erreichen, doch die Reise gestaltete sich als abenteuerlicher, als mir lieb war: Am Wegesrand hatte ich ein paar Pflanzen und Kräuter entdeckt, die ich in meine leeren, nassen Taschen stopfte, doch dabei übersehen, dass ein gefiedertes, langschnäbliges Monster sich an mich angeschlichen hatten. Der Schnabel war gewiss einen halben Meter lang und scharf wie eine gewetzte Axtklinge, genauso wie die gebogenen Klauen, mit dem das Vieh aggressiv und voller Blutdurst den Boden aufscharrte, während es kehlige Drohlaute von sich gab - und ein blick in die kalten, toten Augen gab mir den Rest, ich nahm die Beine in die Hand! Auf meiner waghalsigen Flucht, querfeldein, über Steine und Geröll, durch Wiesen und Geäst, war mir, als hätte ich einen der verfluchten Pilze gesehen, mit scharlachroter Kappe… doch vielleicht war es auch nur Einbildung. Außer Atem erreichte ich das Tor des Dorfes, zwar hatte mich das Vogelmonster nicht bis zuletzt verfolgt, doch bin ich sicher nur um Haaresbreite entkommen. Innos steh mir bei, als Futter für die Würmer zu enden...?
Auch die Wachen an diesem Tor würdigten mich keines Blickes. Aber wieso auch, ein abgerissener Mann ohne Hab und Gut verdient die Aufmerksamkeit solch wohl gedienter Herrschaften wohl kaum. Um sie nicht zu belästigen schlurfte ich an ihnen vorbei, in Richtung Burg. Dort, so hoffte ich, würde ich mich vorstellen und einen warmen Platz zum schlafen finden können, vielleicht gäbe es sogar eine Kleinigkeit zu essen. Schlotternd von den nassen Kleidern am Leib hielt ich geradewegs auf die Burgwachen zu, als ich erschrak: Im Schatten vor einer Hütte, ganz nah am Burgtor, saß eine gar unheimliche Gestalt: Die Augen eisblau, wie die eines Jägers mit einer Narbe über der Wange. Ich wagte kaum ihm einen Blick zuzuwerfen und bereute es direkt, als ich es dennoch tat: Sein Blick bohrte sich in meine Seite, dann in meinen Rücken, genau zwischen die Schulterblätter, hin zu meinem Herzen und schnürte mir die Brust ein. Zum inzwischen dritten mal in dieser Nacht spürte ich die Angst in mir aufsteigen, doch dieses mal nicht etwa wegen der Annahme eines gewaltsamen Todes durch ertrinken oder zerfleischt werden von einer Vogelbestie: Nein, dieses mal war ein Mensch die Gefahr, ein Geschöpf Innos, das jedoch eindeutig auf weit dunkleren Pfaden, jenseits des heiligen Lichts, wandelte. Mutter hatte mir eingebläut, mich von solchen Gestalten fern zu halten: Nicht nur, dass sie Ärger bedeuteten, es waren auch schlechte Menschen. Trotzdem es nur ein paar wenige Schritte bis zu den schützenden Burgmauern waren, die mich vor schrecklichem Schnauben und garstigen Blicken schützen würde,zogen diese sich wie Meilen dahin. Doch ein Messer an der Kehle zu spüren, ohne einen Knüppel auf den Kopf zu bekommen erreichte ich den Bergfried und hielt geradewegs auf den Innenhof zu…
Doch – oh grau! – wie wurde ich abgewiesen. Harsch ließ mich der Burgwächter wissen, dass ich ohne Erlaubnis, ohne Genehmigung, nicht hinein dürfe. Oh, Innos, vergib mir! Was hatte ich mir nur gedacht? Wie arrogant, wie verblendet! Als könnte ich armer, lumpentragender Tropf hoffen, an diesem Königshof unterzukommen! Gewiss, die Schrecken der Nacht saßen tief und ich hatte lange nichts gegessen, mir war so kalt und ich zitterte und die Aussicht auf ein wärmendes Feuer, und sei es auf nacktem Boden davor hockend, hatten mich so sehr gelockt, dass ich meinen göttergewollten Platz vergessen hatte. Oh, welch Sünde, was würde Mutter sagen hätte sie das gemerkt? In Grund und Boden würde sie sich schämen, was hatte ich ihr für Schande gemacht.
Mit diesen und weiteren Vorwürfen wand ich mich ab und folgte, wenngleich ziellos, einem Pfad der inneren Mauer entlang zu einem kleinen, übelriechenden See mit Kochstätten daneben. Was sollte ich nur tun? Ganz allein und verlassen, in diesem großen, abgeschiedenen Tal, fern der Heimat fühlte ich mich so einsam, wie nie zuvor in meinem Leben. Doch auch nur einen Augenblick, denn der nächste Schrecken dieser, nun langsam in der Dämmerung begriffenen, Nacht rückte unaufhaltsam näher;
Gerade wollte ich mich an dem Feuerchen niederlassen, um meine klammen Finger etwas zu wärmen, da wurde ich eines Schattens gewahr: Der unheimliche Mann mit den eisblauen Augen war mir gefolgt und stand nun keine zwei Schritte hinter mir! Erschrocken sprang ich zurück, vielleicht habe ich geschrien – doch er musterte mich nur mit kaltem Blick. Ich stammelte eine Entschuldigung, so höflich ich eben konnte, und wich zurück, so weit es die Höflichkeit zu ließ – keinesfalls wollte ich diesen Mann provozieren. Doch wie es schien, irrte ich mich. Innos verzeih, dass ich diesem Geschöpf von dir aufgrund meiner Fehleinschätzung so viel misstrauen entgegen brachte; Es stellte sich heraus, dass der unheimliche Mann Varek hieß und auch, wenn er etwas ruppig sprach und nichts von Höflichkeiten hielt (er wollte nicht einmal, dass ich die Leute „Herr“ oder ähnliches nenne!), half er mir, mich zurecht zu finden. Kurze Zeit nach beginn unseres Gespräches stieß Thornwald hinzu, er war mir wegen seines Innosanhängers direkt sympathisch. Außerdem kochte er uns ein leckeres Frühstück aus Pilzen (nicht die roten, die sind giftig!) und Eier, es schmeckte hervorragend. Thornwald war ruhiger als Varek und später sollte sich meine Vermutung bestätigen, dass er schon länger als der unheimliche Mann im „alten Lager“ (so heißt das Dorf um die Burg) lebte. Thornwald war es auch, der mir zeigte, wo ich schlafen könnte, bevor er ins Lazaret ging, wohl um sich um den Mann dort zu kümmern. Dort verabschiedete ich mich von ihm, um ein wenig die Umgebung zu erkunden – meine Kleidung war am Feuer getrocknet, mein Hunger gestillt und ich hatte zwei neue Freunde gefunden. Ich freute mich schon darauf sie wiederzusehen, zum einen, weil ich sie mir sicher helfen konnten mich zurecht zu finden, zum anderen, weil Varek Hilfe brauchte. Das sagte zumindest Thornwald. Im „neuen Lager“ waren wohl Banditen, die es auf Varek abgesehen hatten – dort fanden sich sicherlich die ganzen bösen Gestalten, von denen man in der Kirche so hört – und ich machte mir Sorgen. Vielleicht könnten wir Geld sammeln, um die Banditen zu überzeugen, es sich anders zu überlegen, aber ich glaube kaum, dass Innos wollen würde, dass man Banditen bezahlt. Ach, könnte ich doch Mutter fragen, was ich machen soll… einen Geweihten wird es in diesem Tal wohl nicht geben. An Mutter musste ich auch denken, als mir Thornwald zeigte, wo ich schlaften könne. Er nannte es die Unterkunft für die „Heimatlosen“. Heimatlos..das war ich ich dann also. Verstoßen, in abgewetzer Kleider im Unbekannten, umgeben von Unbekannten – und Thornwald und Varek. Immerhin. Innos sei Dank für diese zwei wunderbaren Geschöpfe.
Und es kam noch besser: Die Schlafstatt lag ganz nah‘ bei einer Innoskapelle, die ich natürlich sofort aufsuchte. Das Gefühl des Friedens, der Sicherheit und Wärme dieses Ortes ließ mich neuen Mut schöpfen und nach einem innigen Gebet des Dankes (wobei auch die eine oder andere Frage vorsichtig formuliert wurde) machte ich mich auf, die Umgebung des Dorfes – äh, des alten Lagers – zu erkunden. Auf dem Weg aus dem zweiten Tor heraus kam ich an einem umgestürzten Turm vorbei. Karten und Schriftrollen waren auf einem Tisch ausgebreitet und Wasser tropfte von der Decke. Ich habe mir vorgenommen ein paar Eimer aufzutreiben und das in Ordnung zu bringen.
Vor den Mauern musste ich feststellen, dass es eine raue und gefährliche Umgebung ist. Schon nach kurzer Zeit musste ich umkehren, da ganz nah‘ des Weges eines der monströsen Vogelwesen kauerte und nach Beute Ausschau hielt. Schnell rupfte ich noch etwas Saphyris, dann eilte ich zurück und ging aus dem anderen Tor. Innos hat mich mit einer wohl etwas zu gesunden Portion Neugier gesegnet, denn bald fand ich mich abseits des Weges, beinah im Unterholz, wieder und blickte in den Schlund einer düsteren Höhle. An ihrem Eingang: Ein paar Pilze (nicht die roten, die sind Giftig!), wie jene, die Thornwald zubereitet hatte. Ich stopfte mir ein paar in die Tasche, bestimmt würden er und Varek sich freuen, wenn auch ich mich mit etwas zu essen bei ihnen bedanken könnte. Vorsichtig stieg ich tiefer hinab und machte noch eine kleine Ansammlung aus – als ich ein schnauben vernahm. Mir gefror das Blut in den Adern und langsam, Stück für Stück wandte ich mich auf der Stelle um; Irgendwo, aus der Dunkelheit, erklang das Schnauben erneut. Tief und grollend wurde Luft durch einen Rachen voller spitzer Zähne in die unheilige Brust eines Biestes gezogen, welches nicht von dieser Welt stammen konnte. Das anschließende Schnauben, welches ich auch zuerst vernommen hatte, klang wie das Zischen einer Schlange oder das Fauchen einer Katze, nur abgrundtief Böse, als hätte der dunkle Gott selbst seinen Schergen ausgesandt, Innos Geschöpfe zu tilgen. Ich wartete nicht, bis ich blitzende Zähne sah oder stampfende Schritte hörte, ich lief, lief so schnell ich konnte. Was war hier nur los, bei Innos? Wo war ich gelandet? Was machten diese höllischen Bestien so nah an dem Dorf? Die Bewohner mussten in Angst und Schrecken leben, womit sollten sie das verdient haben? Konnte der König keine Ritter aus seiner Burg aussenden um der Lage Herr zu werden?
Ich keuchte und verlangsamte meinen Schritt – die ständige Rennerei setzte mir zu, zumal es recht warm geworden war. Doch meine Gedanken waren es, die mich innehalten ließen: Sie stanken nach Blasphemie. Wie konnte ich mir ein Urteil erlauben, aus meiner Unwissenden Lage heraus? Wie konnte ich mir eines Anmaßen, aus meiner untergeordneten Position heraus? Ich schluchzte auf, es war einfach zu viel passiert. Ich hatte zu lange nicht geschlafen und war allein in der Ferne, mit nichts als meinem Glauben und die Lehren meiner Mutter. Es dämmerte langsam. Also ging ich Heim. Heim zu den Heimatlosen.