Fundgrube
Es bedurfte fast der ganzen Flasche des restlichen Brantweins, ehe sie ihre Nerven wieder weit genug unter Kontrolle hatten. Sie rollten den Toten mit Hilfe ihrer Spaten vom Schatz und lösten die Kiste aus dem Erdreich. Tsino hätte schwören können, dass Tetos tote Augen ihn direkt anblinzelten. Eine kalte Hand schien in seinem Nacken zu ruhen, so lange er in der Grube stand.
Tsino standen die Haare zu Bergen, als er sich daran machte die Kiste neben dem Toten auszuheben. Zuletzt stieß er den Spaten unter den Rand und drückte ihn hoch. Mit einem Knirschen löste sich auch der Boden der Truhe aus dem Erdreich. Die Bewegung lies den Toten eine wippende Bewegung machen. ‚Hat er da eben mit dem Kopf gewackelt?’ Obwohl er wusste, dass er tot war, war Tsino flau im Bauch.
„Innos, lass den Toten nicht wieder aufstehen...“, stammelte Tsino, als er die Kiste fest im Griff hatte. ‚Bringen wir es hinter uns.’, sagte sich Tsino und riss die Kiste mit einem Ruck heraus.
Mit Grauen starrte er auf die Leiche, deren Oberkörper von der Kiste bei Seite gestoßen wurde und nun in veränderter Haltung auf dem Boden lag. ‚Schwebt dort nicht ein Lächeln um seine Mundwinkel? Genau so lächelt Teto.’ Er wandte sich ab, um den Toten Teto nicht mehr sehen zu müssen und beschäftigte sich damit, die Kiste am Seil festzumachen.
Gatorp war mittlerweile wieder nach oben geklettert und wartete außerhalb der Grube darauf, dass die Kiste ans Seil gebunden wurde.
Tsino schlang das Seil um ihr Fundstück.
Während er es am Holz verknotete, war ihm als höre er ein leises Klicken in seinem Rücken. ‚So haben Tetos Anhänger geklackert...’ In das Geräusch mischte sich Tsinos heftiger werdendes Atmen. Als er die Spannung, die in seinem Nacken kribbelte, nicht mehr aushielt, fuhr er herum, bereit einen Schrei auszustoßen.
Doch da war nichts.
Er reckte sich ein Stück, um besser sehen zu können. Der Tote lag noch im Grab. Genauso wie er ihn zurück gelassen hatte.
„Wo bleibst du denn?“, rief Gatorp von oben und ruckte energisch am Seil
„Warte, warte.“, gab Tsino entnervt zurück. Er sicherte den Knoten und gab dann seinerseits dem Seil einen kurzen Ruck. „Jetzt!“
Schon zog Gatorp oben an. Tsino warf einen Blick zurück auf die Leiche, während die Kiste neben ihm langsam vom Boden abhob und nach oben schwebte. Doch in der Nähe des Toten hielt er es nicht aus.
Rasch sprang er auf den Grubenrand zu und kletterte, beflügelt vor Angst hinauf. Noch vor der Kiste erreichte er den oberen Rand und begann Gatorp beim Ziehen am Seil zu helfen.
Bald darauf war auch die Kiste bei ihnen. Fieberhaft lösten sie das Seil wieder. Fast kamen sie sich vor als packten sie eine Geschenk aus, von dem man das verknotete Band löst. Gespannt klappten sie den Kistendeckel hoch und betrachteten den Inhalt.
Tsino hörte seinen eigenen Atem in einem erleichterten Seufzen stocken.
„Das hat sich wirklich gelohnt.“, stellte Gatorp bei dem Anblick matt fest.
Keinem von beiden war nach dem Leichenfund beim Schatz jetzt noch nach Luftsprüngen zu Mute. Dennoch musterten sie die Menge und versuchten nahezu krampfhaft irgendwie Freude daran zu entwickeln. Die Sonne senkte sich immer tiefer. Der Branntwein zog sich langsam aus ihren Knochen zurück, ohne den Nebel in ihrem Kopf zu lösen und machte stattdessen einer unwiderstehlichen Müdigkeit Platz.
„Wo verstecken wir den Schatz jetzt am besten?“, fragte Tsino.
Gatorp starrte ihn an als habe er den Verstand verloren. „Wovon redest du?“, fragte er ihn laut, „Wir haben ihn gerade erst ausgegraben! Warum sollten wir ihn jetzt wieder verstecken!?“
Tsino erwiderte: „Aus dem Nichts kommen zwei Buddler von draußen und haben eine bis an den Rand gefüllte Schatzkiste dabei... Wir sind viel zu auffällig!“
„Stimmt. Lass mich nachdenken...“, Gatorp kniff die Augen und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Doch schon einen Herzschlag später warf er frustriert die Hand in die Luft: „Ach was, hol erst mal den Branntwein.“
„Also da kann wirklich nur eine Schnapsidee raus kommen.“, meinte Tsino zwar in einem skeptischen Ton, doch der Vorschlag gefiel ihm eigentlich. Jetzt, wo sie die Kiste dem Toten entrissen hatten, war ihm danach ihren Sieg auch ein kleines bisschen zu feiern.
Jeder nahm einen tiefen Schluck davon. Sie setzten sich hin, rauchten je einen Stengel Sumpfgras und erholten sich erst einmal. Nun, wo sie den Schatz gehoben hatten, waren sie in stillen Einverständnis darüber, dass sie sich einen Moment der Pause verdient hatten.
„Wir stopfen uns erst einmal die Beutel damit voll.“, meinte Gatorp, „Die Wachen kontrollieren Buddler nur, wenn sie mit auffällig großen Fässern, Kisten und Säcken um die Ecke kommen. Aber nicht bei der alltäglichen Menge, die jemand am Gürtel trägt.“
„Alles wird aber nicht hinein passen.“, gab Tsino zu bedenken.
Gatorp fragte mit rauher Stimme nach: „Und was machen wir dann mit dem Rest? Einfach hier lassen, wo ihn jeder vorbei spazierende Sumpfmolerat mitnehmen kann kommt nicht in Frage!“
Tsino antwortete darauf nichts mehr, sondern nahm tiefe Atemzüge des Stengels. Im Gegensatz zu Gatorp hatte er damit aufgehört es im Mund mit Apfelbranntwein zu mischen. Es dauerte lange, bis seinen träge gewordenen Gedanken die nächste Idee entkam:
„Wir bedecken die Kiste mit Zweigen und behaupten wir waren Feuerholz schlagen.“
Gatorp prustete los, als habe er einen guten Scherz gemacht, nur um im Anschluss erstickt zu husten. Mit dem Kraut im Kopf sahen seine Gesichtszüge bereits etwas entspannter aus. Während der Bergung des Schatzes hatte seine Mimik mindestens so angespannt ausgesehen wie sich Tsino gefühlt hatte. Nachdem Gatorp seine Stimme halbwegs geklärt hatte, frage er nach: „Du willst hier draußen wirklich noch einen Baum fällen, nur um den Schatz zu verstecken?“ Ein lautes Lachen konnte er sich gerade so verkneifen.
„Wir nicht.“, stellte Tsino fest, „Das hat der Blitz für uns gemacht.“
Er drehte den Kopf und grinste Gatorp schief an. Der grinste zurück und meinte flach: „Von uns beiden hast wirklich du den besseren Stengel erwischt.“
Tsino antwortete nicht, sondern hob die Hand und deutete damit den Fluß hinunter in die Richtung, wo die gestürzte Baumkrone lag, die sie auf ihrem Weg zum Schatzversteck noch bisher jedes Mal hatten überwinden müssen. Gatorp richtete sich ein Stück auf, um in die Richtung sehen zu können, in die Tsino wies. Tsino konnte im Gesicht seines Freundes sehen, wie sich dessen Augen in Erkennen weiteten.
„Oh.“, machte Gatorp und hustete laut, ehe er ansetzte: „Du meinst...“
Tsino nickte nur und lächelte schwach.
Nachdem sie den Schatz gehoben hatten, war eigentlich jeder von beiden reif für einen frühen Feierabend. Dennoch zwangen sie sich dazu noch so viel von dem trockenen Geäst abzubrechen, wie sie sich trauten.
Sie experimentierten etwas damit, wie sie den Schatz tarnen konnten. Etwas von ihrem eigenem Erz verstreuten sie auf dem Boden der Truhe, um in ihren Erzbeuteln Platz für die kleinen, wertvollen Gegenstände aus dem Schatz zu schaffen. Erst legten sie die Äste einfach so darüber, doch das erschien ihnen nicht gut genug, also leerten sie die Truhe einmal komplett. Tsino hatte die Idee den Deckel der Truhe in Länge und Breite zu kürzen, um ihn dann als doppelten Boden auslegen zu können.
„Wenn wir nur eine Säge hätten.“, murrte Gatorp und brach den Deckel der Kiste mit Gewalt über ihre Spatenblätter. Tsino unterstützte ihn mit den Hackenköpfen. Es war mühselig, doch bald hatten sie ihn weit genug heruntergebrochen, um ihn einsetzen zu können. Er saß schlecht, verkeilte sich an einer Stelle und war an einer anderen so schief, dass an den Rändern das Erz hervor blinkte.
„Nicht perfekt, aber sollte ausreichen.“, entschied Gatorp und hebelte den Deckel wieder heraus, den sie nur probehalber eingesetzt hatten.
Sie füllten den Boden der Truhe mit einer dünnen Schicht Schatz, setzten den zurechtgebrochenen Deckel der Truhe als gefälschten Boden ein, drückten ihn gewaltsam so tief nach unten durch, wie es nur ging und schichteten dann das Feuerholz darüber. Endlich wähnten sie den Schatz gut genug verborgen, um ihn nach Hause tragen zu können.
„Ich trage den Schatz, äh... das ‚Feuerholz’ und du die Werkzeuge.“, schlug Gatorp vor. Tsino schüttelte den Kopf und gab zurück: „Lass das Werkzeug hier, sonst kommen wir am Ende doch noch in Erklärungsnot.“
Gatorp hustete trocken, wie er es nach dem anstrengenden Tag zwischenzeitlich öfter tat. Er sagte: „Dass du immer alles so schwarz sehen musst. Aber gut. Wir lassen sie hier. Den Schatz trage trotzdem ich.“
Auf dem Weg zurück ins Lager setzte die Dämmerung bereits ein und die Welt verschwamm grau in grau, als sei einem Aquarellmaler sein Farbglas umgefallen, das seinen schmutzigen Inhalt nun über das gesamte Gemälde ergoß. Im Lager selbst mussten die Fackelanzünder bereits umgehen. Gatorp und Tsino entschieden sich für einen kleinen Umweg und betraten das Lager über das Südtor. Eigentlich rechnete keiner von beiden mit Schwierigkeiten, doch sie wurden enttäuscht:
„Halt.“, hielt der Gardist am Tor sie an. „Das will ich mir genauer ansehen.“ Tsino wurde kalt, als der Gardist mit den bepanzerten Händen zwischen den knochentrockenen Ästen wühlte. ‚Was, wenn er das Geheimversteck findet?’
Der Gardist warf ein paar der Äste unwirsch bei Seite und hob eine weitere Faust voll an. Mit verengten Augen musterte er den Holzboden der Kiste, der darunter zum Vorschein kam. Tsino rollte der nackte Angstschweis den Rücken hinab. ‚Dem fällt doch bestimmt gleich auf, dass die Kiste innen nicht so tief wie außen hoch ist.’ Oder kam es Tsino nur so vor, weil er darum wusste?
Seine Gedanken schienen es herauszuschreien und der Gardist schien sie lesen zu können, denn er warf Tsino einen musternden Blick aus verengten Augen zu. Unter dem schneidenden Blick schmolzen Tsinos Knie auf die Stabilität von zimmerweicher Butter. Der Gardist schleuderte nun auch die Äste in seiner Faust energischer als nötig zu Boden. Schon war Tsino der Überzeugung, dass er am Rand des schlecht eingepassten Kistenbodens das Blinken von Erz gesehen haben musste und sie gleich mit einer Standpredigt zusammenstauchen würde.
Doch anstatt auf Beliar komm raus loszuwettern, verschränkte der Gardist träge die Arme und sah Gatorp ernst an: „Nichts. Ihr könnt weiter.“ Tsino blieb keine Zeit erleichtert aufzuatmen, als er hinzu fügte: „Aber das Zeug hier hebt ihr noch auf!“ Mit einem strengen Nicken wies er auf die trockenen Äste, von denen er mehrere Ladungen am Boden verteilt hatte. Gatorp warf einen verwunderten Blick um sich, dann beugte er sich hinunter, um zu tun wie geheißen.
Tsinos Knie drohten nachzugeben, als ihm langsam ins Bewußtsein sickerte, was gerade passiert war: Der Gardist hatte überhaupt keinen Grund misstrauisch zu sein, oder sie durchsuchen zu wollen und nie einen gehabt. Er wollte nur Buddler schikanieren, um sich die unendlich lange Wachezeit am Tor zu vertreiben. Erneut blieb die Erleichterung aus. Zu spät merkte er zu lange gezögert zu haben; Der Gardist wurde durch das Ausbleiben einer Reaktion auf ihn aufmerksam:
„Was ist denn mit dem los?“, frage der Gardist Gatorp und nickte zu Tsino. Der fragte sich, ob sein Gesicht genauso blass und verschwitzt war, wie es sich blutleer und kalt anfühlte. Er war zu keiner Ausrede fähig. Gatorp erfasste mit einem Blick die Situation und meinte in einem Ton der Beiläufigkeit: „Blutfliegenstich.“
„Ah.“, machte der Gardist verstehend. Blutfliegenstich mit zitternden Opfer bedeutete Blutfliegengift im Blut. Vergiftetes Opfer bedeutete es musste ein Gegenmittel her. Zu besorgendes Gegenmittel bedeutete Besuch im Lazarett oder schlimmer noch: Im Sumpflager, wo das Mittel hergestellt wurde. Alles in allem bedeutete es vor allem Arbeit, auf die keiner Lust hatte.
Weich gekocht sank nun auch Tsino gehorsam auf die Knie und begann mit beiden Händen die Äste zusammenzuraffen. Gatorp tat es ihm gleich und nahm die Äste mit der Kiste in Empfang. Der Gardist beobachtete sie bei ihrer erniedrigenden Tätigkeit mit einem zufriedenem Grinsen.
Neben ein paar verirrten Scavengern am Tag waren zwei auf dem Boden kriechende Buddler vermutlich das Spannendste, was er die ganze Wachschicht über sah und er liess sich den Spaß nicht entgehen, so lange er ihn machen konnte. „Da drüben hast du noch einen vergessen.“, behauptete er und zeigte mit der behandschuhten Hand auf den Boden. Einen anderen Ast trat er weg, als Gatorp gerade danach greifen wollte. „Da drüben auch.“
Gatorp schluckte mit bewundernswerter Gelassenheit jede Demütigung, wobei er immer noch hustete. Mit zitternden Händen sammelte Tsino alle Äste ein, die er finden konnte und legte sie zu Gatorp in die Kiste. ‚Bloß nicht auffällig werden, bloß nicht auffällig werden... Lieber Innos, lass ihn bloß nicht den Schatz entdecken!’ Nachdem der Boden wieder aussah wie vor der Kistenkontrolle nickte der Gardist zufrieden. „Eins habt ihr noch übersehen...“ Er griff sich in einen seiner Beutel und schleuderte eine Hand voll Steine auf den Boden. Tsino zuckte zusammen, als ihn ein paar harte Brocken am Bein trafen.
‚Wie weit soll das hier noch gehen?’ Erst einen Moment später bemerkte er, dass die vermeintlichen Steine blau schimmerten. Erneut dauert es einen Moment, bis sein bereits stark strapaziertes Gehirn realiserte, dass der Gardist ihnen gerade eine überaus großzügige Faust voll Erzbrocken vor die Füße geworfen hatte. Gatorp war längst auf den Knien und sammelte den Reichtum ein. Schnell lies sich auch Tsino wider auf alle Viere fallen und grabschte sich gierig ein paar der losen Brocken. Diesmal schoben sie sie in ihre Taschen und nicht in die Kiste. Das war das Gute an den Gardisten: Wenn sie gut gelaunt waren, waren sie so spendabel dass man locker eine Woche und mehr davon leben konnte.
Als sie wieder aufsahen, starrte der Gardist längst wieder in die Dunkelheit vor dem Südtor und machte keine Anstalten mehr auf die Buddler einzugehen. Tsino seinerseits wagte es auch nicht ihm für das viele Erz zu danken und verliess lieber schnell mit Gatorp die Gefahrenzone. ‚Auf den muss ich mein nächstes Bier trinken.’ dachte Tsino verwirrt, dem der Schreck noch immer durch die Adern pulsierte.
Auf dem Weg die Rampe hinunter blieb ihnen nicht einmal die Zeit Luft zu holen, als ein markerschütternder Schrei erklang. Beide blieben wie angewurzelt stehen. Der Schrei wurde von den Burgwänden zurück geworfen und verhallte Schließlich zwischen den Hütten. Viel sagend sahen sich die beiden Buddler an.
„Lazarett.“, sagten sie einstimmig.
Mit der Kiste in Gatorps Armen gingen sie dort hinüber und spähten heimlich durch den türlosen Eingang. Das Innere war hell erleuchtet von unzähligen Fackeln, Kerzen, Leuchtern, Binsen- und Windlichtern und allem, was das Arsenal an menschlichen Einfallsreichtum zur Erhellung her gab, damit die Heiler rund um die Uhr Verletzte versorgen konnten. Der Boden war trotz tropfender Fackeln und häufig blutender Verletzter sauber, denn die Lazarettmitarbeiter liessen regelmäßig reinigen und legten penibel Wert darauf, dass sich alle Eintretenden die Füße an einem Eisengitter vor der Tür abtraten, ehe sie zu den Verletzten konnten.
Ein solcher wälzte sich gerade auf einem der strohgefüllten Betten. Der über ihn gebeugte Heiler liess ihn einen Moment in seinem Widerstand gewähren, in seiner erhobenen Hand ein Tuch. Es mochte bis vor kurzem blütenrein gewesen sein, doch nun leuchtete darauf frisches, rotes Blut. In seiner anderen Hand hatte der Heiler eine Alkoholflasche mit fünf dicken Kreuzen darauf. Sobald sein Patient halbwegs ruhig lag, drückte er das getränkte Tuch erneut auf die Wunde und der gequälte Schrei setzte sofort wieder ein. In der Luft lag der Geruch nach Schweiß, Blut und Alkohol.
„Das müssen wir nicht gesehen haben.“, flüsterte Gatorp. Tsino gab ihm mit einem Nicken recht. Für heute hatte er genügend Erfahrungen gemacht, die eher in Richtung Tod als Leben gingen. Gatorp und Tsino zogen die Köpfe zurück und setzten ihren Weg zu Gatorps Hütte fort.
Ohne weitere Zwischenfälle kamen sie dort an und beratschlagten so leise wie möglich, damit sie außerhalb der schützenden vier Holzwände nicht gehört wurden, wie sie die Schatzkiste in der Hütte verborgen halten wollten. Dass sie sie in der Hütte verstecken würden, stand für sie außer Frage.
Gatorp flüsterte leise: „Was spricht dagegen sie offen stehen zu lassen? Gut getarnt ist sie sowieso. Jeder wird das für Feuerholz halten.“
Tsino hielt dagegen: „Du hast aber keine Feuerstelle in deiner kleinen Hütte, Gatorp.“
„Oh... Stimmt... Dann...“ Gatorp zögerte nur kurz, bis er den nächsten Vorschlag machte: „Dann sage ich eben das hätte ich für die Schreinerei gesammelt.“
Tsino hob skeptisch die Augenbrauen, als er zurück gab: „Die krummen Äste? Das kauft dir kein Schreiner ab. Die Äste, meine ich. Die Ausrede sowieso niemand.“
Tsino fragte sich, ob diese Ideen der Branntwein oder das Kraut geboren hatten, doch er war dankbar dass der Freund so fleißig mitdachte. Sein eigenes Gehirn war vor Müdigkeit, Anstrengung und nicht zuletzt ihren Entspannungsversuchen wie vernebelt und schrie nahezu nach einer Erholungspause.
„Was schlägst du dann vor?“, fragte Gatorp ihn gerade. Bisher hatte Tsino nichts anderes zu Stande gebracht als alle gemachten Vorschläge auseinander zu nehmen. Jetzt strengte er sich an und sah sich nach Inspirationsquellen für eine gute Idee in der Hütte um. Auf der Suche nach einem guten Einfall marterte er sich den Kopf: ‚Unter den Tisch damit? Nein, das wäre genauso gut wie offen stehen lassen... Mit einem Tuch abdecken, damit man den Inhalt nicht sieht? Nein, denn dann jeder wird wissen, dass wir etwas zu verbergen haben. Unter das Bett? Auch nicht gut genug...’
Sein Blick fiel auf das Regal und er versuchte sich vorzustellen, wie dort die Kiste stand. ‚Das Holz der Kiste würde aussehen wie... Wie...’ Seinem Kopf fiel kaum noch etwas ein. Sein Blick glitt auf der Suche nach einem Vergleich über das schmale Regal und blieb schließlich an dessen Fußteil hängen.
Dort, wo nur eine halbe Regalhöhe Abstand zwischen dem Regalbrett und dem Boden Platz war, hatte man eine Blende installiert. Der Platz dort reichte nicht als Stauraum für sperrige Gegenstände aus und es war anzunehmen, dass Mieter dort nicht sauber machten. Da der Platz also nur noch dazu taugte, dass Gegenstände darunter rollten und verloren gingen oder Fleischwanzen darunter krochen, nagelte man solche Stellen vorsorglich zu.
‚Es würde aussehen wie die Blende dort.’, fasste Tsinos Gehirn schließlich zusammen. Dann sah er noch mal hin. Gatorp beobachtete ihn fragend, als Tsino unvermittelt aufstand und sich vor dem Regal auf die Knie sinken ließ. „Tsino? ...Alles in Ordnung?“
Aber Tsino tastete mit den Händen längst die Blende ab, deren Oberkante etwas unsauber mit der Vorderkante des Regalbretts aufstieß. Ohne den Blick abzuwenden sagte er zu Gatorp: „Kannst du mal deine Hacke holen?“
In seinem Rücken hörte er, wie Gatorps Stuhlbeine beim Aufstehen über den Boden kratzten. „Von uns beiden hast wirklich du das bessere Kraut erwischt.“, meinte Gatorp und hustete leise, doch er ließ Tsino gewähren und brachte ihm seine Hacke herüber.
Tsino nahm sie nicht entgegen, sondern wies auf eine unsauber gearbeitete Stelle und erklärte: „Drück die Spitze hier rein. Wir versuchen das auszuhebeln.“ Sorgsam vermied er in seinem Satz jede Erwähnung von „Regal“ und „Brett“, falls nicht doch jemand in den anderen Hütten lauschte. Gatorps Hütte war rechts und links umzingelt von anderen, vermutlich vermieteten Hütten, hatte den Wehrgang im Rücken und nur vorne ein kurzes Stück freie Fläche, das bereits von angeschlagenen Fellen und wucherndem Unkraut eingenommen worden war. Wer sie trotzdem belauschte und einen Erzbrocken und einen Erzbrocken zusammen zählen wollte, konnte genauso gut auf den Trugschluss kommen, dass sie gerade ein Bodenbrett aushebelten oder den Bettkasten anhoben. Gemeinsam zweckentfremdeten sie die Hacke, um die Blende am Regal herauszudrücken.
Das Brett leistete kaum Widerstand und kippte gehorsam heraus. Tsino zog es bei Seite und ließ sich flach auf den Boden nieder, um den Platz zu mustern. Neben ihm tat Gatorp dasselbe. „Mensch...“, meinte er, als er sah, was sich da alles in seiner Hütte befand, „Darunter ist es so staubig, dass da jemand gestorben sein könnte.“
Tsino deutete in die hinterste Ecke unter dem Regal, wo eine ausgebeulte Form zu erahnen war. Er fragte: „Was ist das?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich eine tote Fleischwanze.“, sagte Gatorp, schob die Hacke unter dem Regal hindurch und zog das Ding damit hervor. Als es mitsamt Schmutz und Staub hervor kam, entpuppte es sich als verstaubter Beutel.
Gatorp und Tsino tauschten einen Blick, dann zogen sie den Beutel vorsichtig auf und staunten nicht schlecht bei ihrem Fund: Ein paar lose Erzbrocken, ein Krautpaket, kleine Seifenstücke, zwei Verbände und ein Honigtiegel. Tsino starrte auf das Zeug, für das seine Gehirnwindungen keine Erklärung mehr fanden und fragte leise Gatorp: „Wer war noch gleich der Vorbesitzer deiner Hütte?“
Gatorp antwortete ebenso gedämpft: „Kann ich dir sagen, aber der kann damit nichts zu tun haben. Wer vor uns beiden drin wohnte, wissen wir beide nicht. Aber Toisi hat mal erzählt, dass hier vor Ewigkeiten ein Buddler gehaust hat, den sie wegen Hehlerverdacht rausgeworfen haben.“
„Hehler... Verdacht?“
„Ja, aber die Beute wurde nie gefunden. Manche meinen er sei zu Unrecht verstoßen worden.“ Gatorp sah Tsino schief an: „Wie bist du eigentlich darauf gekommen? Hat Beliar dir das gesagt?“
Diesmal flüsterte Tsino nur noch: „Eigentlich hielt ich das für ein mögliches Versteck für den Schatz.“
Gatorp lachte rauh: „Wie es aussieht ist es sogar bewährt. Lass uns das nehmen.“
Erneut entleerten sie die Kiste und stopften die Gegenstände einzeln unter das Bett, wobei sie sich nicht die Mühe machten vorher zu putzen. Auch die Hehlerbeute, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollten, steckten sie dazu.
Danach setzten sie das Brett wieder ein. Es war bereits Mitternacht, als sie die Arbeit in aller Heimlichkeit und nach wie vor so leise wie möglich, endlich beendeten. Tsino war totmüde und so verabschiedete er sich von Gatorp, um zurück zur Pennerunterkunft zu wanken. Zu seinem Glück fand er noch ein freies Bett und ließ sich dort hineinfallen, wie er war.
In der Pennerunterkunft herrschte Dunkelheit. Hinter seinen Lidern und in seinen Gedanken herrschte Dunkelheit. Darum herrschte auch in seinem Traum Dunkelheit. Eine Dunkelheit wie in der Nacht, als sie in den Fluß gefallen und am anderen Ufer von Teto gefunden worden waren. Tsino erinnerte sich genau an den warmen Fackelschein in der Nacht und aus diesem Schein heraus schälte sich die Gestalt Tetos.
Schüchtern lächelnder, blasser Teto. So wie sein Goldohrring blitzte, schimmerte auch beim Sprechen immer ein Lächeln um seine Mundwinkel. Tsino sah sein Gesicht ganz genau vor sich. Die dunklen Locken verschmolzen mit der Dunkelheit. Teto setzte an irgendetwas zu sagen, doch da wurde sein Gesicht starr vor Schreck.
Ebenfalls erschrocken senkte Tsino den Blick und sah einen blutigen Spieß aus Tetos Brust sprießen. Tsino wollte vor Entsetzen Schreien. Teto stürzte und landete bei einer Holzkiste in dem Loch, aus dem Tsino und Gatorp ihn erst kürzlich ausgegraben hatten. ‚Nein!’ Tsino wollte nicht wieder Tetos Leiche finden müssen. Die Erde stürtzte auf Teto und begrub ihn unter sich. Jetzt mussten Tsino und Gatorp ihn noch einmal ausgraben, wenn sie ihren Schatz wollten; Den Schrecken über den Leichenfund noch einmal durchleben.
„Neeein!“ sein eigener Schrei riss Tsino endlich aus dem Schlaf. Er hatte sich aus dem Stroh heruntergestrampelt und keuchte. Blind starrte er in Richtung Decke und wartete mit hämmernden Herzen darauf, dass ihn die Realität wieder ganz einschloss und vor seinem eigenen Alptraum schützte.
„Halt's Maul Penner!“, kam es aus einem der anderen Betten. Tsino rührte sich nicht, lag da und keuchte noch immer von der Aufregung seines Traumes. Scheinbar etwas zu laut, denn in die Hütte kam Bewegung. „Wenn du das Maul nicht von selber hältst...“ Kurz darauf erschien ein düsterer Schemen neben Tsino am Bett „...muss ich es dir wohl stopfen!“
Eine Hand presste sich in sein Gesicht. Tsinos Hände fuhren reflexartig hoch, um den Angreifer an den Handgelenken zu packen, doch keiner von beiden konnte den jeweils anderen wirklich sehen. Tsino warf den Kopf hin und her, um die Hand, die sich unangenehm fest gegen seine Nase presste und sich immer tiefer über seinen Mund schob, abzuschütteln. Mit beiden Händen hielt er das Handgelenk seines Angreifers gepackt und versuchte es wegzudrücken.
Eher unbewußt strampelte er dabei hilflos mit den Beinen. Jetzt legte sich eine zweite Hand tiefer unter die erste und genau über seine Kehle. Als sie zudrückte wurde Tsinos Gegenwehr heftiger. Mit der Faust holte er aus und schlug zu. Irgendetwas hatte er getroffen, nur konnte er nicht sagen was. Die Hand um seine Kehle lies nur kurz los und fasste dann nach. Tsino versuchte aus Leibeskräften zu Schreien, bekam aber nur ein ersticktes Geräusch zu Stande. In seinen Ohren rauschte das Blut. In der Panik holte er mit beiden Beinen aus und stieß sie so kraftvoll er konnte gegen den Angreifer.
Sein Knie prallte an etwas weichem ab, das andere Schienbein traf auf etwas Hartes. Die Hände auf ihm fuhren wie von der Blutfliege gestochen weg. Den Moment nutzend warf sich Tsino keuchend hinterher. Er stürzte über die harte Bettkante, als sich sein Angreifer auf ihn werfen wollte. Beide verfehlten sich gegenseitig in der Dunkelheit und krachten zu Boden. Genervtes Aufstöhnen in der Pennerunterkunft und ein verschlafener Ruf: „Macht das draußen!“
Ein unkoordiniertes Gerangel entstand, als jeder versuchte den anderen an einer empfindlichen Stelle zu packen und gleichzeitig von sich zu stoßen. Wie Hunde rauften sie sich am Boden, was zu noch mehr missmutigen Geräuschen in den anderen Betten führte. Eine Hand bekam schließlich Tsinos Kragen zu fassen und würgte ihn. Defensiv riss dieser die Hände an diese Stelle, doch im gleichen Moment wurde er auch um die Hüfte gepackt und aufgehoben.
Auf der Suche nach dem Boden strampelte Tsino hilflos mit den Beinen. Ein, zwei Mal streifte er dabei etwas, das in dieser Umklammerung nur Beine sein konnten und brachte damit den anderen zum Stolpern. Erneut landeten sie übereinander auf dem Boden. Tsino fand sich auf der Schwelle der Hütte wieder. Kopf und die zum Abfangen des Sturzes ausgestreckten Arme im Freien, der Rest in der Dunkelheit der Pennerhütte steckend.
„Und da bleibst du jetzt.“, knurrte sein Angreifer, der sich aufrappelte und ihm abschliessend einen ungezielten Tritt verpasste und davon schlurfte. Scheinbar war ihm die Lust ausgegangen.
Tsino blieb atemlos liegen und versuchte für sich zu sortieren, was da gerade passiert war. Aus der Hütte schlug ihm eine Atmosphäre der Ablehnung entgegen. Er selbst verspürte auch nicht die geringste Motivation sich noch einmal keuchend in eines der Betten zu legen. Unbeholfen rappelte er sich auf und taumelte ganz hinaus. Draußen stolperte er so kurz nach dem Aufwachen noch unkoordiniert herum. Es war, als habe der Schlaf noch immer seine lähmenden Hände um ihn gelegt und versuche ihn festzuhalten.
Ihm fiel kein besserer Weg ein als der zu Gatorps Hütte. Da die Nachtwache um diese Zeit schon wieder bei den Hütten Dienst schob, wagte er es nicht einfach so die Hütte seines Freundes zu betreten. Stattdessen legte er sich auf eine der Bänke, die vor den Hütten stand und starrte nach oben. Er rechnete nicht damit noch einmal einschlafen zu können und blieb einfach wie betäubt liegen.
Am nächsten Morgen war Gatorp ziemlich überrascht einen vor Müdigkeit halbtoten Tsino vor seiner Hütte zu finden. „Hast du hier etwa übernachtet?“ Gatorp versuchte zu Scherzen, klang aber heiser.
Tsino hob nur müde den Arm, um abzuwinken. Danach liess Gatorp das Thema gnädigerweise fallen. Mit einem Räuspern versuchte er sich die Stimme zu klären und sagte: „Komm erst mal rein. Ich habe noch Vorräte für das Frühstück.“
Während und nach dem Essen holten sie in Gatorps Hütte ein Versäumnis nach: Sie gingen den ganzen Schatz einmal systematisch durch, versuchten den Wert der einzelnen Stücke einzuschätzen und überlegten, wie sie das möglichst unauffällig zu Geld machen konnten.
Ihre ersten Anlaufstsellen waren der Schmied Toisi und der Minenleiter Nemo, denen sie ein, zwei der Edelsteine verkauften. Auf Nachfrage hin behaupteten sie einfach, sie hätten beim Schürfen Glück gehabt. Toisi schluckte es desinteressiert. Nemo dagegen liess sich die Möglichkeit nicht nehmen, sie dafür anzukeifen: „Das nächste Mal, wenn ihr so etwas findet, bringt ihr es sofort zu mir! Gefundene Edelsteine sind spätestens nach der Schicht abzugeben, in der sie gefunden wurden. Eigentlich solltet ihr Buddler gar keine davon behalten dürfen, denn alles, was in der Mine geschürft wird, gehört dem Alten Lager.“ Mit diesen Worten bellte er sie aus seiner Hütte hinaus und schloss die abgekauften Edelsteine in einer Truhe ein.
Ein Stück von Nemos Hütte entfernt meinte Gatorp heiser zu Tsino: „Mach dir nichts draus. Der hat nur Bammel seine Stellung könne ihm entzogen werden, wenn in der Mine etwas schief geht. Der ist immer so ein Paragraphenreiter.“
„Hühott!“, wieherte Tsino vor Lachen und damit war das Thema für sie erledigt. Tsino fragte: „Kommst du mit zu Reldnäh?“
Gatorp fragte mit angeschlagener Stimme zurück: „Was willst du denn bei dem? Ihm auch einen Edelstein verkaufen?“
Tsino antwortete mit einem Kopfschütteln: „Darum geht es mir nicht. Ich hatte ihm doch mein Messer verpfändet. Das will ich wieder haben.“ Er verspürte eine dezente Vorfreude und wollte Gatorp damit anstecken.
„Erbstück?“, scherzte Gatorp. Er klang gut gelaunt, doch immer noch heiser. Tsino gab trocken zurück: „Ha, ha. Du weist doch, dass einem beim Eintritt in die Minenkolonie alles abgenommen wird.“